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       # taz.de -- Bürgerräte: Demokratie erneuern
       
       > Bürgerräte haben Potenzial zur Konfliktvermeidung. Dafür müssen
       > Entscheidungsträger*innen sie ernst nehmen!
       
   IMG Bild: Bürgerrat Ernährung: Das kostenlose Mittagessen an Schulen und Kindergärten, haben es in den öffentlichen Diskurs geschafft
       
       Das Konzept Bürgerrat findet immer mehr Anklang. Einen Beitrag zur
       Demokratie leisten solche Prozesse allerdings nur, wenn die politisch
       Verantwortlichen es mit der Beteiligung ernst meinen. Beim neuen Bürgerrat
       „[1][Gemeinsame Verkehrswende in Stadt und Land]“ scheint das nicht der
       Fall zu sein. Auftraggeber des Bürgerrats ist das Bundesministerium für
       Bildung und Forschung. Schon das ist verwunderlich, denn für die
       Verkehrswende wäre wohl ein anderes Ministerium zuständig.
       
       Das Ministerium selbst kommuniziert zudem nicht zum Bürgerrat. Es gibt
       weder Pressemitteilungen noch Posts auf den Social-Media-Kanälen des
       Ministeriums oder der Ministerin Bettina Stark-Watzinger. Wer Informationen
       sucht, muss auf separate Websites, wie die des mit der Umsetzung
       beauftragten [2][nexus Institut] zurückgreifen.
       
       Bürgerräte werden meist in mehrstufigen Losverfahren zusammengesetzt. Ziel
       ist, dass sie für die Gesamtbevölkerung so repräsentativ sind, wie das mit
       einer begrenzten Anzahl an Personen eben geht. Teilnehmende erleben so
       einen politischen Austausch zwischen einer Vielfalt von Menschen und
       Lebensrealitäten, wie er im Alltag selten vorkommt.
       
       In einem Zeitraum von mehreren Wochen oder Monaten, begleitet durch
       kompetente Moderation, kann dabei echtes Verständnis für gegensätzliche
       Positionen entstehen. Bürgerräte können Perspektiven in die
       Entscheidungsfindung einbringen, die sonst oft übersehen werden. Im Kleinen
       können gesellschaftliche Konflikte gelöst werden. Bürgerräte können die
       Demokratie abseits von Wahlen erlebbar machen.
       
       ## Brüssel zeigt, wie´s gemacht wird
       
       Das Thema Verkehrswende ist also perfekt geeignet für einen Bürgerrat. Alle
       sind davon betroffen, aber auf sehr unterschiedliche Weise. Es gibt offene
       Konflikte, die gelöst werden müssen. Damit der Bürgerrat dieses Potenzial
       auch erfüllen kann, müssten die Ergebnisse aber auch in der Politik
       ankommen. Hardcore-Fans von Bürgerräten fordern, dass diese verbindliche
       Entscheidungen treffen können sollten. Eine solch massive Änderung des
       politischen Systems ist aber gar nicht nötig.
       
       Was es braucht, ist Verlässlichkeit, dass sich die jeweils Zuständigen in
       der Politik ernsthaft mit den Ergebnissen beschäftigen und sie so weit wie
       möglich umsetzen. Das kann beim Bürgerrat zur Verkehrswende schon mal nicht
       funktionieren, wenn weder das Verkehrsministerium noch der Bundestag
       beteiligt ist. Das Bildungsministerium erklärt das so, dass die Ergebnisse
       in die Ausgestaltung von Mobilitätsforschung einfließen sollen. Ihr
       Einfluss ist also allenfalls sehr indirekt.
       
       In Brüssel gibt es regelmäßig sogenannte Deliberative Komitees, die sich
       aus gelosten Einwohner*innen und Mitgliedern des Parlaments
       zusammensetzen. Auf die erarbeiteten Empfehlungen muss das Parlament
       reagieren. Innerhalb von sechs bis neun Monaten gibt es eine
       Anschlusssitzung, in der Fortschritt mit den Teilnehmenden besprochen wird.
       
