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       # taz.de -- Schutz der Wohnung eingeschränkt: Polizei darf ohne Richter rein
       
       > Gericht gibt Land Berlin recht: Zimmer von Flüchtlingen dürfen bei
       > Abschiebungen ohne Richterbeschluss betreten, Handys eingesammelt werden.
       
   IMG Bild: Nur eingeschränkt durchs Grundgesetz geschützt sind Zimmer in Flüchtlingsunterkünften, Hier ein Neubau in Berlin, Januar 2024
       
       Berlin taz | Das Oberverwaltungsgericht Berlin (OVG) hat die Rechte von
       Geflüchteten im Abschiebeprozess geschwächt. In einem Berufungsprozess, den
       das Land Berlin angestrengt hatte, weil es in erster Instanz gegen einen
       jungen Mann aus Guinea verloren hatte, entschieden die fünf Richter am
       Dienstag: Die Polizei darf das Zimmer eines Flüchtlings im Wohnheim
       betreten um ihn zur Abschiebung abzuholen. Und: Das bloße Betreten des
       Raums sei kein „Durchsuchen“, das laut Grundsetzartikel 13
       (Unverletzlichkeit der Wohnung) eines richterlichen
       Durchsuchungsbeschlusses bedurft hätte. Das OVG hob [1][die
       erstinstanzliche Entscheidung des Verwaltungsgerichts] in diesem Punkte
       auf.
       
       Auch in einem zweiten Punkt stellte sich der 3. Senat unter Vorsitz von
       Richter Kai-Uwe Riese auf die Seite der Innenverwaltung: Die Polizei durfte
       K. Gegenstände wie Handy und Portemonnaie wegnehmen mit der Begründung,
       dass er sich selbst oder andere damit gefährden könnte und so seine
       Abschiebung hätte verhindern können. Dies hatte auch die Vorinstanz so
       gesehen und K.s Klage in diesem Punkt abgewiesen. Dagegen war der
       Geflüchtete in Berufung gegangen – diese wies das OVG nun zurück.
       
       Der Anwalt des Klägers, Christoph Tometten, kommentierte gegenüber der taz
       enttäuscht: „Wenn die Polizei ohne richterliche Kontrolle in Wohnungen
       eindringen darf, um Menschen zur Abschiebung abzuholen, haben wir ein
       Problem. Wenn die Polizei Mobiltelefone sicherstellen darf, nur weil sie
       von Menschen mitgeführt werden, die abgeschoben werden sollen, haben wir
       ein Problem. Ausufernde polizeiliche Befugnisse sind eines Rechtsstaats
       nicht würdig.“
       
       Der Fall hat insofern grundsätzliche Bedeutung, als [2][die Berliner
       Polizei bei Abschiebungen häufig in Zimmer in Flüchtlingsheimen eindringt]
       um Menschen mitzunehmen. Artikel 13 GG, der die Wohnung als unverletzlichen
       Raum schützt, verlangt für Durchsuchungen allerdings einen Richterbeschluss
       – den die Berliner Polizei nie dabei hat. Darüber hatte es im vorigen Senat
       Streit zwischen der der damaligen linken Integrationssenatorin Elke
       Breitenbach und SPD-Innensenator Andreas Geisel gegeben.
       
       ## Betreten oder Durchsuchen
       
       Die Bundesregierung verschärfte dann 2019 mit dem
       „Geordnete-Rückkehr-Gesetz“ des damaligen Bundesinnenministers Horst
       Seehofer (CSU) das Aufenthaltsrecht, indem sie den Unterschied zwischen
       „Betreten“ (Aufenthaltsgesetz §58, Abs. 5) und „Durchsuchen“ (Abs. 6 und 8)
       von Wohnungen einführte – und bestimmte, dass nur letzteres unter
       Richtervorbehalt fällt. Diese Bestimmung war jedoch von Beginn an
       juristisch hoch umstritten, denn das Problem hieß nun: Wo endet das
       „Betreten“, wo beginnt das „Durchsuchen“?
       
       Im vorliegenden Fall hatte das Verwaltungsgericht im Oktober 2021 das Land
       Berlin gerügt: Schon das Betreten des Zimmers des Klägers mittels einer
       Ramme – auf das Klopfen der Polizisten hatte niemand geöffnet – sei ein
       „Durchsuchen“, so die Richterin. Die Polizei habe ja nicht wissen können,
       was sie dort erwarte, der Gesuchte hätte abwesend sein können oder jemand
       anders anwesend. Es sei also eine „Durchsuchung“ erwartbar gewesen, für die
       aber der Richterbeschluss fehlte. In diesem Punkt gaben die Richter damals
       Ibrahim K. recht.
       
