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       # taz.de -- Debütroman von Inga Machel: Familie mit schwerem Gepäck
       
       > Ein Ich-Erzähler umkreist den Suizid des eigenen Vaters – und die Autorin
       > verleiht dem Intensität: Inga Machels Debütroman „Auf den Gleisen“.
       
   IMG Bild: Die S-Bahn bringt Bewegung in das Trauma: Sonnenuntergang über der Warschauer Brücke in Berlin
       
       Auf die Idee, das Trauma eines väterlichen Suizids durch das Stalken eines
       Junkies, nein, nicht zu therapieren, aber doch wenigstens handhabbar werden
       zu lassen, muss man auch erst einmal kommen. Das ist die strukturierende
       Grundidee in Inga Machels Debütroman „Auf den Gleisen“, der einen nach dem
       Lesen noch lange nachgehen und beschäftigen kann.
       
       „Ich weiß, dass sich der Tod meines Vaters damals wie ein fremdes Organ in
       mir anfühlte“, heißt es zu Beginn. Dann lernt Mario, der Ich-Erzähler,
       einen Drogenabhängigen kennen, der nur P. genannt wird, folgt ihm auf
       seinen Wegen durch Berlin, denkt dabei an seine Familiengeschichte zurück,
       und am Schluss – Jahre vergehen zwischendurch – ist zwar noch immer keine
       Heilung da, aber immerhin setzt sich etwas Lichtes in den Beschreibungen
       durch, eine Ahnung davon, dass das Leben weitergehen kann.
       
       Zu den vielen interessanten Aspekten dieses Romans gehört, dass die
       Verknüpfung zwischen dem Vater des Ich-Erzählers und diesem P. die ganze
       Zeit über vage bleibt. Direkt haben diese beiden Schicksalen rein gar
       nichts miteinander zu tun, und auch die Art und Weise, wie sich im
       Junkie-Alltag die Verlorenheit und Überforderung des Vaters spiegelt,
       bleibt verschwommen. Was aber durch die Begegnungen mit P. überhaupt erst
       in die Geschichte hineinkommt, ist Bewegung, und das macht dann die
       Familiengeschichte erst erzählbar.
       
       Ohne einmal mit ihm zu reden, folgt Mario P. durch die Straßen, hin zu den
       Treffpunkten der Obdachlosen und der Drogendeals, sie begegnen sich auch
       immer wieder zufällig, Mario steigt auch in die heruntergekommene Wohnung
       von P. ein. Ganz nebenbei entsteht so ein Berlin-Roman, in dem die sonst
       üblichen [1][zentralen Schauplätze – Kreuzberg,] Warschauer Straße, Mitte –
       zwar vorkommen, aber viel mehr noch immer umfahren werden.
       
       P. und in seinem Gefolge auch Mario fahren auf der [2][S-Bahnstrecke der
       Ringbahn] um das Berliner Lebens- und Partyzentrum herum. An den großen
       S-Bahnhöfen gibt es Einkaufszentren, in denen P. abhängt und Mario in
       einiger Entfernung mit ihm. Ein unschickes, arm und auch nicht sexy
       seiendes Berlin der Supermarkt-Parkplätze, der hastig gekauften und schnell
       getrunkenen Billigbiere und des sich in die anonymen Menge Verlierens
       entsteht so. Gibt es noch das Klischee, dass die junge deutsche Literatur
       sich vor allem mit den [3][Ich-Problemen von Mittelklassekindern]
       beschäftigen würde? Okay, hier wäre ein Gegenentwurf.
       
       ## Aufblitzende Szenen und Splitter
       
       Genauso wie der Erzähler im Gefolge von P. die Mitte Berlins umkreist,
       umkreist er in immer wieder neuen Anläufen seine Familiengeschichte. In wie
       aufblitzenden Szenen und Splittern setzt sich allmählich das Drama dieser
       in einem kleinen Ort lebenden Familie zusammen. Anders als in vielen
       Romanen sonst ist hier die Mutter vor allem mit ihrem Beruf beschäftigt und
       emotional abwesend, und der Vater ist die allerdings überforderte
       emotionale Bezugsperson für Mario und seinen älteren Bruder Ron.
       
       „Spätabends setzte sich mein Vater manchmal zu uns Kinder ans Bett und
       weinte. Seine Sorgen waren nie besonders rätselhaft, es ging um Mutter, die
       Familie, einen Streit, die Arbeit oder Geld.“ Manchmal nimmt der Vater dann
       die Kinder noch mit in die Küche und wärmt ihnen die Nudeln vom Mittag auf.
       „Die Abende, an denen mein Vater weinte, waren deshalb oft schöner als
       andere.“
       
       Die Autorin Inga Machel wurde 1986 geboren, mit diesem Roman wurde sie für
       den Leipziger Buchpreis nominiert. Wenn man nur einmal nachvollzieht, wie
       oft in diesem Roman geweint wird – der Vater weint, der Erzähler weint, P.
       weint, nur die Mutter weint nicht –, kann man sich gut vorstellen, wie
       schnell „Auf den Gleisen“ auch hätte im reinen Elendsklischee
       steckenbleiben können. Doch das tut er eben nicht. Inga Machel beweist hier
       ein großes Gespür dafür, wie sie einen in diesen aufblitzenden und in sich
       überaus sorgfältig gebauten Szenen immer wieder mitnehmen kann.
       
       ## Lange Reise durch die Nacht
       
       Dass sich dieser Ich-Erzähler durch die Genauigkeit seiner Beobachtungen
       von dem schweren Gepäck seines Familienhintergrunds und, damit
       zusammenhängend, seiner eigenen Alkoholikerkarriere befreit, wird nie
       direkt angesprochen, aber ist ein Hintergrund, der mitschwingt. Sich
       abschießen mit Alkohol – bei sich sein im Beobachten: Das ist ein den Text
       strukturierender Gegensatz.
       
       Dass Inga Machel dieser Lebensbewegung des Sichverlierens und Sichfindens
       Schönheit verleihen würde, wäre zu viel gesagt; sie verklärt das Elend an
       keiner Stelle. Aber sie verleiht den Bewegungen in Berlin und im Text
       Intensität. Wenn man durch ist mit dem Buch, fühlt man sich wie nach einer
       langen Reise durch eine Nacht.
       
       17 Mar 2024
       
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