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       # taz.de -- Rhythmische Sportgymnastik: Die weiblichste aller Sportarten
       
       > Die Disziplin ist die einzige olympische Sportart nur für Frauen und
       > Mädchen. Schönheit spielt auf der Matte eine zentrale Rolle.
       
   IMG Bild: Die Gymnastin Darja Varfolomeev im Finale der Deutschen Meisterschaften 2022
       
       Berlin taz | Welch ein Szenario: Eine Sportart, in der nur Frauen
       mitmachen, in der Frauen das Regelwerk bestimmen, Frauen die wichtigen
       Trainerinnenjobs der Welt besetzen und Frauen entscheiden, wer gewinnt.
       Wäre das nicht eine Spielwiese für emanzipierte Körperbilder und weibliche
       Selbstbestimmung fernab patriarchaler Machtstrukturen?
       
       Nun, die Sportart gibt es: Sie heißt Rhythmische Sportgymnastik (RSG) und
       ist diesen Sommer bei den Olympischen Spielen die einzige Disziplin, die
       dem weiblichen Geschlecht vorbehalten ist. In etwa so sieht das Ganze aus:
       Gymnastinnen betreten in glitzernden, eng anliegenden Anzügen den
       beigefarbenen Teppich. Alle lächeln, fast alle mit rot angemalten Lippen.
       Alle tragen ihr Haar in einem strengen Dutt mitten auf dem Kopf. Ihre Küren
       dauern anderthalb Minuten, dazu läuft Musik.
       
       Sie werfen Bälle, Reifen oder Keulen hoch in die Luft, schlagen Kapriolen
       und fangen die Geräte auf wundersame Art wieder auf. Die Mädchen und sehr
       jungen Frauen drehen sich bis zu achtmal auf einem Bein um die eigene
       Achse, wobei das andere Bein am Ohr anliegt, als gehöre es nicht zu ihnen.
       Kampfrichterinnen vergeben Noten für Schwierigkeit, Ausführung und Artistik
       und küren aller Wahrscheinlichkeit nach die Deutsche Darja Varfolomeev zur
       Olympiasiegerin. Es wird von der „weiblichsten aller Sportarten“ die Rede
       sein.
       
       ## Perfektion, Anmut und Leichtigkeit
       
       „Ich verstehe, was die Leute meinen: Es ist eine sehr ästhetische Sportart.
       Die Gymnastinnen sehen schön aus, weil sie sich schön herrichten. Dann
       haben sie noch schöne Anzüge an und zeigen im Wettkampf Perfektion, Anmut
       und Leichtigkeit – so kommen all diese Ideale zusammen.“ Marlene Kriebel,
       25, kennt sich aus in der RSG: Als Vierjährige folgte sie ihrer Schwester
       in die Sportart, mit 14 wurde sie Jugendmeisterin, trainierte an einem
       Bundesstützpunkt, gewann etliche Medaillen bei Deutschen Meisterschaften.
       Aktuell ist sie Kapitänin der besten deutschen Gruppe vom TV Dahn aus
       Rheinland-Pfalz, sie tritt in der Bundesliga an und arbeitet als
       Landestrainerin in ihrem Verein.
       
       Kriebel weiß, wie viele harte Trainingsstunden es braucht, um eine Übung im
       Wettkampf leicht aussehen zu lassen: „Viele Leute unterschätzen das, weil
       man im Wettkampf immer nur das Perfekte sieht.“ Hauptberuflich arbeitet sie
       als Qualifizierungsingenieurin in der Pharmabranche. Durch den Sport, mit
       dem in Deutschland kein Geld zu verdienen ist, habe sie sich positive
       Eigenschaften angeeignet: „Disziplin, Selbstbewusstsein, Eigenständigkeit“.
       
       Die Schminke und der perfekte Dutt gehören auch für Kriebel einfach dazu:
       „Wenn ich mich für einen Wettkampf schminke, dann möchte ich mich auch
       wohlfühlen und schön machen.“ Was das auch im Kinderbereich verbreitete
       Schminken betrifft, frage sie sich schon manchmal: Muss das jetzt sein?
       Kriebel beobachtet, dass es meist die eigenen Eltern sind, die ihre Kinder
       vor dem Wettkampf schminken. In ihrem Verein achte man aber auf
       „Altersgerechtheit“: Für kleine Mädchen gebe es höchstens „ein bisschen
       Glitzer im Gesicht“, keine knallroten Lippen.
       
       ## Die Sportgymnastik ist eine Erfindung der Sowjetunion
       
       Laut Reglement gibt es weder für extravagante Anzüge noch für rote Lippen
       oder Haarstyling Punkte. „Die Frisur muss sauber und fest sein“, so der
       einzige diesbezügliche Satz im Reglement. Und doch: Kurze Haare? Undenkbar.
       Ein Stirnpony? Nie gesehen. Die maximale Abweichung vom Ideal: ein
       Pferdeschwanz. Kriebel sagt: „Ich kann mir nicht vorstellen, dass eine
       Gymnastin sagt: Ich schneid’ mir jetzt die Haare kurz, weil ich rebellisch
       unterwegs bin.“ Sie selbst trägt sie nach der Wettkampfsaison gern etwas
       kürzer.
       
