# taz.de -- Ermordeter Journalist Peter R. De Vries: Die Niederlande, ein Narco-Staat?
> Der Prozess um den Mord am Journalisten Peter R. De Vries konfrontiert
> die Niederlande mit den tiefen Abgründen der Unterwanderung des
> Rechtsstaats.
IMG Bild: Vor Prozessbeginn am Hochsicherheitsgericht in Amsterdam, Niederlande, 27. Februar 2024
Amsterdam taz | Wie glaubwürdig ist das Bedauern eines vermeintlichen
Mordmaklers? „Ihr sollt wissen, dass ich dies nicht gewollt habe“, sagte
der Verdächtige Krystian M. während der letzten Sitzung Ende Januar zu
Kelly und Royce, den Kindern des Ermordeten. „Ich habe unter Druck Berichte
weitergeleitet. Es wurden sehr heftige Dinge zu mir gesagt, die ich nicht
wiederholen möchte. Wenn ich etwas anders machen könnte, ich würde es tun.
Es tut mir leid.“
Vier Wochen später zeigt sich die Staatsanwaltschaft davon unbeeindruckt.
Es ist eines der letzten Male, dass das Gericht im sogenannten Bunker,
einem extra gesicherten Gebäude ganz im Westen Amsterdams, zusammenkommt,
um über den [1][Mord am Journalisten Peter R. De Vries] im Juli 2021 zu
sprechen. Krystian M. sei freiwillig einer kriminellen Vereinigung, die
[2][Mordaufträge] ausführte, beigetreten, so die Anklage. Sie sieht M.
nicht als „wehrloses Opfer“, sondern als „Mordmakler“ und Koordinator der
Tat, der genau wie der Schütze und sein Chauffeur lebenslänglich hinter
Gitter soll.
Mordmakler ist eines der Wörter, an die man sich in den Niederlanden in den
letzten Jahren gewöhnt hat. Nicht zuletzt durch diesen Prozess gegen die
neun Verdächtigen, denen der Anschlag auf den bekannten Crime-Journalisten
an einem Juliabend mitten in Amsterdam zur Last gelegt wird.
## Berater des Kronzeugen
Zur Zielscheibe gemacht hatte De Vries seine Rolle in einem anderen
Verfahren: Im sogenannten Marengo-Prozess beriet er den Kronzeugen Nabil B.
17 Verdächtige der sogenannten Mocro-Mafia standen seit Ende 2018 vor
demselben Gericht, darunter Ridouan Taghi, Chef eines Kartells, das
zeitweise ein Drittel des [3][europäischen Kokainmarkts] beherrscht haben
soll. Bei dem „Jahrhundertprozess“, wie niederländische Medien ihn nannten,
ging es um sechs Morde zwischen 2015 und 2017. Er brachte das Vertrauen in
den Rechtsstaat ins Wanken wie keiner zuvor.
Kronzeuge Nabil B. spielte dabei eine zentrale Rolle: 2018 wurde sein
Bruder in Amsterdam ermordet, 2019 sein Anwalt Derk Wiersum. Es war der
Moment, als die Bewohner*innen der Stadt merkten, dass die regelmäßigen
Morde in Außenbezirken sich eben nicht wie gedacht auf das „kriminelle
Milieu“ beschränkten. Der Mord am überaus beliebten De Vries mitten im
touristischen Trubel war das Ausrufezeichen hinter dieser schockierenden
Erkenntnis.
Wie eng beide Prozesse verwoben sind, zeigt sich, als sie sich Ende Februar
auch zeitlich überschneiden. Einen Tag bevor im Prozess De Vries die letzte
Sitzung beginnt, werden die Urteile gegen die Marengo-Verdächtigen
verkündet. Das Gebiet um den „Bunker“ ist nahezu abgeriegelt, an jeder
Straßenecke stehen Polizisten in schwarzen Uniformen, mit Gesichtsbedeckung
und Automatikwaffen im Anschlag. Ein Hubschrauber kreist über dem Gebäude,
etwas höher steht eine Drohne in der Luft. Autos mit dunklen Scheiben
preschen vor, fahren in einen Seitenflügel des Gerichts, wo die
Verdächtigen in Sekundenschnelle nach drinnen bugsiert werden.
