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       # taz.de -- Filmische Kritik an Medienbildern: Alles für die Illusion
       
       > Der Essayfilm „And the King Said, What a Fantastic Machine“ fragt nach
       > der Wahrheit der Bilder – und ob sie heute überhaupt noch eine Rolle
       > spielt.
       
   IMG Bild: Bitte nicht zu Hause nachmachen
       
       Zerstörte Häuser füllen den Bildschirm aus, ein gelber Bagger steht auf
       grauen Trümmern, die Leiche eines Mädchens liegt auf dem Dach eines
       Gebäudes. [1][Die Medienbilder] vom Erdbeben in Haiti 2010 im Essayfilm
       „And the King Said, What a Fantastic Machine“ sind aus dem öffentlichen
       Raum – und zugleich intim.
       
       Sie erzeugen das Gefühl, dem Geschehen nahe zu sein. Da sind nur die
       Zuschauer*in und der tote Mensch. Das nächste Bild zerstört den Eindruck:
       Direkt vor der Mädchenleiche – nun von der Seite zu sehen – knien fünf
       Fotografen. Ein Kameraschwenk bringt Kontexte zum Einsturz.
       
       An dieser Stelle spitzt der Film der Regisseure Axel Danielson und
       Maximilien Van Aertryck seine zentrale These zu: Bilder sind selten
       authentisch, oft inszeniert. Weshalb sich das Bild einer einzigen Leiche –
       wie die des Mädchens, oder die [2][des geflüchteten Jungen] Alan Kurdi an
       der Mittelmeerküste 2015 – besser eignet, Empathie zu erzeugen, als Bilder
       von Massengräbern. Bei der Katastrophe in Haiti starben 200.000 Menschen.
       
       „Um Illusionen aufrechtzuerhalten, müssen manche Dinge verborgen werden“,
       sagt die Off-Stimme des Films, der ausschließlich aus Archivmaterial
       besteht. Zu sehen sind Sprecher einer Liveübertragung [3][des ESC], im
       Hintergrund Bilder, die ihre Heimatländer repräsentieren.
       
       ## Dinge hinzudichten
       
       Nach einem Schnitt steht dieselbe Person vor einer grünen Leinwand, spricht
       unbekümmert weiter, und siehe da, die Zuschauer*in ist der Wirklichkeit
       suggerierenden Illusion beraubt. „Green Screens“ dienen als neutraler
       Hintergrund, um in der Postproduktion durch beliebige Bilder ersetzt zu
       werden.
       
       Manchmal müssen Dinge hinzugedichtet werden, um Illusionen
       aufrechtzuerhalten. „Was für eine fantastische Maschine die Kamera doch
       ist“, rief König Edward VII. 1902 aus, als er einen Film über die eigene
       Krönung sah, die vor der eigentlichen gedreht wurde. Dem filmtitelgebenden
       Satz fügt er hinzu: „Sie hat sogar einen Weg gefunden, jene Teile der
       Zeremonie zu filmen, die gar nicht stattgefunden haben.“
       
       Den Philosophen Roland Barthes störte genau das an Film. Der Zwang, alles
       aufzunehmen, negiere die Möglichkeit, nuanciert wahrzunehmen. Film entführe
       „die Vertrauenswürdigkeit der Photographie“, und missbrauche „sie zugunsten
       einer Illusion“.
       
       Doch ob vertrauenswürdig oder verdächtig, Zuschauende sehen am Ende nur
       das, was da ist. Nicht das, was nicht da ist. Eine Collage von
       NSDAP-Aufmärschen oder Trump-Auftritten zeigt: Mit Blick auf Bilder, die
       Macht ausstrahlen sollen, ist das selten ungefährlich. Gesehenes wird oft
       als wahr empfunden – nicht überraschend in einer Kultur, die den Sehsinn
       als wichtigstes Mittel zur Wahrnehmung erklärt hat.
       
       Es sind bekannte Themen, die hier manchmal auf quasi
       küchen-kulturwissenschaftliche Weise verhandelt werden, doch selten wurden
       sie so zeitgenössisch präsentiert: in schnellen Vignetten wie Tiktok-Reels.
       Mit der fließenden Form offenbaren sich neue Zusammenhänge.
       
       ## Salvenartige Szenen
       
       Rund 180 Jahre Foto-und-Film-Geschichte haben das Verhalten verändert. So
       geht es in einer Szene um einen Gamer, der seine Spiele via Twitch
       überträgt, aber kaum Follower*innen hat. Als er vor der Webcam
       einschläft und aufwacht, haben sich die Zuschauenden vervielfacht. Der
       schlafende Mensch ist interessanter als der wache. Vielleicht gibt es heute
       eine derartige Sättigung inszenierter Bilder, dass die „echten“ beliebter
       werden?
       
       Gegen Ende bekommt die Zuschauer*in salvenartig „found footage“ aus dem
       Netz um die Ohren gehauen: grinsende Katzen, ein Paar, das ohne Sicherung
       auf einem Wolkenkratzer balanciert. Die Montage ist überfordernd – der
       Verstand kommt nicht nach, die Eindrücke zu verarbeiten, Affekt folgt
       Affekt.
       
       So funktioniert heute vieles, auch politische Polemik, bei der eine
       Metapher der anderen folgt, ohne auf das Eigentliche zu kommen. Das
       Eigentliche im Sinne des Filmsujets wäre vielleicht das Abgebildete, nicht
       das Abbildende: die Mädchenleiche, nicht das, wofür sie steht (die
       Katastrophe).
       
       Mit dem Bilderbombardement bedient sich „And the King Said …“ einer
       Methode, die er kritisiert. Das ist elegant. Er macht angesichts der stetig
       wachsenden Masse von Bildern bewusst, was wirklich wichtig ist: zu
       hinterfragen, was, aber auch wie etwas zu sehen ist.
       
       10 Mar 2024
       
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       ## AUTOREN
       
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