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       # taz.de -- Geplantes Sterben: „Ach, ich lebe so gern“
       
       > Wie plant man sein Sterben? Die 94-jährige Ursula Schütt konsultiert dazu
       > regelmäßig ihren Arzt. In Workshops kann man die Art von Beratung lernen.
       
   IMG Bild: Rolle des Lebens: Eine Schauspielerin verkörpert eine Patientin, die sich mit lebensverlängernden Maßnahmen auseinandersetzen soll
       
       Ursula Schütt ist eine sehr wache, charmante alte Dame. Die 94 Jahre will
       man ihr kaum abnehmen, Anfang 80 wäre auch glaubhaft. Die Frau mit dem
       lässigen schneeweißen Kurzhaarschnitt spricht dezidiert, klar, lebenslustig
       frisch und hat auch nichts gegen ihren Namen in der Zeitung. Heute ist ihr
       Hausarzt Jürgen in der Schmitten, 57, zu Besuch in ihrem kleinen Zimmer im
       Pflegeheim Johanniter-Stift in Meerbusch-Büderich bei Düsseldorf.
       
       Anliegen des Arztes: Möglichst genau herauszubekommen, welche medizinische
       Behandlung die Patientin Schütt im Fall einer ernsthaften Krankheit noch
       will, etwa nach schwerem Schlaganfall, bei Koma womöglich.
       
       Und, ob sich ihre Meinung seit dem letzten Gespräch vor zwei Jahren
       geändert hat: Lebensverlängerung um jeden Preis? Mit vollem
       Apparateeinsatz? In der Schmitten will mit dem anstehenden Gespräch eine
       Hilfestellung geben, die weit über die bürokratischen Formulare einer
       Patientenverfügung hinausgehen.
       
       Die Fragen und Nachfragen sind Teil von ACP, Advance Care Planning,
       deutsch: eine Behandlung im Voraus planen. Das Konzept will ermitteln
       helfen, die Wünsche und Bedürfnisse der Patienten genauer zu erkennen. Was
       will er wirklich? Was lehnt sie ab? Es ist der Versuch, so etwas wie den
       vorletzten Willen zu ermitteln.
       
       ## Die Sicht aufs Leben ändert sich
       
       Und das konkreter als bei einer schablonenhaften Patientenverfügung: einen
       Vordruck ankreuzen, unterschreiben, weglegen, fertig, das reiche nicht,
       sagt in der Schmitten. „Eine Patientenverfügung ist nicht wie ein
       Testament, das man einmal verfasst, sondern der immer wieder zu
       aktualisierende Ausdruck eines über viele Jahre fortgesetzten
       qualifizierten Gesprächsprozesses.“ Die Sicht ändere sich oft, sagt in der
       Schmitten. „Man muss die Menschen einfühlsam befähigen, autonom zu
       entscheiden.“
       
       Einfach abfragen kann man Einstellungen zu so einem hochsensiblen Thema wie
       dem eigenen Sterbeprozess nämlich nicht, das wissen alle gewissenhaften
       Verantwortlichen im Gesundheitswesen. Dafür sind die Menschen zu
       verschieden, die Szenarien zu komplex, schwierig vorherzusehen und
       vorherzufühlen.
       
       Schon gar nicht auf Dauer, denn Krankheitssituation und Lebenslust können
       sich gerade im Alter schnell ändern. „Es geht immer um Angst. Vor dem Tod.
       Vor einer Entscheidung. Und vor Fehlern“, hatte in der Schmitten vor dem
       Termin mit Schütt erklärt. Und prophezeit: „Frau Schütt wird sagen: Ich
       lebe gern.“
       
       „Ach, ich lebe gern“, sagt Ursula Schütt dann auch gleich mit strahlendem
       Lächeln, „eigentlich geht es mir gut. Ich weine auch nicht mehr.“ Wie
       wichtig es ihr sei, möglichst lange zu leben, fragt in der Schmitten nach.
       „Ach, nicht nur morgen und übermorgen“, sagt Schütt, „ein Jahr bestimmt
       noch oder zwei, das wäre schön.“ Was ihr besondere Freude mache? „Das Essen
       hier ist gut. So viele kleine Erlebnisse. Die Spaziergänge. Aber ich habe
       keine Freunde mehr. Alle sind ja gestorben. Auch neulich die letzte
       Nachbarin aus Düsseldorf.“
       
