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       # taz.de -- Teenager in der Ukraine: Wenn Leben Stillstand heißt
       
       > Seit ihrer Kindheit herrscht in der Ukraine Krieg. Wie leben ukrainische
       > Teenager, was macht sie traurig, was froh? Und wie sehen sie ihre
       > Zukunft?
       
   IMG Bild: Blick aus dem Fenster in einer Wohnsiedlung in Charkiv, nach einem Bombenangriff im März 2022
       
       Als Russland 2014 die Krim annektierte und der Krieg im Donbass begann,
       waren sie noch Kinder. Dann kam die Coronapandemie, dann der russische
       Großangriff. Wie leben Jugendliche in der Ukraine? Vier Protokolle.
       
       ## Vera Suprun (13) aus Charkiw
       
       Wir lernen jetzt online, mit dem Tablet. Ich bin schon daran gewöhnt, aber
       manchmal ist es doch schwierig, so lange vor dem Bildschirm zu sitzen. Wäre
       schön, wenn es weniger wäre. Aber es ist, wie es ist. Trotzdem wünsche ich
       mir eine Offlineschule, wenn es irgendwann wieder sicherer ist.
       
       Für Online-Unterricht muss man diszipliniert sein und sich gut
       organisieren. Ich muss mich jedes Mal erst darauf einstellen, dass jetzt
       Unterricht ist. Dass ich Informationen und Wissen aufnehme, und darf mich
       nicht ablenken lassen. In der Schule fiel mir das leichter, weil da Lehrer
       waren, die die Dinge verständlich erklären konnten. Ich habe auch meine
       Mitschüler gesehen, das war schön. Es ist schwierig, sechs, sieben
       Schulstunden stillzusitzen, nicht das Haus verlassen zu können. Danach ist
       man ziemlich kaputt. Leider habe ich keine Möglichkeit, [1][in der
       Metro-Schule] zu lernen (Unterricht in einer U-Bahn-Station; d. Redaktion).
       
       Seit dem 24. Februar 2022 bin ich emotional sehr erwachsen geworden,
       psychisch und moralisch. Ich habe angefangen, mein Leben detaillierter zu
       planen, ich habe jetzt Ziele und Prioritäten. Ich kann auch die Menschen
       mehr wertschätzen, mit denen ich meine Zeit verbringe, meine Eltern zum
       Beispiel. Man muss seine Familie wertschätzen, denn man hat nur diese eine,
       eine andere wird es nicht geben.
       
       Mein liebstes Hobby ist Lesen. Bis zum Kriegsausbruch habe ich auch
       russische Literatur gelesen. Aber seit dem 24. Februar lese ich nur noch
       ukrainische Bücher! Ich höre auch gerne Podcasts. Und ich gehe gerne ins
       Kino, aber das ist leider nicht so oft möglich. Außerdem gehe ich zum
       Tanzen, das ist wie Sporttraining. Toll, dass ich diese Möglichkeit habe.
       Und ich bin viel mit meinen Freunden zusammen.
       
       Zu Beginn des Krieges haben wir Charkiw verlassen. Wir waren in Winnyzja,
       das ist weiter im Westen. Da waren wir einen Monat, ich habe meine Stadt
       sehr vermisst. Aber wir sind in der Ukraine geblieben. Wie kann man auch
       seine Heimat im Stich lassen?
       
       Ich weiß nicht, ob ich mich in Charkiw in Sicherheit fühle. Wenn die
       Raketen fliegen und das Leben bedroht ist, ja, das ist nicht ungefährlich.
       Aber ich lebe weiter. Es ist nicht so, dass ich immer Angst habe. Aber
       klar, manchmal schon. [2][Wenn die Raketen sehr nahe an unserem Haus
       vorbeifliegen], dann habe ich Angst um meine Familie und mich selbst.
       
       Das Wichtigste für mich ist, dass der Krieg aufhört. Dann wird sich für
       mich und viele Ukrainer viel ändern. Und ich werde mich nicht mehr bedroht
       fühlen. Ich träume davon, zu dem Menschen zu werden, der ich wirklich sein
       will. Ich möchte stolz auf mich sein. Und einen Job haben, mit dem ich
       zufrieden bin und der mich interessiert. Nicht, dass ich dauernd total
       fertig von der Arbeit bin.
       