       Dass die Berufung dazu erst jetzt stattfand, lag auch daran, dass das OVG
       das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts in einem ähnlich gelagerten Fall
       abwarten wollte, wie Richter Riese in der Verhandlung erklärte. Im Juni
       2023 hatten die obersten Verwaltungsrichter auch über die Frage der
       Rechtmäßigkeit des Betretens von Räumen in Flüchtlingsunterkünften zu
       entscheiden.
       
       Sie sahen die Sache so: Zwar sei in der Tat auch ein Zimmer in einem
       Flüchtlingsheim als Wohnung im Sinne Artikel 13 GG anzusehen – eine im
       Sinne von Flüchtlingsrechten positive Klarstellung, begrüßte Pro Asyl
       seinerzeit, denn auch diese Frage war bis dahin nicht abschließend
       juristisch geklärt. Sie urteilten aber auch: Wenn es über [3][„das bloße
       Betreten des Zimmers hinaus zu keiner Durchsuchungshandlung im Sinne eines
       ziel- und zweckgerichteten Suchens nach etwas Verborgenem kam“], brauche
       die Polizei keinen Durchsuchungsbefehl.
       
       Die Flüchtlingsorganisation Pro Asyl kritisierte, nach dieser Auffassung
       seien kleinere Wohnungen, die man mit einem Blick erfassen könne, weniger
       geschützt als große Wohnungen mit mehreren Zimmern. [4][„Damit hebelt das
       Gericht den Schutz des Wohnraums in kleinen Wohnungen aus.“]
       
       ## „Weitere Handlungen“ nach dem Betreten
       
       Das Land Berlin fühlt sich durch dieses höchstrichterliche Urteil dagegen
       in „unsere Rechtsauffassung bestätigt“, sagte die Vertreterin, Luise
       Menzel, am Dienstag vor dem OVG. Auch im Berliner Fall, der sich im
       September 2019 zutrug, habe es sich nur um ein Betreten gehandelt. Dass das
       Gericht ebenfalls dieser Ansicht zuneigt, wurde bereits während der
       Verhandlung erkennbar. Tometten wies dagegen darauf hin, dass im hier
       verhandelten Fall zwei Menschen im Zimmer waren „und es nach dem Betreten
       zu weiteren Handlungen gekommen ist“. K. und sein Zimmergenosse mussten
       ihre Ausweise vorzeigen, um sich zu identifizieren – sonst hätte die
       Polizei nicht gewusst, wen sie mitnehmen soll.
       
       Die Frage der Rechtmäßigkeit von Handywegnahmen ist ebenfalls von
       grundsätzlicher Bedeutung, dies geschieht ebenfalls häufig bei
       Abschiebungen – erst am Flughafen wird den Menschen ihr Telefon
       zurückgegeben. Ziel sei offenkundig die Benachrichtigung von Anwälten zu
       unterbinden, die möglicherweise im letzten Moment die Abschiebung
       juristisch verhindern könnten, sagen Flüchtlingsorganisationen. Die Polizei
       begründet die Handy-Wegnahme dagegen regelmäßig mit Sicherheitsaspekten.
       
       „Aber dass man ein Handy verschlucken oder einen Polizisten damit verletzen
       kann, ist völlig abwegig“, so Tometten zur taz. Insofern verletze die
       Sicherstellung des Handy die Grundrechte der Betroffenen – aus diesem Grund
       hat der Anwalt auch die Zulassung zur Revision beantragt. Doch auch dies
       lehnte das OVG ab. Das Verfahren währte am Dienstag insgesamt nur kurz:
       Nach 40 Minuten beendete Richter Riese die mündliche Verhandlung am
       Vormittag, gegen Mittag war das Urteil da.
       
       Immerhin: Für Ibrahim K. persönlich ist die Sache nicht mehr von Bedeutung.
       Seine versuchte Abschiebung wurde seinerzeit am Flughafen abgebrochen, kurz
       danach endete die Frist, in der er nach Italien hätte rückgeschoben werden
       können. Im Mai vorigen Jahres bekam er eine Ausbildungsduldung und macht
       nun eine Ausbildung zum Maler und Lackierer. Bis 2025 kann er mindestens in
       Berlin bleiben.
       
       27 Feb 2024
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Gerichtsurteil-zu-Abschiebungen/!5804409
   DIR [2] /Kritik-des-Fluechtlingsrats/!5595213
   DIR [3] https://www.bverwg.de/pm/2023/48
   DIR [4] https://www.proasyl.de/pressemitteilung/bundesverwaltungsgericht-bejaht-unverletzlichkeit-der-wohnung-fuer-gefluechtete-und-schraenkt-den-schutz-durch-die-hintertuer-wieder-ein-buendnis-plant-verfassungsbeschwerde/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Susanne Memarnia
       
       ## TAGS
       
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