       Eigentlich sollte auch die Ampelkoalition in diesem Thema längst weiter
       sein. Im Koalitionsvertrag ist vereinbart, dass sie Bürgerräte durch den
       Bundestag einsetzen lassen und dieser sich auch mit den Ergebnissen
       befassen würde. Das war bisher einzig im [3][Bürgerrat Ernährung] der Fall.
       Dessen Ergebnisse werden am Dienstag diese Woche dem Bundestag übergeben.
       
       ## Mehr Akzeptanz für schwierige Entscheidungen
       
       Manche der Forderungen, wie die [4][Tierwohlabgabe] und das kostenlose
       Mittagessen an Schulen und Kindergärten, haben es schon bei ihrer
       Bekanntgabe in den öffentlichen Diskurs geschafft. Das ist eine weitere
       Funktion von Bürgerräten. Wenn alles gut läuft, gewinnen nicht nur
       Teilnehmende, sondern auch die beobachtende Öffentlichkeit ein besseres
       Gefühl für den Wert und die Herausforderungen gelebter Demokratie. Das kann
       die Akzeptanz für die erzielten Kompromisse stärken.
       
       Wie das funktioniert, zeigt das viel zitierte Beispiel des Bürgerrats zur
       Änderung der Verfassung in Irland. In einem darauffolgenden Referendum
       wurde das sehr restriktive Abtreibungsrecht geändert. Ohne die öffentliche
       Debatte wäre das im katholischen Irland kaum denkbar gewesen. Für diese Art
       von gesellschaftlicher Befriedung muss es aber auch eine beobachtende
       Öffentlichkeit geben. Wie soll die entstehen, wenn nicht einmal das
       beauftragende Ministerium dazu kommuniziert?
       
       Ein kürzlich durch die Bertelsmann Stiftung und das Innenministerium
       gestarteter [5][Bürgerrat zum Thema Fake News] ist, was
       Öffentlichkeitsarbeit angeht, deutlich besser aufgestellt. Es gibt eine
       breit angelegte Kampagne zur Bekanntmachung; auch das Ministerium hat dazu
       kommuniziert. In einem mehrstufigen Prozess wechseln sich Sitzungen des
       Bürgerrates und eine offene Beteiligung online ab.
       
       Der Bürgerrat Verkehrswende ist natürlich weder das einzige noch das
       gravierendste Beispiel halbherziger Partizipation. Ähnlich läuft es auch
       häufig auf kommunaler Ebene. Kürzlich hat die [6][Stadt Teltow eine
       digitale Beteiligungsplattform] aufgesetzt. „Wir wollen die Menschen dieser
       Stadt an den für sie wichtigsten Entscheidungen teilhaben lassen“, heißt es
       auf der Webseite. Bisher gibt auf der Plattform aber nur ein einziges
       Thema, bei dem zur Beteiligung aufgerufen wird: die Namensfindung für ein
       Spielschiff auf einem Spielplatz.
       
       Was einer wirklichen Erneuerung der Demokratie im Weg steht, sind Angst vor
       Kontrollverlust und ein veraltetes Demokratieverständnis, nach dem die
       Bürgerinnen und Bürger selbst nicht wissen, was gut für sie ist. Aber eine
       Demokratie ist nichts, was einmal schön aufgebaut wird und dann nie wieder
       verändern werden muss. Die Diversität heutiger Gesellschaften und die
       Komplexität der Herausforderungen setzen mehr Partizipation zwingend
       voraus. Wenn diese allerdings den Anschein erweckt, eher
       Beschäftigungsmaßnahme zu sein, schadet das der Demokratie und kostet
       weiteres Vertrauen.
       
       20 Feb 2024
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.zukunft-nachhaltige-mobilitaet.de/buergerrat/
   DIR [2] https://nexusinstitut.de/
   DIR [3] https://www.bundestag.de/presse/pressemitteilungen/2024/pm-240214-buergergutachten-989894
   DIR [4] /Konsequenzen-aus-den-Bauernprotesten/!5982909
   DIR [5] https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/themen/aktuelle-meldungen/2024/januar/bertelsmann-stiftung-startet-grosses-beteiligungs-projekt-zum-umgang-mit-desinformation
   DIR [6] https://www.teltow.de/aktuelles/news/teltow-startet-mit-online-beteiligungsplattform.html
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Laura Giesen
       
       ## TAGS
       
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