       Ich mag Bücher, ich möchte Schriftstellerin werden. Ich habe schon
       versucht, Dinge zu schreiben. Ich würde auch gerne Linguistin werden, oder
       Psychologin oder Journalistin.
       
       Mein Leben sehe ich in Charkiw und in der Ukraine! Ich möchte hier bleiben,
       weil wir unsere Stadt, unsere Heimat wieder aufbauen. Später. Nach dem
       Krieg.
       
       Protokoll: Juri Larin 
       
       Aus dem Russischen von Gaby Coldewey
       
       ## Vera Poluden (16) aus Uman
       
       [3][Als 2014 der Krieg begann], war ich noch ziemlich klein. Ich kann nicht
       sagen, ob ich damals schon wirklich etwas davon mitbekommen habe, aber ich
       erinnere mich, wie meine Mama zu meiner großen Schwester Nastja sagte, sie
       hoffe, wir erleben noch den nächsten Tag. Ich war damals ein bisschen
       erschrocken.
       
       Vor Beginn des russischen Großangriffs wollte mein Papa unser Dorf
       Tschornobajiwka verlassen. Er sagte, dass bald der Krieg beginnt, aber
       niemand hat ihm geglaubt. Trotzdem hat er mir immer wieder erklärt, was wir
       im Fall einer Invasion tun müssen.
       
       Am 22. Februar hat er mich zum Beispiel zu sich gerufen und gesagt, dass
       ich sofort nach Hause rennen muss, wenn ich eine Explosion höre. Ich solle
       dann Mama helfen. Denn Mama muss ja irgendwie dafür sorgen, dass wir erst
       mal aus Tschornobajiwka rauskommen. Und ich solle dann auf meine Schwester
       aufpassen und Mama beruhigen, weil das Autofahren für sie stressig werden
       könnte.
       
       Am 23. Februar abends war ich mit Freunden unterwegs, da war noch alles
       okay. Gegen acht hab ich noch mit meiner Freundin telefoniert. Dann bin ich
       schlafen gegangen. Gegen fünf Uhr morgens hab ich die erste Explosion
       gehört. Das war ein Luftangriff auf den Flughafen.
       
       Ich hatte ziemliche Angst und bin zu Papa gerannt. Er sagte: „Schnell, weck
       Nastja, packt eure Sachen.“ Nastja und ich hatten total Panik und wussten
       gar nicht, was wir brauchen. Deshalb haben wir alles gegriffen, was wir in
       die Finger bekommen konnten. Und dann haben wir überlegt, wohin wir jetzt
       eigentlich fahren. Ich schlug vor, erst mal in Ruhe zu frühstücken. Das
       haben wir auch getan. Und dann sind wir nach Cherson gefahren, das sind nur
       zwei Kilometer.
       
       Bis zu dem Großangriff war dort auch meine Schule. Es war die beste Schule
       der Stadt, aber viele Lehrer dort waren prorussisch. [4][Nachdem die
       russische Armee die Stadt besetzt hatte], hat unsere Direktorin mit den
       russischen Militärs zusammengearbeitet und die Schule zu einer russischen
       gemacht. Es gab nur noch russische Schulbücher und in der Aula fand im
       letzten Herbst [5][dieses Referendum über die angebliche Zugehörigkeit von
       Cherson zu Russland] statt.
       
       Sie hat auch dauernd ihre Schüler angeschrieben, damit die zur Schule
       kommen. Denen, die dort nicht mehr lernen wollten oder sich abmelden, hat
       sie gedroht, dass man sie finden und erschießen werde.
       
       Meine beste Freundin hat sich zu Beginn der russischen Invasion ganz
       komisch benommen. Später habe ich kapiert, dass sie für Russland war. Das
       war echt ein harter Schlag für mich.
       
