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       # taz.de -- Debatte um Bezahlkarte für Geflüchtete: Asylrechte eingeschränkt
       
       > Geflüchtete sollen eine Bezahlkarte statt Bargeld bekommen, eine
       > Arbeitspflicht ist im Gespräch. Ist dieses System eine Chance oder nur
       > Schikane?
       
   IMG Bild: Abschreckung? Eine Bezahlkarte, wie Baden-Württemberg sie an Geflüchtete geben will
       
       Bald soll Geflüchteten in Deutschland ein Teil ihres Geldes auf eine
       Bezahlkarte überwiesen, statt bar ausgezahlt werden. Wieso? 
       
       Die [1][Bezahlkarte, auf die sich Bund und Länder geeinigt haben], soll
       verhindern, dass Geflüchtete Sozialleistungen anders verwenden als
       vorgesehen. Insbesondere konservative Politiker*innen argumentieren,
       Geflüchtete schickten ihr Geld oft ins Ausland oder an kriminelle
       Schleuser. Das ist mit der Bezahlkarte nicht mehr möglich, die soll
       Überweisungen prinzipiell ausschließen. Ansonsten soll sie zunächst wie
       eine reguläre Bankkarte funktionieren, man kann also im Supermarkt ganz
       normal damit einkaufen. Wenn Länder und Kommunen sich dafür entscheiden,
       sind aber noch weitere Einschränkungen möglich. Sie können etwa verfügen,
       dass nur in bestimmten Regionen bezahlt werden kann oder in bestimmten
       Branchen nicht eingekauft werden kann, bei Glücksspielanbietern etwa. All
       das bedeutet für die Geflüchteten einen deutlichen Eingriff in ihre
       Privatsphäre und ihre Entscheidungen sowie handfeste Nachteile im Alltag.
       Ohne Überweisung kann man schließlich auch nicht online einkaufen. Und nur
       mit Karte ist es oft schwierig, zum Beispiel in Second-Hand-Geschäften zu
       bezahlen.
       
       Warum will man den Geflüchteten das Leben noch schwerer machen? 
       
       Tatsächlich geht es bei der Karte wohl um mehr, als nur darum, einen
       Geldfluss ins Ausland zu verhindern. Die Äußerungen der
       Befürworter*innen zeigen, dass sie sich zumindest indirekt einen
       Abschreckungseffekt erhoffen. Der hessische Ministerpräsident Boris Rhein
       (CDU) etwa sagte im Februar, die Karte sei nötig, „um Anreize für
       irreguläre Migration zu senken“. Dahinter steckt die Theorie von
       „Pull-Faktoren“. Danach fliehen Menschen nicht nur wegen Krieg, Verfolgung
       und Armut in ihrem Herkunftsort, den sogenannten Push-Faktoren, sondern
       auch, weil bestimmte Gründe sie zu anderen Orten „hinziehen“. Bei
       Pull-Faktoren soll es sich etwa um bessere Lebensbedingungen handeln, oder
       eben um Geld und die Chance, davon einen Teil zurück zu Angehörigen im
       Herkunftsland überweisen zu können.
       
       Lässt sich das „Pull-Faktor“-Argument entkräften? 
       
       Es ist fraglich, ob „Pull-Faktoren“ so wirken, wie das behauptet wird –
       oder ob sie überhaupt existieren. In der Wissenschaft spielt die Theorie
       jedenfalls keine Rolle mehr. Der [2][wissenschaftliche Dienst des
       Bundestags kam 2020 zu dem Fazit, die These sei grob vereinfachend],
       „mittlerweile vielfach empirisch widerlegt“ und „nicht dazu in der Lage,
       die wechselhafte Dynamik des Migrationsgeschehens zu verstehen“.
       
       Wie sehen Menschenrechtsorganisationen die Karte? 
       
