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       # taz.de -- Pilotprojekt in der U8: Sauber mit dreckigen Mitteln
       
       > Die Kampagne der BVG für mehr Sicherheit auf der U8 sorgt vor allem für
       > mehr Chaos bei der Straßensozialarbeit.
       
   IMG Bild: Sicher und sauber, vielleicht – aber was ist mit sozial?
       
       Berlin taz | Zwei Sicherheitsleute zotteln den Bahnsteig hinunter. Am Ende
       angekommen, wenden sie und gehen auf der anderen Seite zurück, der
       begleitende Schäferhund und sein Maulkorb immer einen Schritt voraus. Als
       wäre der Bahnsteig ein riesiges Schwimmbad, ziehen sie hier den ganzen Tag
       lang ihre Bahnen. Statt Chlorgeruch und Hallenbad-Echos gibt es freilich
       abgestandenen Rauch und rauschende U-Bahnen.
       
       Der U-Bahnhof Schönleinstraße – halb Neukölln, halb Kreuzberg und sonst als
       Drogenumschlagplatz bekannt – ist verdächtig sauber und ruhig. Seit Mitte
       Februar läuft ein Pilotprojekt der BVG, [1][das für mehr Sicherheit und
       Sauberkeit auf der U8 sorgen sollen.]
       
       Drei Monate soll pilotiert werden, Kostenpunkt: 700.000 Euro. „Ziel unserer
       Reinigungsstreifen sind Verbesserungen bei der Sauberkeit, mehr sichtbare
       Präsenz und ein besseres Sicherheitsgefühl auf unseren U-Bahnhöfen“, sagt
       BVG-Sprecher Jannes Schwentu zur taz. Und: „Die Reinigungsstreifen sind ein
       Projekt für, nicht gegen Menschen.“
       
       Die U8 hat bundesweit den Ruf, die Drogen- und Junkie-Linie zu sein. „Die
       U8 tue ich mir nicht mehr an“, erklärte etwa Jens Wieseke vom Berliner
       Fahrgastverband IGEB [2][im Interview mit der taz]. „Ich habe keine Lust,
       morgens in der U-Bahn als Erstes zu sehen, wie sich jemand einen Schuss
       setzt.“ Seit dem Pilotprojekt habe er sich jedoch wieder in die berüchtigte
       U-Bahn gewagt und tatsächlich eine Verbesserung festgestellt. „Es ist
       sauberer geworden“, sagte er.
       
       ## Straßensozialarbeit leidet
       
       Als Moritz Speiser und Cengiz Tanriverdio bei ihrem Rundgang durch den Kiez
       kürzlich leergefegte U-Bahn-Stationen vorfanden, staunten sie. Die
       Straßensozialarbeiter für wohnungslose Menschen arbeiten für den Verein
       Gangway in Neukölln und kümmern sich um die Menschen, die sich bis Mitte
       Februar auf den U8-Stationen, nun ja, eingerichtet hatten. Erst aus den
       Medien erfuhren Speiser und Tanriverdio von dem Pilotprojekt der BVG.
       
       „Die Verlagerung und Vertreibung machen unsere Arbeit extrem schwierig“,
       sagt Speiser zur taz. Die Arbeit der Straßensozialarbeiter basiere auf dem
       Aufbau von Vertrauen zu den wohnungslosen Menschen und deshalb eben auch
       „sehr stark auf Kontinuität und Beziehungen“. [3][Sie bräuchten zwingend
       diese „Vertrauensbasis, damit die Hilfe, die wir anbieten, auch angenommen
       wird“.]
       
       In der Vergangenheit fand ein Teil der Straßensozialarbeit in den Bahnhöfen
       statt. Vor allem in Neukölln sind Menschen auf den Schutz ebendort und
       damit auf BVG-Terrain angewiesen. „Hier gibt es kaum Einrichtungen, wo sich
       die Menschen tagsüber aufhalten können“, sagt Tanriverdio. „Es fehlt an
       Orten, an denen man sich vor der Kälte und dem Wetter schützen kann.“
       
       Seit dem BVG-Pilotprojekt sei es schwieriger geworden, Adressat:innen zu
       finden. „Wir wissen nicht, wo sie hingehen“, sagt Speiser. Wohnungslose
       Menschen würden jetzt in andere Bezirke fliehen, wo die
       Sozialarbeiter:innen sie nicht kennen und die mühsame
       Beziehungsarbeit wieder von vorn beginnen müsse.
       