       Die Sportgymnastik ist eine Erfindung der Sowjetunion, gedacht als eine Art
       Ballett mit Handgeräten. Im olympischen Mehrkampf gingen seit 1996 mit
       einer Ausnahme alle Medaillen an Russinnen, Belarussinnen und
       Ukrainerinnen. In Russland ist die RSG nationale Angelegenheit – und das
       nicht erst, seit Olympiasiegerin Alina Kabajewa als mutmaßliche Freundin
       Putins auf den Sanktionslisten landete, die die USA im Zuge des
       Angriffskriegs auf die Ukraine veröffentlichte. Die Macht der russischen
       Verbandspräsidentin Irina Viner geht weit über das [1][aktuell für
       internationale Wettkämpfe gesperrte Land] hinaus. Auch, weil seit dem Ende
       der Sowjetunion Hunderte der dort ausgebildeten Trainerinnen in der ganzen
       Welt agieren.
       
       „Sehr jung, extrem dünn, sehr lange Beine, kein Gramm Fett, keine Kurven,
       keine Hüften, keine Brüste, kein Hintern, also gar nichts,“ so beschreibt
       Guadalupe Aizaga das Schönheitsideal der RSG. Mit der Auswahl Argentiniens
       gewann sie bei den Südamerikaspielen 2006 die Silbermedaille. Als
       Fotografin betrachtet sie Gymnastinnenkörper seitdem oft durch die Linse.
       Das Schönheitsideal mache nicht nur Anleihen im klassischen Ballett,
       sondern auch in der Welt der Haute Couture: „Das Modeideal ist in der RSG
       noch extremer. Und dort ist es grotesk, weil du in diesem Sport neben
       Beweglichkeit vor allem Kraft brauchst. Für Kraft braucht es Muskeln, aber
       die darf man auf keinen Fall sehen.“
       
       ## Verspätete Menstruation
       
       Auch Aizaga trainierte in Buenos Aires unter einer russischen
       Cheftrainerin. Die habe große Expertise gehabt, aber eben auch klare
       Vorstellungen – auf eine simple Formel gebracht: Idealgewicht gleich
       Körpergröße minus 120. „Der Druck, ein bestimmtes Gewicht zu erreichen, war
       viel größer als der Druck durch Training oder Wettkampf,“ erinnert sie
       sich. Aizaga selbst und all ihre Teamkameradinnen hätten mit großer
       Verspätung erstmals menstruiert, manch eine erst nach Karriereende: „So
       viel zum Thema weiblichste Sportart!“
       
       Dabei ist auch die physische Beschaffenheit laut Reglement kein Kriterium
       für die Bewertung der sportlichen Leistung. Anders als in Sportarten, in
       denen es Gewichtsklassen gibt oder ein geringes Gewicht die Leistung bis zu
       einem bestimmten Punkt positiv beeinflussen kann – wie dem Skispringen oder
       dem Klettern –, gibt es in der RSG nur ein Motiv für die oft spindeldürren
       Körper: das ästhetische Ideal.
       
       Dem entspricht [2][Darja Varfolomeev, fünfmalige Weltmeisterin von 2023],
       in Perfektion. Hätte die heute 17-Jährige bei exakt gleichen Darbietungen
       mit zehn Kilo mehr auch gewonnen? Guadalupe Aizaga ist sich sicher: „Nein,
       die Kampfrichterinnen hätten ihr einfach nicht die gleichen Punkte
       gegeben.“ Varfolomeev begann als Dreijährige in Sibirien mit dem Sport und
       wechselte mit zwölf ins deutsche Nationalmannschaftszentrum in Schwaben, wo
       sie von einer weißrussischen Ex-Gymnastin betreut wird. Nach ihrem
       WM-Erfolg sagte eine Verbandsfunktionärin: „Wenn man in Stützpunkten und
       Vereinen fragt, wie sie werden wollen, sagen alle: So wie Dasha.“
       
       ## Das Ideal: die russische Schule
       
       Auch Guadalupe Aizaga hatte bei Wettkämpfen die Haare immer zum Dutt
       drapiert. Warum ähneln sich Gymnastinnen rund um den Globus so sehr? „Man
       kopiert das, was alle machen, das, was die Besten machen“, sagt Aizaga. Das
       habe auch mit dem jungen Alter zu tun. „Wenn du noch ein Kind bist und so
       viel trainierst, als wärst du ein Arbeiter, dann gibt es nicht viel
       Spielraum für Individualität.“ Die Frage, ob man das alles selbst so wolle,
       stelle sich gar nicht. Das Ideal hätten alle klar vor Augen, auch in
       Argentinien: die russische Schule.
       
       Ein Blick zum Geräteturnen zeigt, dass Entwicklung möglich ist. Auch hier
       war das Körperideal bis Ende der 1980er Jahre homogen: möglichst klein,
       leicht und jung sollten Turnerinnen sein – denn so sahen die Siegerinnen
       aus Rumänien und der Sowjetunion eben aus. Heute gibt es nicht nur hoch-
       und ausgewachsene Frauen in der Weltspitze, sondern mit [3][Simone Biles,
       die vor Sprungkraft nur so strotzt], auch einen Superstar, der mit dem
       früheren Ideal kaum etwas gemein hat.
       
       Marlene Kriebel und Guadalupe Aizaga zumindest beobachten auch in der RSG
       Veränderungen. Sie sei überzeugt, sagt Kriebel, dass die Einstellung zum
       Körperideal in der Weltspitze „toleranter“ geworden ist. Auch der
       Altersdurchschnitt, sagt Aizaga, sei international gestiegen.
       
       Die Spielwiese, sie darf kommen.
       
       7 Mar 2024
       
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       Essstörungen im Leistungssport gehören stärker in den Fokus der
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       relativ hoch.
       
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       Ja, es gibt wichtigeres auf der Welt. Trotzdem gucken wir vereint abseitige
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       Bremen richtet im April die Europameisterschaft der rhythmischen
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       komplizierter sind als "das Runde muss ins Eckige".