       ## Wo liegen die Restlebenswünsche?
       
       Und schon sind wir mitten in der Ambivalenz. Der Arzt versucht sich
       stückweise vorzuarbeiten, was Schütt will und was nicht, wo ihre Ängste
       liegen, ihre Restlebenswünsche. „Wenn ich Ihnen sage, morgen früh werden
       Sie nicht mehr wach, Frau Schütt.“ Wie das wäre? „Ein schöner Tod, das wäre
       doch gut. Aber ich lebe so gerne.“
       
       Was tun bei einem Unfall, „wenn Sie künstlich beatmet werden müssen, Frau
       Schütt? Notarzt, Intensivstation, sollen wir dann weitermachen oder Sie
       palliativ mit Medikamenten auf dem letzten Weg begleiten …?“
       
       Jürgen in der Schmitten arbeitet außer in seiner Hausarztpraxis in
       Meerbusch als Professor an der Ruhruniversität Duisburg-Essen als Direktor
       des Instituts für Allgemeinmedizin mit dem Forschungsschwerpunkt
       „patientenzentrierte Versorgungsforschung“.
       
       Gemeinsam mit der Kollegin Kornelia Götze von der Uni Düsseldorf und
       einigen anderen hat er, auf Grundlage des Hospiz- und Palliativgesetzes von
       2015, ACP in Deutschland aufgebaut und weiterentwickelt. Das Vorbild kommt
       aus den USA: „1993, ich war noch im Studium, wurde dort in der Medizinethik
       über Ongoing Conversation gesprochen“, sagt in der Schmitten.
       
       ## Gesprächsübung mit Schauspielern
       
       Fortgesetztes Reden also, eine ergebnisoffene Klärung: „Das hieß dann bald
       ACP. Der Königsweg ist es, Eltern und Kinder miteinander ins Gespräch zu
       bringen.“ Das können Eltern mit schwer kranken Kindern sein oder Erwachsene
       und ihre alt gewordenen Eltern.
       
       Für PatientInnenen (oder solche, die es werden könnten) ist ACP ein
       freiwilliges Gesprächsangebot. GesprächsbegleiterInnen aus dem
       Gesundheitswesen erhalten nach Abschluss einer mehrtägigen
       Fortbildungsmaßnahme ein Zertifikat als qualifizierteR BeraterIn nach
       Paragraf 132 Sozialgesetzbuch. Prüfinstanz sind die Krankenkassen.
       
       Szenenwechsel. In den Räumen der Diakonie Ruhr in Bochum werden
       ACP-Gesprächsbegleiter ausgebildet, auf ungewöhnliche Art. Das Setting:
       Drei Gruppenräume, darin je ein ausgebildeter ACP-Trainer als beobachtender
       Lehrer und je ein semiprofessioneller Schauspieler, der oder die eine
       Patientin oder einen Angehörigen spielen.
       
       Dazu die Hauptpersonen: jeweils vier Lernende, quasi die SchülerInnen. Sie
       sollen einmal in ihren Einrichtungen Gesprächsbegleiter werden: Einige
       Pflegedienstleiterinnen sind dabei, eine Angestellte im AWO-Seniorenbüro,
       eine Hausärztin, einer arbeitet bei der Lebenshilfe; Alter querbeet. Vier
       Szenarien werden im Laufe des Tages zu je anderthalb Stunden durchgespielt.
       
       Im ersten der vier Rollenspiele geht es um eine schwer demente Frau im
       Pflegeheim. „Jaaa, sie ist sehr unbeschwert. Und sie weiß immer noch, was
       sie essen will“, sagt bestimmt ihr emsiger und überaus fürsorglicher
       Ehemann Herr Schott, 87, gespielt von Paul Pape-Senner, 70. „Und sie singt
       auch noch so gern. Immer mittwochs. Komisch ist nur, dass sie immer weiß,
       wann Mittwoch ist …“
       
       Rätsel Demenz: Was empfindet, versteht, wünscht sich ein Mensch im
       fortschreitenden Dämmern und Vergessen? Und was will er oder sie, wenn es
       um die letzte Pflegephase geht, um vielleicht große medizinische Eingriffe?
       Laut aktuellen Erhebungen haben selbst unter HeimbewohnerInnen in
       Deutschland nur 40 Prozent zumindest eine herkömmliche Patientenverfügung.
       
