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       # taz.de -- Album und Tour von Enter Shikari: Schwämme, die alles aufsaugen
       
       > Eine Band wie ein eigenes Genre: Der britische Post-Hardcore-Vierer Enter
       > Shikari veröffentlicht das neue Album „A Kiss for the Whole World“.
       
   IMG Bild: Alles Gute kommt von oben: Enter Shikari
       
       Wer die ersten 40 Sekunden von „Bloodshot“ hört, käme niemals auf die Idee,
       dass sich hinter der britischen Band Enter Shikari, die mit dieser Single
       gerade zu Hause die größten Hallen füllte – und nun hierzulande Tausende zu
       ihren Konzerten locken wird –, eine astreine Rockgruppe verbirgt.
       
       Gesangssamples, die angenehm an die Epoche des Bigbeat-Sounds um die
       Chemical Brothers erinnern, treffen Synthesizerpads, die einem David Guetta
       genauso gut ständen. Nur die grimmige Gitarre, die im Refrain die
       Metal-Powerriffs anstimmt, vermag das Flair der großen Rockgeste zu
       versprühen.
       
       Unsicherheit, was ihre Genrezugehörigkeit anbelangt, kennen die vier
       Musiker der Band nur zu gut. Schuldlos sind sie daran gewiss nicht: Enter
       Shikari klingen schlicht und ergreifend nicht, wie sie eigentlich klingen
       müssten.
       
       Ihre Fans danken es ihnen mit nun mehr als zwei Jahrzehnten Hingabe – und
       einer Prise Witz. Fragt man bei Konzerten oder in Fanforen nach dem Genre
       der Band Enter Shikari, lautet die Antwort: Enter Shikari. Die Band, die
       sich ihr eigenes Genre gebastelt hat?
       
       ## Ein besonderer Schwamm
       
       Rou Reynolds, Komponist und charmanter Sänger, reagiert darob
       geschmeichelt: „Ich schätze diesen zum Meme gewordenen Witz sehr.“ Die
       Vielfalt an Einflüssen, die man raushören könnte, habe sich natürlich
       ergeben, immerhin seien Menschen „wie Schwämme, die alles aufsaugen“.
       
       Reynolds unterschlägt hier willentlich, dass er unter den vielen Schwämmen
       ein besonderes Exemplar ist: Als Siebenjähriger begann er Trompete zu
       spielen, nachdem ihm seine Oma Bigbandjazz nahegebracht hatte; sein Vater
       war Northern-Soul-DJ, der [1][Onkel begeisterte ihn für Dancepop à la
       KLF]; dazu gesellten sich Britpop und später noch der Hardcorepunk der
       lokalen Szene. Das ist fraglos eine „breite Palette an Instrumenten und
       Texturen“.
       
       Diese Vorliebe für je unterschiedliche Musiken, Genres und Szenen brachte
       ihn 1999 mit zwei Mitschülern – Chris Batten und Rob Rolfe – zusammen. Man
       frönte dem Post-Hardcore von US-Bands wie At the Drive-In, am Horizont
       erschienen bereits Screamo, Emo- und Metalcore. Erweitert um den
       Gitarristen Rory Clewlow, nahm Enter Shikari 2003 die jetzige Besetzung an.
       
       Bereits damals unterschied sich der Vierer fundamental vom Sound anderer
       Post-Hardcore-Bands; Genreüberschreitungen sind kein Produkt einer
       Entwicklung, sie waren von Beginn an in das Projekt eingeschrieben: „Unsere
       Musik klingt vielfältiger als die der Bands, mit denen wir über einen Kamm
       geschoren wurden“, erklärt Reynolds heute.
       
       Die delikate Struktur von Songs wie „Today Won’t Go Down in History“, einem
       Cut vom Debütalbum „Take to the Skies“, 2007, samt seinen Synthieeinsätzen
       in der Melodie, „beweist, dass wir immer schon eigenwillig geklungen
       haben“. Die balladeske Nummer stellt gleichwohl eine Ausnahme im Werk der
       vier Künstler aus dem beschaulichen Städtchen St Albans dar. Bekannter sind
       sie für ihre flirrenden, ultradynamischen, bisweilen vertrackten und kaum
       zu bändigenden Songs.
       
       ## Im Umland umschauen
       
       Enter Shikari, benannt nach einem Schiff, das Reynolds Onkel einst besaß,
       wussten früh, dass sie nicht wie die Vorbilder klingen wollen, vielleicht
       auch gar nicht können; ihr Trick: Sie schauten sich in ihrem Umfeld nach
       passenden Einflüssen um. Und diese präsentierten sich in Form von Bass- und
       Breakmusiken aller Art.
       
       Da waren Ragga, Drum’n’Bass, [2][später auch Dubstep,] jedes Genre auf
       eigene Weise typisch für Großbritannien – und mindestens so energiegeladen
       wie Rockmusik, die gleichsam Pate stand. Fortan pflegten Enter Shikari
       einen Hardcoresound, der von Grunts und Growls im Gesang geprägt ist.
       
       Diese herben Vocalismen sind es auch, die im eigentlichen Sinne rocken,
       also zum Pogen einladen. Enter Shikari überlassen Bassflächen jedoch den
       elektronischen Gerätschaften und experimentieren mit trippelnden,
       Hochgeschwindigkeits-Hi-Hats des Jungle. „Rorys Bruder war Drum’n’Bass-DJ.
       Das hat uns stark beeinflusst.“
       
       Musik ist in der Klangwelt der Band immer ein Ergebnis von Amalgamierung –
       zumindest gute Musik! Neben dem Klangspektrum unterscheidet sich Enter
       Shikari noch in einem zentralen Punkt von ihren Kollegen: Kaum eine Band
       ist so politisch wie das Quartett. Haltung erschöpft sich derweil nicht in
       markigen Ansagen – oder einem coldplayhaften Signaling sogenannter
       richtiger Werte.
       
       Es sind direkt alle Bereiche des Bandlebens, von der Bühne bis zum
       Privaten, die durch Aktivismus geprägt sind. Dabei fällt vor allem die
       textliche Komponente auf, da Rou Reynolds sein Songwriting dem Aktivismus
       unterwirft, was in Themen wie Klimawandel, Tierrechten und
       gesellschaftlicher Benachteiligung mündet:
       
       Niemand schreibt heutzutage Songtexte wie Reynolds. Gleichwohl lesen sie
       sich nicht wie solche von Hannes Wader, sie kommen
       individual-mythologischen Ansätzen nah. Die Textwelten von Enter Shikari
       sind bevölkert von Oktopussen, vom Polarforscher Ernest Shackleton oder von
       Figuren, die unter der Last der Gegenwart zusammenbrechen.
       
       Bei so viel Haltung, verwundert es, dass Enter Shikari mit dem aktuellen
       Album „A Kiss for the Whole World“ erst jetzt ihren ersten
       Nummer-1-Chartserfolg zu Hause einfahren konnte. Das Eigenartige der
       Band macht sie zwar nicht leicht verdaulich, lässt sie dafür sehr gut
       altern.
       
       22 Feb 2024
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Lars Fleischmann
       
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