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       # taz.de -- Totalitarismus-Mahnmal in Brüssel: Das Echo der Opfer
       
       > Architekt Tszwai So hat seinen Entwurf für das „Mahnmal für die Opfer des
       > Totalitarismus“ vorgestellt. Es soll nächstes Jahr in Brüssel entstehen.
       
   IMG Bild: Das EU-Parlament hat sich 2009 für die Errichtung eines solchen Mahnmals ausgesprochen
       
       Zahlreiche Briefe, in unterschiedlichen Sprachen verfasst, liegen auf dem
       Boden verstreut. Es sind die letzten Worte von Gefangenen und Opfern
       totalitärer Regime, die kurz vor ihrem Tod noch ein paar Zeilen an ihre
       Liebsten geschrieben haben. Die Briefe sind jedoch nicht aus Papier,
       sondern in Stein eingelassen. Sie sollen Teil eines paneuropäischen
       „Mahnmals für die Opfer des Totalitarismus“ werden, das in den nächsten
       Jahren in Brüssel entstehen wird.
       
       Im April 2009 hatte sich das EU-Parlament für die Errichtung eines solchen
       Mahnmals ausgesprochen. Den folgenden Wettbewerb, ausgelobt von der
       Platform of European Memory and Conscience, gewann 2018 der
       Britisch-Hongkonger Architekt Tszwai So. Er konnte eine Jury überzeugen,
       der neben Historiker:innen auch der Architekt und Gestalter der
       Reichstagskuppel, Norman Foster, angehörte.
       
       Am Freitag stellte Tszwai So seinen Entwurf „Ein Echo in der Zeit“ im
       Pilecki-Institut in Berlin vor. Der Architekt, der in der Vergangenheit
       auch an der Restauration einer Synagoge in Belarus gearbeitet hatte,
       berichtet von einem Besuch am Jean-Rey-Platz zwischen dem EU-Rat und dem
       Europäischen Parlament in Brüssel, an dem das Mahnmal entstehen soll. „Auf
       dem Platz fühlt man das Gewicht der Geschichte nicht“, sagt Tszwai So. Denn
       die Gewaltverbrechen, deren gedacht werden soll, haben sich nicht an dem
       Ort zugetragen.
       
       Inspiriert habe ihn dann ein Passant, der über den Platz lief: ein Mann mit
       Mantel und Tasche. Tszwai So stellte sich den Passanten als Botschafter
       vor, „der einen Koffer voll mit Briefen der Opfer trug … und sie über den
       Platz verteilte“. Als solch ein „Botschafter“ sehe er sich auch selbst. Die
       Briefe sollen für das Mahnmal digitalisiert und vergrößert werden, damit
       Interessierte sie im Stehen lesen können.
       
       ## Zwei totalitäre Regime
       
       Die Absicht der EU, ein Mahnmal zu stiften, fiel 2009 mit einer anderen
       Entscheidung zusammen: Das Parlament erklärte damals auch den 23. August zu
       einem europaweiten Gedenktag für die Opfer des Totalitarismus.
       
       An jenem Tag, den der libertäre Sozialist Victor Serge einst als
       „Mitternacht des Jahrhunderts“ bezeichnete, unterzeichneten der deutsche
       Außenminister Joachim Ribbentrop und sein sowjetischer Gegenpart
       Wjatscheslaw Molotow in Moskau einen Nichtangriffspakt – und steckten in
       einem geheimen Zusatzprotokoll die Einflusssphären der beiden Großmächte in
       Osteuropa ab. Damit legten sie die Grundlage für den Zweiten Weltkrieg und
       die folgenden Verbrechen der Nazis und der Sowjetunion.
       
       Die Schandtaten der beiden totalitären Regime in einem Atemzug zu nennen,
       ist besonders in Deutschland umstritten. Kritik hatte 2008 bereits die
       sogenannte Prager Erklärung geerntet, in der Intellektuelle wie der
       Schriftsteller Václav Havel oder der spätere [1][Bundespräsident Joachim
       Gauck ein gemeinsames Gedenken] an die Opfer totaler Herrschaft forderten.
       Einige Historiker und Expertinnen warfen den Unterzeichnern vor, damit die
       Naziverbrechen zu relativieren und die [2][„Singularität des Holocausts“]
       infrage zu stellen.
       
       Marek Mutor, der Vorsitzende der Platform of European Memory and
       Conscience, sagte am Freitag, der Holocaust nehme im europäischen Gedenken
       eine besondere Stellung ein. Er plädierte dennoch für ein erweitertes
       Gedenken, denn der Totalitarismus habe alle europäischen Gesellschaften
       berührt: „Es ist eine gemeinsame Erfahrung.“
       
       ## Europäische Identitätsstiftung
       
       Der EU-Vorstoß in der Gedenkpolitik muss daher auch als ein Versuch der
       europäischen Identitätsstiftung betrachtet werden. Besonders die
       ostmitteleuropäischen Staaten drängen auf eine stärkere Anerkennung der
       sowjetischen Verbrechen. Im Gegensatz zu Deutschland, wo der neue Gedenktag
       kaum Beachtung fand, haben Länder wie Polen oder Schweden den 23. August in
       ihren nationalen Gedenkkalender aufgenommen.
       
       Der Großangriff Russlands auf die Ukraine vor fast zwei Jahren treibt die
       östlichen Länder weiter an: Sie sehen in dem erstarkten Imperialismus
       Moskaus einen Wiedergänger der imperialistischen Sowjetherrschaft. Und dem
       soll ihrer Meinung nach nicht nur die westliche Außenpolitik Rechnung
       tragen, sondern auch ihre Erinnerungspolitik.
       
       5 Feb 2024
       
       ## LINKS
       
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   DIR Leon Holly
       
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