       „Nein, eine Patientenverfügung gibt es nicht“, sagt der Ehemann-Mime
       Schott, „ich war immer ihr Anker, sie braucht mich doch.“ Und er braucht
       wohl auch sie: Offenbar will er alles für sie tun, möglichst lang, weil er
       nicht loslassen will, also auch lebensverlängernde Maßnahmen wünscht.
       
       Trainerin Annika greift ein: „Versucht mal mehr auf Zwischentöne zu hören.“
       Ehemann Schott: „Sie ist schon sehr auf mich fixiert.“ – „Aber was würde
       sie wohl sagen?“ Etwa bei dauerhafter Bettlägrigkeit? „Das wird sie nicht
       haben wollen. Vielleicht ist ihre schwere Demenz auch ein Segen, da hat man
       keine Sorgen mehr …“
       
       ## Ein wohliger Hauch von Gestern
       
       Herr Schott erzählt dann, dass die beste Freundin seiner Frau einmal einen
       schweren Radunfall hatte, Folge: Intensivstation, Schläuche, Maschinen.
       „Das wollte meine Frau nie erleben, das musste ich ihr versprechen.“ Er
       bleibt unentschlossen: „Ich will ja nicht, dass sie leidet. Ich will auch
       nichts Falsches entscheiden.“ Er ist verzweifelt, wischt sich die Augen.
       Gut, sagt er dann, Krankenhaus ja, natürlich, sagt er, aber nicht
       Intensivstation, „und keine Schläuche!“
       
       Eine Frau aus der Runde sagt nachher: „Ich habe mich ständig aufs Glatteis
       geführt gefühlt mit meinen Fragen, immer unsicher.“ Die anderen
       widersprechen: „Du warst sehr authentisch.“ Und Paul Pape-Senner: „Ich fand
       die Fragen sehr einladend, sorgfältig und nachdenklich. Ihr seid doch etwas
       weitergekommen.“
       
       Die Seminarräume in der Bochumer Diakonie sind evangelisch nüchtern, außer
       Raum 3, der heißt „Gute Stube“: An den Wänden hängen ein paar ältliche
       Relikte aus der Nachkriegszeit, Bilder und ein rot-gold gemusterter
       Teppich, davor Kommode, ausladender Holzschrank, eine verschnörkelte
       Standuhr –, halt ein wenig Gelsenkirchener Barock in den Bochumer Ecken. Um
       den Alten aus dem Pflegebereich im Nebenhaus einen wohligen Hauch Gestern
       vorzuspielen. Schräg strahlt die Wintersonne durch die Fensterfront.
       
       Hier gibt Schauspielerin Brigitte Keldenich-Bergstein, 71, eine fiktive
       Frau Hamberger, gesetzliche Betreuerin ihres Ex-Ehemannes, von dem sie seit
       vielen Jahren glücklich getrennt ist. Danach vegetierte er erst schwer
       alkoholabhängig in seiner Messiewohnung und lebt jetzt nach mehreren
       Schlaganfällen unansprechbar als krankes Wrack in einer Pflegeeinrichtung.
       „Man hat mich damals gefragt, ob ich das Kümmern nicht übernehmen will. Wir
       hatten ja ein schönes Leben, als wir jung waren. Und er hat ja sonst
       niemanden …“
       
       Ihre Rolle: bedrückt, unsicher. „Wie geht es Ihnen mit der Verantwortung?“,
       fragt eine Teilnehmerin. Hamberger stockt, ist offenbar von schlechtem
       Gewissen gepeinigt und sucht merklich nach einem Ausweg aus dem Gespräch.
       Kurzes Schweigen. Die Trainerin ermuntert die vier werdenden
       ACP-GesprächsbegleiterInnen: „Nur zu, als Gesprächsbegleiter hat man auch
       Verantwortung.“
       
       Was tun im Notfall, ist hier die entscheidende Frage im Hintergrund. „Wenn
       wir nichts machen“, sagt Frau Hamberger, „dann stirbt er und ich hab den
       umgebracht.“ Sie scheint überfordert. Was er wohl antworten würde, fragt
       eine. „Macht doch, was ihr wollt, wird er sagen“, kommt jetzt sehr
       bestimmt, „und am liebsten hinterher: Ich will aber erst noch ein Bier.“
       