Kartellboss Taghi wird an diesem Morgen zu lebenslanger Haft verurteilt,
ebenfalls seine vermeintliche rechte Hand Said R. und Mario R., ein
weiterer Angeklagter. Beide wollen dagegen in Berufung gehen. Die anderen
müssen für knapp zwei bis gut 29 Jahre ins Gefängnis, zehn Jahre der
Kronzeuge Nabil B. „Ein wichtiger Moment“, postet Justizministerin Dilan
Yeşilgöz auf X. „Das organisierte Verbrechen ist in den letzten Jahren zu
einer immer größeren Bedrohung für die Sicherheit von uns allen geworden.“
## Kalkulierter Schockeffekt
Details und Ausmaße davon werden einen Tag später auf der Zielgeraden des
De-Vries-Verfahrens deutlich. Die Staatsanwaltschaft erklärt noch einmal,
warum sie erstmals einen Mord im Kontext des organisierten Verbrechens als
terroristische Tat sieht. „Es war die Absicht, der Bevölkerung große Angst
einzujagen.“ Davon zeugten nicht nur der öffentliche Tatort, sondern auch
die beiden Männer, die den niedergeschossenen Journalisten filmten und die
Aufnahmen auf Social-Media-Kanälen verbreiteten.
Zweifellos hatte der Mord an De Vries – eine Mischung aus hard-boiled
detective mit Celebrity-Faktor und Anwalt, der sich unerbittlich für
Menschen einsetzt – einen massiven Schockeffekt auf diese Gesellschaft.
Ähnlich war es nach dem Mord an Anwalt Derk Wiersum, als dessen Amtskollege
Willem Jan Ausma beschloss, keine Kronzeugenfälle mehr anzunehmen, weil er
„das Leben schöner als meinen Beruf“ fand – oder im Herbst 2022, als
Berichte über eine drohende Entführung von Premier Rutte oder
Kronprinzessin Amalia durch die Mafia die Runde machten.
Das Image des „Narco-Staats“ Niederlande hatte sich damals längst
verbreitet. Auf den Punkt brachte es 2021 ein Spiegel-Titelbild, das in
seiner stereotypen Verkürzung ikonisch wurde: Frau Antje mit Kleidertracht
und Joint im Mundwinkel, in der rechten Hand eine Kalaschnikow, in der
linken einen Gouda mit versteckten Kokainsäckchen. „Wie die Niederlande mit
naiver Drogenpolitik die Mafia groß machten“ hieß die zugehörige
Titelstory.
Nicht zum ersten Mal wurde damit das Image einer Gesellschaft
dekonstruiert, die vor nicht allzu langer Zeit noch als Vorbild von
Offenheit und Liberalismus galt. Seit dem ausgehenden 20. Jahrhundert waren
die Niederlande nicht nur Motor einer progressiven Soft-drugs-Politik,
sondern wurden auch als Beweis dafür gesehen, dass es möglich ist,
Cannabiserwerb und -konsum vom kriminellen Milieu zu trennen. Das „High
sein, frei sein“-Image Amsterdams lief der Stadt überall voraus, der
Coffeeshop war lange eine weltweit bewunderte Errungenschaft.
## Liberale Drogenpolitik
Der Geburtsfehler der 1976 eingeführten Duldungspolitik – Cannabis war
demnach nie legal, sondern lediglich der Verkauf und Kauf geringer Mengen
sowie der Konsum von der Strafverfolgung ausgenommen – war die sogenannte
illegale Hintertür der Coffeeshops. Deren Einkauf blieb genauso verboten
wie die Produktion. Der so geschaffene illegale Markt hatte umso enormere
Gewinnmargen, je populärer das Modell unter Besucher*innen aus der
ganzen Welt wurde. Der spätere Kokainboss Taghi stieg in den 1990ern ins
Haschischgeschäft ein.
Inzwischen hat sich der Markt diversifiziert, und die Niederlande sind ein
wichtiger Standort für die Produktion synthetischer Drogen geworden. 105
Labore wurden 2022 ausgehoben, vor allem die Crystal-Meth-Produktion
steigt, Zahlen für 2023 liegen noch nicht vor. In der Regel spielt sich
dieser Prozess in dünn besiedelten, peripheren Gebieten ab. Ende Januar
jedoch ereignete sich eine Explosion in einer Garage unter einem
Rotterdamer Wohnhaus, bei der es drei Todesopfer gab. Offenbar war hier ein
Labor für chemische Drogen untergebracht.
Die entsetzten Reaktionen ähneln denjenigen nach den Morden an Wiersum und
De Vries. Einmal mehr wird deutlich, wie weit sich die Strukturen des
klandestinen Markts von den vermeintlichen Rändern bis in die Mitte der
Gesellschaft ausgedehnt haben. Eigentlich können die
Niederländer*innen dies auch täglich in den Nachrichten sehen, oder,
je nach Wohnort, hören: seit Monaten nimmt die Zahl der nächtlichen
Explosionen an Wohnungsfassaden zu. 378 waren es offiziell 2023, die
meisten in Rotterdam, gefolgt von Amsterdam.
