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       # taz.de -- Sprachliche Anpassungen in der Literatur: Geschichten, nicht: Geschichte
       
       > Kinderbuch-Klassiker von diskriminierenden Begriffen zu befreien ist
       > keine Zensur – es hält die Werke lebendig. Eine Bedingung aber gibt es.
       
   IMG Bild: Mehr Versionen, mehr Leser – das Wichtigste ist doch, dass Bücher lebendig bleiben
       
       Auf einer Poetry-Slam-Bühne hätte Walther von der Vogelweide heute keine
       Chance. Heute kann man ihn fast nur noch durch Nachdichtung verstehen.
       Diese Erkenntnis wirft ein neues Licht auf die Kulturdebatte um sprachliche
       Anpassungen in literarischen Werken.
       
       Jüngster Fall: Der Thienemann-Verlag bringt eine [1][Neuausgabe von Michael
       Endes Kinderbuchklassiker „Jim Knopf“] heraus, in der das N-Wort gestrichen
       ist, aus „Eskimos“ „Inuit“ geworden sind, die Illustrationen verändert
       wurden: Jim hat nun eine hellere Hautfarbe, keine wulstigen rosafarbenen
       Lippen und auch keine Tabakpfeife mehr.
       
       Toll, sagt die Pro-Fraktion, unsere Gesellschaft ist heute vielfältiger als
       früher und Bücher sollten keine rassistischen Stereotype reproduzieren. Die
       Contra-Fraktion sieht darin eine Ent-Historisierung und einen Eingriff in
       die Kunstfreiheit – schlicht: Zensur.
       
       Beide Argumente sind berechtigt – und greifen doch zu kurz. Während die
       einen das Fortwirken der Diskriminierung in den Neufassungen literarischer
       Werke übersehen, betrachten die anderen die Frage rein synchron, also
       literarische Werke nur als Produkte ihrer Zeit.
       
       ## Alle mal entspannen!
       
       Entspannter wird es, wenn man die Sache diachron betrachtet. Und zwar so:
       Diskriminierende Begriffe entwickeln sich mit der Zeit, und alles – also
       auch die Neufassungen – sind Zeugnisse ihrer Zeit.
       
       Ein konkretes Beispiel: Victor Hugos Stück „Der König amüsiert sich“ wurde
       nach seiner Uraufführung im Jahr 1832 sofort verboten. In Deutschland sieht
       man die Franzosen gern als revolutionäres Volk, aber tatsächlich folgten
       auf die Revolution – nach ein paar Jahren Republik und Kaiserreich – wieder
       über 30 Jahre Monarchie. So saß 1832 König Louis-Philippe auf dem Thron. In
       Hugos Drama wird der königliche Hof als korrupt und dekadent dargestellt –
       Sittenlosigkeit! –, und der Hofnarr versucht, seinen König zu ermorden –
       Regizid!
       
       Natürlich kam das Motiv des Königsmordes bei Louis-Philippe nicht gut an.
       In seinem Vorwort zu dem Stück, das heute bei verschiedenen Verlagen
       erhältlich ist, beschreibt Victor Hugo die Zensur seiner Zeit. Ausgerechnet
       diese Zensur gibt uns heute Auskunft über das Jahr 1832, über die Sorgen
       des Königs. Auch die Bearbeitung des Hugo-Stoffes in der Oper „Rigoletto“
       durch Giuseppe Verdi, der einige Aspekte der Handlung änderte, um die
       Zensurprobleme in Italien zu umgehen, ist ein Zeitzeugnis.
       
       Übrigens würde man „Der König amüsiert sich“ heute nicht mehr als
       „problematisch“ unter dem Aspekt der Anstiftung zu Gewalt oder
       Unsittlichkeit einstufen, sondern könnte sagen, das Stück benötige eine
       Triggerwarnung, weil es eine übergriffige, inzestuöse
       Vater-Tochter-Beziehung darstellt.
       
       ## „Altes Weib“ wird „Alte Krähe“
       
       Die sprachlichen Anpassungen von Astrid Lindgrens „Pippi Langstrumpf“,
       Otfried Preußlers „Die kleine Hexe“, Roald Dahls „Matilda“ oder [2][auch
       Michael Endes „Jim Knopf“] sind – wenn man so will – eine Art Zensur, die
       heutige gesellschaftliche Normen und Werte widerspiegelt und damit selbst
       ein Stück Geschichte ist. Im 23. Jahrhundert werden die Menschen unsere
       heutigen Neufassungen als Zirkel benutzen können, um unsere Zeit zu
       umreißen, als Archiv für die Werte des beginnenden 21. Jahrhunderts – dazu
       gehören auch die Debatten darüber. Es findet also keine
       Geschichtsklitterung statt, sondern das Gegenteil: eine
       Geschichtsschreibung.
       
       Es wäre zu kurz gegriffen, anzunehmen, dass durch punktuelle
       Begriffsänderungen Diskriminierung oder Gewalt in Büchern grundsätzlich
       beseitigt werden. In „The Witches“ von Roald Dahl wird das Schimpfwort
       „altes Weib“ durch „alte Krähe“ ersetzt. In der Szene beschwert sich eine
       alte Frau in einem Restaurant, dass ihr Steak zu hart sei, und verlangt ein
       anderes Stück. Daraufhin bringt der Kellner den Teller in die Küche,
       beschimpft sie als „altes Weib“ und spuckt zusammen mit den Köchen und
       Küchenjungen auf das Essen. In dieser Szene werden Machtverhältnisse
       sichtbar, die sich nicht dadurch auflösen, dass das „alte Weib“ durch eine
       „alte Krähe“ ersetzt wird.
       