       Alles, was jetzt passiert, ist ziemlich merkwürdig. Mit meinen 16 Jahren
       quälen mich viele Fragen, die man in diesem Alter nicht haben sollte. Es
       macht mich ziemlich fertig, dass ich jetzt schon so wichtige Entscheidungen
       treffen muss. Zum Beispiel, wo ich später studieren soll. Also, ob ich ins
       Ausland gehe oder in der Ukraine bleibe. Ich habe mir immer vorgestellt,
       dass ich mein ganzes Leben in der Ukraine verbringen werde, aber jetzt wird
       mir klar, dass ich hier gerade nur Stillstand erlebe.
       
       Protokoll: Yuliia Shchetyna 
       
       Aus dem Russischen von Gaby Coldewey
       
       ## Nikita Rybatschenko (20), Odessa
       
       „Hallo, schläfst du noch?“, wurde ich am 24. Februar 2022 morgens am
       Telefon geweckt. „Aufwachen. Es ist Krieg.“ Und schon war das Gespräch
       beendet. Ich bin einfach erst mal liegen geblieben, habe gehört, wie die
       Raketen einschlugen. Das war eine Zäsur in meinem Leben.
       
       Vor dem Krieg habe ich telefonische Kundenakquise gemacht, für einen
       Internetprovider. Am 22. Mai 2022 war ich diesen Job los. Vor dem Krieg
       hatten wir Pläne, wollten Odessas Kultur populär machen, wollten Filme
       drehen. Wir hatten auch schon einen ersten Drehtermin, am 26. Februar 2022.
       Und am 25. Februar sollte ich operiert werden. Beides habe ich nicht mehr
       umsetzen können. Auch, weil erst mal das Geld zur Neige ging.
       
       Heute habe ich vielleicht sogar ein bisschen mehr Geld als früher. Das
       Problem ist nur: Das ist jetzt viel weniger wert. Die Inflation frisst
       alles auf.
       
       Nach meiner Entlassung bei dem Internetprovider war ich ein paar Monate
       arbeitslos. Glücklicherweise hatte ich Erspartes, deswegen konnte ich
       normal weiterleben. Staatliche Stütze wollte ich keine. Zum einen ist das
       echt wenig Geld, dafür geh ich nicht zum Amt. Außerdem war damals nicht
       klar, wen sie nun zum Militär einziehen werden. Und da wollte ich nicht
       groß auffallen. Schließlich geben die Arbeitsämter ihre Daten an die
       Wehrämter weiter. Ich bin zwar als Student von einer Einberufung
       freigestellt. Ich arbeite aber auch noch nebenher. Und Angestellte dürfen
       eingezogen werden. Es war mir nicht ganz klar, was für mich gilt.
       
       Dann, im Oktober 2022, endlich ein neuer Job. Das Theater Haus der Clowns
       suchte Leute, die für sie Videos machten – und sie haben sich für mich und
       einige meiner Kollegen entschieden. Ein Problem dabei ist für mich die
       Sprache. Es gibt hier mehrere Gesetze, die die russische Sprache
       benachteiligen. Reklame auf Russisch ist faktisch nicht mehr möglich. Und
       im Theater werden keine Stücke in russischer Sprache mehr aufgeführt. Aber
       ich kann auf Russisch einfach besser formulieren, es ist meine
       Muttersprache.
       
       Nein, planen kann ich nichts. Du weißt ja nicht mal, ob und wo es das
       nächste Mal einschlägt. Ich plane immer nur für die nächsten sieben Tage.
       
       Ich arbeite gerne im Haus der Clowns. Denn da können wir Menschen eine
       Freude machen, die viel mitgemacht haben. Frontsoldaten beispielsweise,
       Verletzten. Und die haben so viel Spaß und können bei unseren Aufführungen
       mal so richtig abschalten. Das ist wichtig. Und da geben wir uns viel Mühe.
       Überhaupt geben sich die Odessiten viel Mühe, sich gegenseitig das Leben zu
       erleichtern.
       