       Die sind entsetzt und fürchten, dass sich die Lebensbedingungen der
       Geflüchteten weiter verschlechtern. [3][Tareq Alaows von Pro Asyl] sagt:
       „Die Kommunen erhalten große Freiheiten, Menschen zu diskriminieren.“ Auch
       die Arbeiterwohlfahrt und der Paritätische warnen in einem offenen Brief,
       die Einführung werde „Armut vergrößern und Teilhabe verhindern.“ Der Rat
       für Migration nennt die Behauptung, Geflüchtete würden substanzielle Summen
       ins Ausland überweisen, „spekulativ, wissenschaftlich unhaltbar und
       integrationspolitisch kontraproduktiv“. Diese Aussage unterstützen auch die
       Zahlen. Zum einen bekommen Asylbewerber*innen nur 370 bis 470 Euro im
       Monat, die oft vor Ort benötigt werden. Zum andern zeigen die wenigen
       [4][Statistiken, die es zu Auslandsüberweisungen gibt], dass es um geringe
       Beträge geht. Nur 12 Prozent aller Rücküberweisungen gehen derzeit in
       sogenannte Asylherkunftsländer, aus denen viele Geflüchtete stammen, etwa
       Syrien oder Irak. Davon dürfte noch ein deutlicher Anteil auf reguläre
       Arbeitsmigrant*innen entfallen. Außerdem gibt es noch die Befürchtung
       eines „Spill-Overs“: Viele fürchten, dass das Bezahlkartenmodell bald auch
       auf andere Gruppen ausgeweitet werden könnte. Der CDU-Bundestagsabgeordnete
       [5][Maximilian Mörseburg] stellte etwa öffentlich Überlegungen an, auch das
       Bürgergeld künftig nur noch auf Karten zu überweisen. Damit könnte am Ende
       ein Kontrollinstrument entstehen, das sich gegen verschiedene Gruppen armer
       und verletzlicher Menschen richtet.
       
       Könnte die Bezahlkarte nicht auch den Verwaltungsaufwand im Asylsystem
       senken? 
       
       Ein [6][Pilotprojekt in Hannover zeigt, dass die Karte auch eine Chance
       sein könnte]. Das dortige Modell entspricht einer regulären Bankkarte mit
       Konto, Einschränkungen gibt es nicht. Für Geflüchtete, die bisher kein
       Konto hatten, ist das eine Verbesserung. Laut Oberbürgermeister Belit Onay
       (Grüne) senke das tatsächlich auch den Verwaltungsaufwand. Aber große
       Hoffnungen, dass die Karte flächendeckend in dieser Form eingeführt wird,
       sollte man sich nicht machen. Die Äußerungen aus den unionsgeführten
       Ländern zeigen, dass sie die Karte zumindest implizit als Werkzeug sehen,
       um Geflüchtete zu drangsalieren.
       
       Hat die Ampel nicht mal eine humanere Migrationspolitik versprochen? 
       
       Davon ist nicht viel übrig. Die SPD hat spätestens 2023 viele ihrer
       progressiveren Grundsätze über Bord geworfen. Der FDP war Asylpolitik noch
       nie besonders wichtig, und die Grünen protestieren zwar regelmäßig gegen
       neue Verschärfungen, knicken dann aber doch ein. So lief es auch bei der
       Bezahlkarte: Dass die kommen soll, hatten die Länder schon im Januar
       beschlossen, sie forderten seitdem aber auch, diese Verschärfung im
       Asylbewerberleistungsgesetz festzuhalten, um eine einheitliche Umsetzung zu
       garantieren. Die Grünen sperrten sich erst in der Bundesregierung, gaben am
       1. März aber doch nach.
       
       Was ist mit der Arbeitspflicht, die jetzt diskutiert wird? 
       