       Da müssen alle lachen. So ernst das Thema Tod sein mag, einmal habe eine
       alte Dame, erzählt einer, auf die Frage nach Wiederbelebung gesagt: „Nein
       danke, ich will nicht zweimal sterben müssen.“
       
       Nachher sind alle etwas unzufrieden. „Ich bin richtig erschöpft“, sagt eine
       Kursteilnehmerin, „das war eine Gratwanderung“. Sie sei sich so unsicher
       gewesen zwischen dem Gefühl, aktiv Fragen anbieten zu müssen – und
       gleichzeitig sei da die Angst gewesen, Frau Hamberger zu beeinflussen. Die
       Trainerin: „Ihr hättet auch fragen können: Lebt der Mann denn wohl noch
       gerne? Indizien suchen.“ Oder offensiv fragen, ob Herr Hamberger den Tod
       „vielleicht als Erlösung empfinden würde“.
       
       ## Hochzeit mit 80
       
       Ursula Schütt, die wache 94-Jährige im Meerbuscher Pflegeheim, erzählt bei
       dem Besuch von in der Schmitten die Geschichte, wie sie nach zwei
       missglückten Ehen mit Ende 70 eine Zeitungsanzeige „in so einem Käseblatt“
       aufgegeben hatte: Mann gesucht.
       
       Es meldete sich Harry, ein Volltreffer. „An meinem 80. Geburtstag haben wir
       geheiratet.“ Spätes Glück: „Wenn Harry mir bei einer Erkältung die Hand
       hielt, war ich schon fast geheilt“, strahlt Schütt. Harry wurde indes
       dement und starb vor fünf Jahren. „Es waren wundervolle zehn Jahre. Und
       jetzt reden wir übers Sterben“, seufzt sie.
       
       Jürgen in der Schmitten lenkt das Gespräch auf Notfallsituationen:
       Plötzlicher Herzstillstand, ob Ursula Schütt in dem Fall eine
       Wiederbelebung wolle? „Als Arzt muss ich Ihnen dazu sagen, dass Sie mit
       ihrer Herzschwäche bei Reanimation als 94-Jährige weniger als zehn Prozent
       Chance haben, dass alles wieder so wird wie vorher.“ Schütt sagt: „Nein,
       wofür dann?!“ Es klingt energisch. „Das lohnt doch nicht. Mein Mann lebt ja
       auch nicht mehr. An seinem Grab hab ich gesagt: Harry, hol mich.“
       
       Der Arzt geht einen Schritt zurück: „Und wenn ihre Lungen nicht mehr
       richtig mitmachen, Frau Schütt, würden Sie Beatmung mit Unterstützung
       wollen, also mit Maske?“ – „Ich will alles ohne Schmerzen. Aber nicht
       Krankenhaus, Intensivstation …“
       
       Manöverkritik im Bochumer Seminarraum. Immer wieder ist von „irrer
       Verantwortung“ die Rede, von „tricky Situationen, nicht in eine
       naheliegende, einfache Lösung zu laufen“. Man müsse, sagt einer, so was wie
       „Geburtshilfe leisten bis zu einer Entscheidung“.
       
       An einer Pinnwand haben die Kursteilnehmenden niedergeschrieben, was
       Entscheidungen beeinflussen könnte: Viel ist von Ängsten und Unsicherheit
       die Rede, bei Angehörigen von drohenden „eigenen Interessen (Erbe)“. Oder:
       „Persönliche Werte können im Weg stehen.“
       
       Danach stehen weitere Rollenspiele an. Die Fälle sind übrigens, bis auf
       Nuancen, alle authentisch irgendwo mal so vorgekommen. Allmählich wird
       klar, dass die Rollenspiele nicht auf eine endgültige Lösung zusteuern
       müssen.
       
       Die SchauspielerInnen reagieren wie beim Improtheater auf möglichst
       zielgenaue Fragen, Vorgaben, Hinweise, um sich ihrer Rolle entsprechend zu
       äußern. Lernziel der angehenden Gesprächsbegleiter ist es, weitestmöglich
       in die oft widersprüchlichen, manchmal angstbesetzten Seelentiefen
       vorzudringen.
       