       In den zwei Jahren Krieg hat man sich fast ein bisschen an die Situation
       gewöhnt. Die meisten reagieren schon nicht mehr auf die Sirenen. Tja,
       sterben müssen wir ja sowieso alle irgendwann.
       
       Seit Kriegsbeginn lese ich Remarque. Bei der Lektüre von „Drei Kameraden“
       habe ich unsere heutige Situation wiedererkannt. Denn in diesem Roman wird
       jemand beschrieben, der kein Geld mehr hat und keine Arbeit findet und
       trotzdem versucht, weiter zu funktionieren, weiter zu existieren. Das ist
       es, was die Aktualität von Remarque heute ausmacht.
       
       Protokoll und Übersetzung von Bernhard Clasen 
       
       ## Oleksii Dremliuk (15) aus Odessa
       
       Als vor zwei Jahren die russische Invasion begann, hatten wir Angst und
       darum hat meine Familie beschlossen, das Land zu verlassen. Zwei Tage
       später waren wir schon in der Republik Moldau, nach zwei Wochen sind wir in
       die Niederlande weiter gefahren. In der Nähe von Amsterdam bin ich zur
       Schule gegangen und hatte sogar ein paar Freunde. Aber wir hatten Probleme
       mit der Wohnung.
       
       Deshalb sind wir dann im Sommer nach Deutschland gegangen, in ein Dorf bei
       Bad Doberan an der Ostsee. Für mich war das auch besser, weil ich in der
       Ukraine schon Deutsch gelernt hatte. Aber weil meine Mutter und meine
       Schwester krank geworden sind, sind wir nach zwei Monaten zurück in die
       Ukraine gegangen. Mein Vater war die ganze Zeit hier in Odessa.
       
       Zuerst hatten wir Angst, es gab ja viele Angriffe, aber irgendwie versuchen
       wir uns daran zu gewöhnen. Es ist nicht leicht für uns alle. Besonders wenn
       die Angriffe nachts kommen.
       
       Viele Familien leben jetzt getrennt, weil der Vater oder der Bruder an der
       Front sind. Mein Vater ist hier bei uns und arbeitet als ehrenamtlicher
       Helfer für unsere Armee. Wir leben hier von Tag zu Tag, man weiß ja nie,
       was am nächsten oder übernächsten Tag passieren wird.
       
       Deshalb versuchen wir, uns auf die kleinen Dinge zu konzentrieren, uns an
       Kleinigkeiten zu freuen. Und nicht darüber nachzudenken, was in einem Monat
       passieren könnte, weil wir das ja sowieso nicht wissen. Und alles kann von
       einem Moment auf den nächsten zerstört werden.
       
       Ich weiß noch nicht genau, was ich später machen will. Wenn ich eine
       Möglichkeit hätte, dann würde ich am liebsten etwas mit Wirtschaft
       studieren, vielleicht in Wien. Aber das hängt natürlich von der Situation
       ab. Ich kann ja nur ins Ausland, solange ich noch nicht 18 Jahre alt bin.
       Und vorher das Land zu verlassen ist eine schwierige Entscheidung.
       
       Wenn man jetzt schon studiert, [6][wird man ja bis zum Studienabschluss
       nicht für die Armee mobilisiert]. Aber diese Regeln können sich auch
       ändern. Ich hoffe natürlich, dass die Situation sich verbessert, dass wir
       unser Leben in Zukunft so leben können, wie wir das selber wollen.“
       
       Protokoll Marco Zschieck
       
       24 Feb 2024
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Schulanfang-in-der-Ukraine/!5958131
   DIR [2] /Russische-Luftangriffe-auf-die-Ukraine/!5980071
   DIR [3] /Ukrainische-Kriegsgeschichte/!5853155
   DIR [4] /Lage-in-der-Ukraine/!5840670
   DIR [5] /Russische-Scheinwahl-in-besetztem-Gebiet/!5959168
   DIR [6] /Mangel-an-Soldaten-in-der-Ukraine/!5977995
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Juri Larin
   DIR Yuliia Shchetyna
   DIR Bernhard Clasen
   DIR Marco Zschieck
       
       ## TAGS
       
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