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       # taz.de -- Neue Bücher über Kraftwerk: Auf der Autobahn
       
       > Zwei neue Bücher widmen sich den Elektronikpionieren Kraftwerk: Eine
       > Liebeserklärung eines Fans und eine musikologische Dissertation eines
       > Musikers.
       
   IMG Bild: Kraftwerk spielen „Autobahn“ bei einem Konzert im dänischen Kopenhagen, 2015
       
       Zwei neue [1][Bücher über Kraftwerk]. Muss das sein? Gibt es doch genug
       Lesestoff über die Erfinder der „industriellen Volksmusik“: Musikpresse und
       Feuilleton haben die Düsseldorfer Elektronikpioniere um Ralf Hütter und
       Florian Schneider längst zur bedeutendsten Band aus Deutschland verklärt.
       Grundfalsch ist das nicht. Denn über Scooter und die Scorpions schweigen
       wir lieber, und von Rammstein sowieso.
       
       Die Bücher, mit denen sich Jan Reetze und Carsten Brocker dem Phänomen
       Kraftwerk nähern, könnten kaum unterschiedlicher sein: die Liebeserklärung
       eines langjährigen Fans einerseits und die musikologische Dissertation
       eines professionellen Musikers andererseits.
       
       Hütter/Schneider haben mit ihrem Album „Autobahn“ Popmusik revolutioniert
       und die globale Entwicklung elektronischer Musik maßgeblich geprägt.
       Kraftwerk machten als erste Mensch-Maschinen-Musik. Sie stylten sich als
       Roboter und ersetzten Gesang durch synthetische Vocals. Von Daft Punk bis
       [2][Detroit Techno], von HipHop bis [3][K-Pop] sind die kompositorischen
       Ideen, künstlerischen Konzepte und technischen Lösungen, die Kraftwerk in
       ihrem Kling-Klang-Studio ausheckten, unverzichtbare Bestandteile der DNA
       von Popmusik geworden. So lautet das vorherrschende Narrativ.
       
       ## Das enthusiastische Buch wirkt ansteckend
       
       Wie Jan Reetze in seinem Buch „Die Geschichte von Kraftwerks ‚Autobahn‘.
       Eine Liebeserklärung an ein 50 Jahre altes Album“ erläutert, darf das
       Konzeptalbum von 1974 als Keimzelle der Idee einer elektronischen
       Popmusik betrachten werden. Reetzes Hommage ist mit der passionierten Verve
       eines Fans geschrieben, der sich daran erinnern kann, wie er als
       17-jähriger Teenager das Album kaufte. Unvermeidlich ist sein Buch in
       weiten Teilen eine sich an Altersgenossen richtende Erinnerung an die
       Musikszene der 1970er.
       
       Da Reetze die Frühphase von der Gründung Kraftwerks im Jahr 1970 bis zur
       Veröffentlichung von „Autobahn“ aufarbeitet, kommt er erst in der Buchmitte
       auf das Album zu sprechen. Musikliebhaber, die wenig Ahnung von Kraftwerk
       haben, werden es ihm danken. Fans werden seine ausführliche Analyse des
       Albums schätzen. Aus vielerlei Quellen hat Reetze alles Verfügbare zu
       „Autobahn“ zusammengetragen. Schade nur, dass er kein neues
       Originalmaterial recherchieren konnte und die akademischen Publikationen zu
       Kraftwerk ignoriert.
       
       Doch das Versprechen im Buchtitel, eine „Liebeserklärung“ zu liefern,
       erfüllt sein Bändchen mustergültig: Das Album, so Reetze, ist „eine
       besondere Platte“, der es gelang, „fünfzig Jahre lang präsent zu bleiben“,
       weshalb sie „zu jenen Platten gehört, die alle Stürme überlebt haben“ und
       bis heute so „frisch wie eh und je klingt“. Sein enthusiastisches Buch
       wirkt ansteckend, das epochale Album mit dem neugewonnenen Wissen erneut
       aufzulegen. Mehr kann man von Musikjournalismus nicht erwarten.
       