       Im nächsten Fall geht es um „Gretel“. Die ist seit Geburt geistig
       behindert, heute 78. Ihr früherer Nachbar, der „Herr Schmitz“ genannt wird
       und sehr selbstbewusst und großmäulig auftritt, hat seit dem Tod von
       Gretels Mutter vor 25 Jahren eine Vollmacht. „Gretel arbeitet doch mit
       solcher Hingabe in der Küche ihrer Einrichtung. Sie fühlt sich da
       unentbehrlich.“
       
       Die sensibel nachbohrenden ACP-SchülerInnen bekommen bald heraus: Er hat
       offenbar mehr Angst vor ihrem Tod als Gretel selbst. „Bei
       Wiederbelebungsmaßnahmen würde sie wahrscheinlich noch in der Ohnmacht
       Panik kriegen.“
       
       Der verantwortungsbewusste Herr Schmitz erklärt beiläufig, er wolle alles
       auch deshalb schriftlich genau fixieren, damit niemand vom Amt
       hereinpfuschen könne, falls er, Schmitz, vor Gretel stirbt. Über die
       „gesetzlichen Vertreter von Amts wegen“ hatte sich schon in der
       Mittagspause eine kleine Debatte entzündet. Die springen ein, wenn es keine
       Vertretungsvollmacht und keinen klaren Willen gibt.
       
       Viele haben mit AmtsvertreterInnen offenbar wenig gute Erfahrungen gemacht.
       Eine Frau widerspricht: „Ich habe da aber auch schon sehr engagierte Leute
       erlebt.“ Nachsatz: „Aber die sind sehr selten.“
       
       ## Lügt sie sich was in die Tasche?
       
       Patientenschauspielerin Eva Senner, 68, gibt zum Finale „Frau Groß“, die
       für sich einen Beratungstermin erbeten hatte. Lebendig und abgeklärt
       erzählt Groß von ihrem Leben als Tänzerin und jetzt Fotografin, wie gerne
       sie lebe und reise. Angst vor dem Sterben? „Och nein. Ist doch spannend zu
       sehen, was da kommt.“ Lebensverlängernde Maßnahmen im Notfall? „Gar
       nichts.“ Aber zumindest Antibiotika bei schwerer Lungenentzündung? „Nee,
       ich hatte doch ein schönes Leben.“ Ihr Motto: Wenn es so weit sei, dann sei
       es so.
       
       Schnell haben alle in der Runde das Gefühl, diese lebenslustige Frau lügt
       sich was in die Tasche. Und haken nach. „Früher“, stockt Groß, „wäre das
       anders gewesen, da lebte Leonie noch, meine Frau …, vielleicht treffe ich
       sie ja wieder.“
       
       Sie druckst. „Manchmal denke ich, es ist nicht okay zu leben, während
       Leonie … Ich hab ihr damals das Versprechen gegeben, wir werden uns bald
       wiedersehen.“ Ihre Augen werden feucht. Da ist also eine Mischung aus
       schlechtem Gewissen und verbotenem Egoismus. Ob es Leonies Wunsch wäre,
       fragt eine Kursteilnehmerin leise, dass sie so leicht hinterher wolle? Groß
       zögert.
       
       Hier will jemand angeblich keine Hilfe, in Wahrheit ist es umgekehrt –
       anders als in den vorigen Fällen. Zwei Kursteilnehmerinnen fragen jetzt
       sehr konkret nach: Was tun bei einem Herzstillstand, will sie wiederbelebt
       werden? Ja, sagt die ehemalige Tänzerin Groß plötzlich sehr bestimmt.
       
       ## Selbstoptimierung? Der Arzt ist empört
       
       Und bei Koma, wenn sie eine Fifty-fifty-Chance hätte, wieder gesund zu
       werden? „Die nehme ich.“ Eine Viertelchance? Kurzes Zögern. „Doch, auch
       noch.“ Das Herunterrechnen dient dazu, Grenzen festzulegen, wann eine
       Notfallhilfe enden möge. Bei einem Achtel sagte Groß dann auch: „Das wohl
       nicht mehr.“ Kurze Pause, dann: „Ich glaube, das alles wäre auch im
       Einklang mit Leonie.“
       