       „Man will sich nicht um die Obdachlosen kümmern“, sagt Tanriverdio. Das
       zeige auch die Berliner Präventionspolitik. [4][Im laufenden Haushaltsjahr
       könnten 900.000 Euro weniger für die Drogen- und Suchthilfe zur Verfügung
       stehen als im vergangenen Jahr.] Das war das Ergebnis einer Berechnung der
       Senatsgesundheitsverwaltung, für die die BVG natürlich nichts kann. Aber:
       „Die BVG hätte sich mit Sozialarbeitern zusammensetzen und fragen können,
       was sie tun können“, sagt Tanriverdio. „Dass Leute rausgeschmissen werden,
       löst keine Probleme.“
       
       ## BVG will nicht nur verdrängen
       
       Dass Obdachlose einfach aus den U-Bahnhöfen vertrieben werden, sei
       ausgesprochen nicht das Ziel des Pilotprojekts, sagte
       [5][BVG-Betriebsvorstand Rolf Erfurt zum Auftakt des Pilotprojekts vor gut
       einem Monat]. „Wir können die Menschen nach draußen begleiten, aber es geht
       uns nicht um eine Verdrängung. Wir müssen schauen, welche Unterstützungs-
       und Hilfsangebote gibt es dort, gerade in den kalten Monaten“, sagte er.
       Dazu sei man mit den sozialen Trägern im Gespräch, auch mit der Berliner
       Kältehilfe.
       
       Irritierend ist freilich der Umstand, dass die Kältehilfe bezüglich des
       Pilotprojekts noch überhaupt nicht von der BVG kontaktiert wurde. „Wir
       haben uns schon gefragt, welcher Träger damit gemeint ist“, sagt Sabrina
       Niemietz vom Koordinationsbüro der Kältehilfe zur taz. „Wir haben keine
       Informationen über das U8-Pilotprojekt erhalten und wissen immer noch
       nicht, welcher Träger oder Kooperationspartner daran beteiligt sein soll.“
       
       Auch die Berliner Stadtmission, die den Kältebus betreibt, habe bisher
       nichts vonseiten der pilotverantwortlichen BVG gehört, so Sprecherin
       Barbara Breuer zur taz. Die Leiterin der mobilen
       Einzelfallhelfer:innen der Stadtmission, die an U- und S-Bahnhöfen
       tätig sind, wüssten nichts von dem Programm.
       
       „Wir stehen seit vielen Jahren im engen und vertrauensvollen Austausch mit
       der Berliner Kältehilfe, unter anderem mit der Stadtmission“, beteuert
       BVG-Sprecher Schwentu auf Nachfrage. „Auch arbeiten wir mit verschiedenen
       sozialen Einrichtungen sowie den verantwortlichen öffentlichen Stellen und
       Verwaltungen zusammen.“
       
       ## „Haben Sie etwas Kleingeld?“
       
       Zurück auf den U-Bahnhof Schönleinstraße, auf dem eine Frau mit Narben im
       Gesicht am Gleis entlangläuft. Ohne Schuhe stromert sie durch die Massen,
       die auf die U8 warten, fragt: „Haben Sie etwas Kleingeld?“ Antworten kommen
       selten. Und Kleingeld schon gar nicht. Sie ist das Nein offenbar so
       gewohnt, dass sie nicht mehr auf eine Rückmeldung wartet, bis sie zur
       nächsten Person weitergeht.
       
       Der Sicherheitsmann mit der Hundeleine in der Hand bleibt kurz stehen, als
       er die Frau sieht. Der Schäferhund geht ihm bis zur Hüfte. Es gelingt ihm
       gerade noch, den wuchtigen Hund kurz zum Stehen zu bringen. Er blickt zu
       seinem Kollegen und nickt in Richtung der Frau. „Lass uns das auf dem
       Rückweg machen, wenn sie noch da ist“, sagt sein Kollege. „Ich gebe den
       Leuten hier immer eine zweite Chance, wenn sie mir noch nicht aufgefallen
       sind.“
       
       Die beiden Sicherheitsbeamten an der Schönleinstraße machen eine weitere
       Runde und entdecken die Frau auf dem Rückweg wieder. Es braucht nicht viel,
       nur eine Hand, die auf die Treppe zeigt, und der Befehl wird befolgt. Die
       Frau rennt die Treppe hinauf und verschwindet aus dem Bahnhof. Aus den
       Augen, aus dem Sinn.
       
       14 Mar 2024
       
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