       ## Sie verlassen sich zu oft auf Mythen
       
       Auch in der Kulturwissenschaft ist Kraftwerk lange schon ein Thema. Dass
       das, was als Popmusik-Forschung firmiert, oft auf tönernen Füßen ruht, wird
       aber gern unterschlagen. Allzu treuherzig verlassen sich viele
       Geisteswissenschaftler auf das, was sie im Musikjournalismus vorfinden,
       also die Mythen, interkulturellen Missverständnisse und gezielten
       Stilisierungen, die Kraftwerk augenzwinkernd in die Welt gesetzt haben.
       Musikologische Grundkenntnisse besitzen sie meist kaum und haben erst recht
       keine Ahnung von dem, was bei Kraftwerk das Wichtigste ist: die
       Musik-Maschinen.
       
       Doch damit ist nun Schluss dank „Kraftwerk. Die Mensch-Maschine:
       Wechselwirkungen zwischen Technologie und Komposition“. Carsten Brocker,
       seit 2014 als Keyboarder Mitglied der Münsteraner Synthieband Alphaville,
       war noch keine zehn Jahre alt, als die Westfalen 1984 mit „Big in Japan“
       und „Forever Young“ weltweite Synthiepophits landen konnten. Als
       Praktiker vermag er zu erläutern, wie sich das Besondere des
       Kraftwerk-Sounds entwickelte: Als Wechselwirkung zwischen einer
       maschinell-minimalistischen Ästhetik und dem jeweils technisch verfügbaren
       Instrumentarium vom Synthesizer über Sequenzer bis zum Computer und der
       neuesten Virtualisierungs-Software. Das wird zwar teilweise in einem opaken
       Fachchinesisch verhandelt, doch ist das Buch auch für musikologische Laien
       durchaus lesbar.
       
       ## Sie bedienten sich bei Schlager und Klassik
       
       Reihenweise entlarvt Brocker viele Mythen, die sich um Kraftwerk ranken.
       So räumt er radikal auf mit den zahlreichen, vorsichtig formuliert:
       Unwahrheiten, die Hütter und Schneider in Interviews verbreitet haben.
       Ebenso entwirrt er fachkundig, welche musikalische Leistungen auf
       Kraftwerk-Alben eher epigonal und welche tatsächlich revolutionär waren.
       
       Brocker diagnostiziert produktionstechnische Übereinstimmungen zwischen
       Kraftwerk und anderen [4][Krautrock-Bands], die viele Statements von Hütter
       über das Alleinstellungsmerkmal Kraftwerks als PR entlarven. Besonders
       interessant wird es da, wo Brocker stillschweigende Übernahmen von Melodien
       aus Schlager oder Klassik für Kraftwerk-Stücke aufdeckt.
       
       Auch die Behauptung, dass „Computerwelt“ von 1981 das letzte bedeutende
       Album der Düsseldorfer Band sei, gehört zu den Klischees, mit denen
       Brocker aufräumt. Seine Analysen der „Expo 2000“-EP (1999) und des letzten
       Studioalbums, „Tour de France“ (2003) arbeiten heraus, worin die „ungeheuer
       lebendige Klangkomplexität“ dieser Spätwerke liegt.
       
       ## Mal innovativ, mal aufholend
       
       Aber ist das nicht nur für eingefleischte Kraftwerk-Fans von Belang?
       Brockers Studie untersucht zwei zentrale Fragen, die relevant sind für
       alle, die sich für elektronische Musik interessieren: Inwieweit kann man
       Kraftwerk tatsächlich als Begründer der elektronischen Popmusik verstehen?
       Wären afroamerikanische Stile wie Electro, House und Techno ohne Kraftwerks
       Vorarbeiten möglich gewesen? Bisher waren zu diesen Streitfragen nur
       einseitige Geschmacksurteile, Fanmeinungen oder Schutzbehauptungen zu
       lesen. Brockers Studie liefert nun eine differenzierte, wissenschaftlich
       untermauerte Antwort.
       
       Kraftwerk steht demnach für verschiedene Phasen der Musikproduktion, die
       mal innovativ, mal aufholend waren. „Einfluss“ wiederum ist ein
       dialektischer transnationaler Feedback-Prozess, der sich dagegen sperrt,
       auf einfache Formeln gebracht zu werden: Kraftwerk wurden an verschiedenen
       Orten auf unterschiedliche Weise rezipiert.
       
       12 Feb 2024
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Uwe Schütte
       
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