       Viel Lob gibt es in der Analyse danach, weil die Kursteilnehmerinnen sich
       erfolgreich an Groß’ authentische Wünsche herangerobbt hatten, fast wie der
       Profi in der Schmitten bei Frau Schütt in Meerbusch. In Bochum lobte eine
       Teilnehmerin die andere: „Ich finde, Eva, du hattest so eine
       hochqualifizierte Leichtigkeit in deinen Fragen.“
       
       Vereinzelt gibt es Kritik an ACP, gern gespeist aus der christlichen
       Denktradition. Der Hamburger Theologe Reimer Gronemeyer etwa hält es für
       anmaßend, aus dem Sterben ein „planbares Projekt“ zu machen, in dem „das
       moderne, selbstoptimierte Wesen glaubt, auch den eigenen Tod managen zu
       müssen“.
       
       Jürgen in der Schmitten ist empört über solche Anmaßungen Dritter. Es gehe
       doch um nicht mehr als „die simple Ausübung des Rechts auf
       Selbstbestimmung“ statt des üblichen „Automatismus der Akutmedizin“.
       
       ## Patientenverfügung überfordert
       
       Er wundere sich bis heute, wie manche „davon unberührt bleiben können, dass
       tagtäglich gebrechliche, nicht selten demenzkranke Menschen auf
       Intensivstationen reanimiert und beatmet werden, um häufig dort oder kurze
       Zeit später doch zu sterben. Obwohl wir wissen, dass viele von ihnen das
       nicht mehr wollen würden, wenn wir ihnen Gelegenheit gäben, sich dazu zu
       äußern.“
       
       Auch an den üblichen Patientenverfügungen lässt Jürgen in der Schmitten
       kaum ein gutes Haar. „Ohne qualifizierte Begleitung sind Menschen mit dem
       Erstellen einer Patientenverfügung vollständig überfordert – inhaltlich,
       aber vor allem auch emotional.“
       
       Zudem würden in den herkömmlichen Formularen nur hoch spezielle Fälle wie
       Wachkoma oder das Schluckvergessen bei Demenz geregelt, „andere relevante
       Szenarien werden nicht thematisiert“. Die Vordrucke aus Ministerien,
       Ärztekammern oder Kirchen, so sein Vorwurf, seien „von Anfang an so
       konzipiert worden, dass sie in der klinischen Praxis nicht funktionieren
       sollen. Das ist wie der Hinweis an ein Kind: Du kannst jetzt gern dein
       Handy nutzen, aber erst wenn ich das WLAN abgeschaltet habe.“
       
       Ursula Schütt, die 94-Jährige aus Meerbusch, sagt in der Schmitten, ohne
       ärztlich verschwiegen ins Detail zu gehen, sei natürlich nicht mehr so
       frisch wie sie wirkt, Herz und Lungen seien labil. „Ich habe heute
       wahrgenommen, dass sich ihre Ansichten etwas geändert haben. Unverändert
       sagt sie klar: keine Beatmung, keine Wiederbelebung. Aber vor zwei Jahren
       wollte sie in einer gesundheitlichen Krisensituation auch auf der
       Intensivstation behandelt werden. Diesbezüglich ist sie jetzt ambivalent.“
       
       ## „Da haben alle geheult“
       
       Es bleibe schwierig, sagt in der Schmitten, „eine solche Festlegung valide
       zu ermitteln“. Und das für die Pflegekräfte unmissverständlich in den
       Notfallbogen einzutragen. „ACP bleibt ein lebenslanger Prozess. Aber wir
       haben Glück: Frau Schütt kann sich gut artikulieren und sie lebt
       privilegiert in dieser guten Einrichtung.“
       
       Aber: „Auch weniger gebildete Menschen, mit denen ich spreche, können sich
       häufig klar festlegen – nicht selten klarer als die Studierten.“
       
       Der lange Tag in Bochum hat alle ziemlich mitgenommen. Schauspieler Paul
       Pape-Senner erzählt nach dem Seminar von seiner Gruppe, in der er den
       schwulen Ex-Tänzer Groß gegeben hatte: „Die Rolle hat ein gigantisches
       emotionales Potenzial. Bei mir saßen alle mit Taschentüchern in der Hand
       und haben ausnahmslos geheult, ich auch. Eine Frau hat gesagt: Was mach ich
       da? Ich hab doch noch nie in der Öffentlichkeit geweint!“
       
       28 Feb 2024
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Bernd Müllender
       
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