       Lokal ist es schon jetzt möglich, Asylbewerber*innen zu gemeinnütziger
       Arbeit zu verpflichten. Der Landrat im Saale-Orla-Kreis, Christian Herrgott
       (CDU), [7][ist diesen Schritt gegangen] und wurde viel dafür kritisiert,
       dass die Geflüchteten dort nun für 80 Cent die Stunde schuften. Eine
       Arbeitspflicht für sozialversicherungspflichtige Jobs mit normalem Lohn ist
       bisher rechtlich nicht möglich. Dafür fordern jetzt Unions-Politiker*innen
       eine Gesetzesänderung.
       
       Ist es nicht richtig, Geflüchtete in Jobs zu bringen? 
       
       Arbeit ist wichtig, um sich in einer neuen Gesellschaft einzufinden.
       Deshalb hat die Bundesregierung zuletzt einen „Jobturbo“ angekündigt, um
       mehr Geflüchteten zu Jobs zu verhelfen, etwa mithilfe einer engeren
       Betreuung durch die Agentur für Arbeit. Ob erzwungene Arbeit für mehr
       Integration sorgt, ist aber fraglich. Der Vorsitzende des
       Sachverständigenrats Integration und Migration, Hans Vorländer, sagt: „Die
       Arbeitsgelegenheiten werden wohl kaum den etwaigen Qualifikationen und auch
       Interessen der Betroffenen entsprechen.“ Zudem scheint es bei den
       Forderungen nach einer Arbeitspflicht oft weniger um das Wohl der
       Geflüchteten zu gehen, als um die Haltung, dass es einer Art Gegenleistung
       bedürfe, um Schutz zu erhalten. Dabei ist der Gedanke des Asylrechts ja
       gerade nicht, dass Geflüchtete nur kommen dürfen, wenn sie der deutschen
       Gesellschaft einen Nutzen bringen. Stattdessen soll Hilfe erhalten, wer sie
       benötigt. Diese Idee ist auch direkte Lehre aus den 1930er Jahren, als
       Jüd*innen, die aus Nazideutschland flohen, in vielen Ländern abgewiesen
       wurden.
       
       Wie kann man den freiwilligen Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtern? 
       
       Ein Schritt wäre, die Arbeitsverbote zu kippen, die derzeit gelten. Viele
       Geflüchtete würden gern arbeiten, dürfen aber nicht, auch wenn die Ampel
       einige Regelungen zuletzt gelockert hat. Nach wie vor gilt aber ein
       Arbeitsverbot in den ersten drei Monaten nach Ankunft. Wer in einer
       Geflüchtetenunterkunft lebt, darf sogar erst nach sechs oder neun Monaten
       arbeiten. Und auch danach gibt es noch Einschränkungen für bestimmte
       Gruppen. Da scheint es absurd, über Arbeitspflicht zu diskutieren. Tareq
       Alaows von Pro Asyl nennt die Debatte „menschenverachtend und rassistisch“.
       Es werde suggeriert, Geflüchtete seien arbeitsunwillig, dabei verbauen die
       aktuellen Regelungen vielen systematisch den Zugang zu Jobs.
       
       7 Mar 2024
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Leistungen-fuer-Gefluechtete/!5990547
   DIR [2] https://www.bundestag.de/resource/blob/799860/b555457732e3ec012177cdf4357110a0/WD-1-027-20-pdf-data.pdf
   DIR [3] /Ex-Gruener-zum-Austritt-wegen-Asylpolitik/!5981460
   DIR [4] https://www.bundesbank.de/de/statistiken/aussenwirtschaft/zahlungsbilanz/zahlungsbilanz-772298
   DIR [5] https://www.focus.de/politik/deutschland/vor-allem-fuer-totalverweigerer-cdu-abgeordneter-buergergeld-bezieher-sollen-bezahlkarte-bekommen_id_259712479.html
   DIR [6] /Bezahlkarten-fuer-Gefluechtete/!5950500
   DIR [7] /80-Cent-Jobs-fuer-Gefluechtete/!5995370
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Frederik Eikmanns
       
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