Die Hintergründe sind unklar, angenommen werden milieuinterne Abrechnungen
und Einschüchterungen, die freilich ganze Nachbarschaften in Gefahr
bringen. Bislang ist es bei Sachschaden geblieben. Kurz bevor im Bunker die
letzte Sitzung im De-Vries-Prozess beginnt, meldet der lokale Sender AT5,
dass es in der Nacht in Amsterdam vier Explosionen gab. Drei sollen in
Verbindung mit einem am Wochenende erschossenen Rapper stehen, an zwei
Tatorten fand man das Wort „war“ auf eine Mauer gesprüht.
Femke Halsema, Amsterdams Bürgermeisterin, schlägt angesichts dieser
Zustände Alarm. Zu Jahresbeginn publizierte sie einen Essay im Guardian,
der international viel Beachtung fand. „Wir sind stolz auf unsere
gesundheitsorientierte Drogenpolitik, aber der globale Anstieg illegalen
Drogenhandels bedeutet, dass wir internationale Lösungen brauchen“, schrieb
Halsema. Ohne einen anderen Ansatz seien die Niederlande auf dem Weg zum
Narkostaat.
Wenige Wochen später empfing sie bei einer Konferenz aktuelle und ehemalige
Kolleg*innen, unter anderem aus Bogotá und Kapstadt. Sie diskutieren über
eine Regulierung – „keine Legalisierung!“ – von Drogen wie Kokain oder
Ecstasy, um die Auswirkungen des illegalen Markts zu bekämpfen. Der War on
drugs, so Halsema, sei eine Sackgasse und löse das Problem nicht, sondern
verschwende öffentliche Mittel, während Kriminelle weiter enorme Profite
machten.
Im Bunker am Rand der Stadt bekommen diese Worte ihre eigene Dimension.
Jahrelang dröhnten hier an Sitzungstagen Polizeihubschrauber, gepanzerte
Fahrzeuge fuhren vor und wieder weg, die Sicherheitsoperationen, an denen
sich zeitweise auch die Armee beteiligte, waren die größten in der
niederländischen Justizgeschichte. Im Juni werden, diese Schlüsse lässt die
Beweislage zu, auch die Verdächtigen im De-Vries-Prozess zu langen
Haftstrafen verurteilt. Das Berufsbild des Mordmaklers gehört damit noch
nicht der Vergangenheit an.
7 Mar 2024
## LINKS
DIR [1] /Mord-an-Journalist-Peter-de-Vries/!5987908
DIR [2] /Anschlag-auf-Journalisten-in-Amsterdam/!5780734
DIR [3] /Rauschmittel-Abfaelle-in-den-Niederlanden/!5990413
## AUTOREN
DIR Tobias Müller
## TAGS
DIR Organisierte Kriminalität
DIR Niederlande
DIR Journalismus
DIR Drogenschmuggel
DIR Amsterdam
DIR GNS
DIR Niederlande
DIR Wahlen NIederlande
DIR Europol
DIR Geert Wilders
DIR Drogenhandel
DIR Morde
DIR Niederlande
## ARTIKEL ZUM THEMA
DIR Drogenkartell in Amsterdam: Lange Haftstrafen in Causa de Vries
Vor drei Jahren wurde der Kriminalreporter Peter R. de Vries in Amsterdam
erschossen. Die Spur führte schnell zu einem Drogenkartell.
DIR Regierungsbildung in den Niederlanden: Experiment mit vielen Fragezeichen
Die niederländische Rechtskoalition will die Asylpolitik verschärfen und
neue AKWs bauen. Vage bleiben Ideen für ein „extraparlamentarisches“
Kabinett.
DIR Europol-Bericht zu Bandenkriminalität: 821 Netzwerke bedrohen die EU
Das Europäische Polizeiamt legt erstmals einen Bericht zum Organisierten
Verbrechen vor. Die Kriminalität habe auch Auswirkungen auf das Leben
gewöhnlicher EU-Bürger.
DIR Regierungsmodell für die Niederlande: Geert Wilders geht leer aus
Nach vier Monaten einigt sich eine Rechtskoalition auf ein
Regierungsmodell. Aber ohne den rechtspopulistischen Wahlsieger als
Premier.
DIR Rauschmittel-Abfälle in den Niederlanden: Drogen für den Wald
Die Niederlande sind ein wichtiger Produzent synthetischer Rauschmittel.
Geheime Labore entsorgen ihre chemischen Abfälle regelmäßig in der Natur.
DIR Mord an Journalist Peter de Vries: Prozess im Hochsicherheitsgericht
Der Prozess um den Mord an Peter R. De Vries in Amsterdam stand kurz vorm
Urteilsspruch, dann emigrierte ein Richter. Jetzt wird neu verhandelt.
DIR Ermordeter Peter de Vries: Kampf auf Europas Kokainmarkt
Die Niederlande verabschieden sich am Mittwoch von Crime-Reporter Peter R.
de Vries. Der Fall wirft ein Schlaglicht auf das Land als Narko-Standort.