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       # taz.de -- Suizidhilfe und Justiz: Arzt wegen Sterbehilfe angeklagt
       
       > Dürfen Mediziner psychisch Kranken beim Suizid helfen? Dafür steht jetzt
       > in Berlin ein ehemaliger Hausarzt vor dem Landgericht.
       
   IMG Bild: Der Hausarzt Christoph T. (li) Angeklagt wegen Sterbehilfe vor dem Amtsgericht in Moabit
       
       Berlin taz | War die hochdepressive Isabell R. in der Lage, die
       Entscheidung, sich das Leben zu nehmen, eigenverantwortlich zu treffen,
       oder war ihr freier Wille durch die Erkrankung getrübt? „Ich hatte zu
       keinem Zeitpunkt Zweifel an ihrer Urteils- und Geschäftsfähigkeit“, sagte
       der Berliner Arzt Christoph T. Der 74-Jährige half der 37-Jährigen im Juli
       2021 beim Suizid, indem er ein tödliches Medikament besorgte und ihr den
       Zugang für die Infusion legte.
       
       Am Dienstag begann der Prozess gegen ihn vor dem Landgericht in Berlin.
       [1][Angeklagt ist T.] wegen Totschlags „in mittelbarer Täterschaft“. Dafür
       drohen ihm fünf Jahre Haft. Die Staatsanwaltschaft wirft dem ehemaligen
       Hausarzt und Internisten aus Berlin-Steglitz vor, der Frau bei ihrer
       Selbsttötung geholfen zu haben, obwohl sie zu diesem Zeitpunkt aufgrund
       einer „schweren depressiven Episode“ „nicht zur freien Willensbildung in
       der Lage gewesen sei“, heißt es in der Anklageschrift.
       
       Suizidhilfe durch Ärzt:innen ist nach einem [2][Urteil des
       Bundesverfassungsgerichts] vom Februar 2020 nicht mehr strafbar. Der oder
       die Sterbewillige muss sich allerdings „freiverantwortlich“ zur
       Selbsttötung entscheiden können. Eine „freie Suizidentscheidung“ setze
       voraus, dass der oder die Betroffene ihren Willen „frei und unbeeinflusst
       von einer akuten psychischen Störung bilden“ könne, urteilte das
       Bundesverfassungsgericht.
       
       Der Arzt hatte schon in vielen Fällen Sterbehilfe geleistet und war durch
       einen Prozess am Bundesgerichtshof medial bekannt. Isabell R. fand seine
       Kontaktdaten im Internet, kontaktierte ihn am 12. Juni 2021 und bat ihn um
       Hilfe.
       
       ## Ein langes Gespräch
       
       Er führte ein anderthalbstündiges Gespräch mit ihr. Darin sagte die
       Studentin der Tiermedizin ihm zufolge, sie hätte schon seit 16 Jahren an
       Depressionen gelitten und diese seien trotz jahrelanger Behandlung mit
       Medikamenten und Psychotherapie immer wieder gekommen – sie könne nicht
       mehr.
       
       Die Frau habe drei Suizidversuche hinter sich und habe den vierten
       „akribisch geplant“, schilderte der Arzt am Dienstag vor Gericht. Sie hätte
       angekündigt, sich im Badezimmer zu erhängen, wenn ihr T. nicht helfe.
       
       Der Arzt erklärte, er hätte erwogen, einen psychiatrischen Gutachter
       heranzuziehen, um die Freiverantwortlichkeit von R. bestätigen zu lassen.
       Sterbehilfeorganisationen verlangen ein solches Gutachten häufig, wenn
       Suizidwillige eine psychiatrische Vorgeschichte haben. R. habe ihn
       gefragt, was das koste, schilderte T. Er habe ihr gesagt, rund 1.000 Euro.
       Sie habe gesagt, 1.000 Euro habe sie nicht. Ein Gutachten zu erstellen
       dauere ihr auch zu lange.
       
       ## Direkt ins Hotel
       
       T. stellte ihr in einem ersten Suizidversuch in ihrer Wohnung einen
       Medikamentencocktail zur Verfügung, der oft eingesetzt wird. Doch Isabell
       R. erbrach die Medikamente, ein Bekannter alarmierte den Rettungsdienst,
       und R. wurde in die Psychiatrie eingewiesen. Am 12. Juli wurde sie
       entlassen, fuhr direkt in ein Hotel in Berlin-Lichterfelde und rief T. zu
       sich, der ihr nun die tödliche Infusion legte, die sie selbst startete.
       
       Die Staatsanwaltschaft wertete die 121 Nachrichten von Isabell R. auf T.s
       Geräten aus, die sie ihm innerhalb eines Monats schickte. Die Mehrzahl der
       Nachrichten beherrscht der Suizidwunsch, aber in 6 der 121 Nachrichten
       spricht R. davon, vielleicht doch weiterleben zu wollen. Dieser Wunsch sei
       allerdings „nur ganz flüchtig“ gewesen, erklärte T. Er habe das
       „quantitativ abgewogen“. „Ich hätte sagen können, Sie sind ambivalent, das
       mache ich nicht. Dann hätte sie sich aufgeknüpft“, so T. Das Landgericht
       hat neun weitere Verhandlungstage bis zum 26. März angesetzt.
       
       Wenn Sie Suizidgedanken haben, sprechen Sie darüber mit jemandem. Sie
       können sich rund um die Uhr an die Telefonseelsorge wenden (08 00/1 11 01
       11 oder 08 00/1 11 02 22) oder [3][www.telefonseelsorge.de] besuchen. Dort
       gibt es auch die Möglichkeit, mit Seelsorger*innen zu chatten.
       
       20 Feb 2024
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Assistierter-Suizid-bei-Depressionen/!5932350
   DIR [2] https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2020/02/rs20200226_2bvr234715.html
   DIR [3] https://online.telefonseelsorge.de/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Barbara Dribbusch
       
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