       Überhaupt handelt das ganze Kinderbuch „The Witches“ von Gewalt: Es beginnt
       mit dem Tod der Eltern, die auf offener Straße von einem Nashorn gefressen
       werden. Der verwaiste Sohn muss daraufhin zu seinen beiden Tanten ziehen,
       die grausam zu ihm sind. In der Comicadaption von Pénélope Bagieu sterben
       die Eltern hingegen bei einem Autounfall, ebenso in der Verfilmung von
       Robert Zemeckis: Hier muss der Junge nicht zu seinen Tanten, sondern zu
       seiner Großmutter, und die Handlung spielt in den USA der 1960er Jahre und
       greift Elemente der Rassentrennung auf. Roman, Comic, Film: drei Varianten
       ein und derselben Geschichte. In einem anderen Buch von Roald Dahl,
       „Matilda“, heißt es im Original: Das Mädchen „fuhr mit Joseph Conrad auf
       Segelschiffen aus alten Zeiten. Sie reiste mit Ernest Hemingway nach Afrika
       und mit Rudyard Kipling nach Indien.“
       
       Im Jahr 2023 wurde der britische Schriftsteller Rudyard Kipling durch John
       Steinbeck ersetzt, der nicht „nach Indien“, sondern „nach Kalifornien“
       ging, um den Verdacht des Kolonialismus zu entkräften. Auch Jane Austen
       wurde anstelle von Joseph Conrad eingefügt, um nicht nur männliche
       Vorbilder zu zitieren. Im Grunde ist es wie bei den Stilübungen von Raymond
       Queneau, wo ein und dieselbe Alltagsepisode in mehr als hundert Varianten
       erzählt wird. Auch verschiedene Versionen eines Buches können nebeneinander
       existieren – einmal mit Kipling, einmal mit Austen.
       
       ## Viele Versionen sind viel besser als eine
       
       Voraussetzung ist allerdings, dass neben der Neufassung auch das Original
       im Umlauf bleibt. Fatal wäre, wenn die neue Version das Original ersetzen
       würde. Man braucht beide oder mehrere Versionen – wie bei der Bibel, von
       der es allein in deutscher Sprache 45 Übersetzungen gibt, die sehr
       unterschiedlich sind, mal textgetreu, mal frei, mit oder ohne Fußnoten, in
       geschlechtergerechter Sprache oder für Kinder.
       
       Und mit dem Stichwort Zielgruppe sind wir direkt in der Marktwirtschaft. Es
       wäre auch zu kurz gegriffen, zu glauben, dass ein Verlag bei sprachlichen
       Anpassungen nur aus ethischen oder moralischen Gründen handelt. Denn
       natürlich spielen auch ökonomische Motive eine Rolle. Verlage wollen Bücher
       verkaufen. Durch die Adaption klassischer Texte können sie sich eine neue
       Leserschaft erschließen.
       
       Die Frage ist: Was sagt es über unsere Zeit aus, wenn sich ein Verlag heute
       bessere Verkaufschancen verspricht, wenn ein Mädchen Bücher von Jane Austen
       statt von Joseph Conrad liest?
       
       Wie dem auch sei, Lindgren, Ende und Dahl können es als Kompliment
       auffassen, wenn ein Verlag sich noch die Mühe macht, ihre Bücher für die
       heutige Zeit zu „übersetzen“ – sie teilweise an das anzupassen, was für
       einen [3][zeitgenössischen Kulturkreis] „verständlich“ im Sinne von
       „akzeptabel“ wird.
       
       ## Literatur muss so unberechenbar sein wie die Welt selbst
       
       Denn so hätte der Thienemann-Verlag auch denken können: Na gut, dann
       bringen wir eben andere Bücher auf den Markt als Michael Ende. Aber nein,
       sie machen sich die Mühe, „Jim Knopf“ marktfähig zu machen, weil sie an
       Endes Werk glauben. Und diachron kann man auch damit rechnen, dass
       irgendwann eine Zeit kommt, in der Menschen merken: Jim Knopf mit einer
       helleren Hautfarbe zu illustrieren, das hat einen Namen. Es heißt Colorism,
       eine Unterform des Rassismus, der schwarze Menschen mit hellerer Haut
       bevorzugt.
       
       Hat der Verlag in dem Versuch, Rassismus zu vermeiden, unbeabsichtigt eine
       andere Form von Rassismus reproduziert? Und was ist mit dem Sexismus im
       Roman? In der Welt von Jim Knopf gibt es nur eine Handvoll Frauen in
       stereotypen Rollen: die Hausfrau, die gern Mutter wäre, die Prinzessin, die
       entführt wird und von Jim gerettet werden muss, die strenge Lehrerin oder
       die Meerjungfrau.
       
       Die Contra-Fraktion wettert meist gegen die sogenannte [4][Cancel Culture]
       und Wokeness – eine unterkomplexe Sichtweise. Zudem wird oft übersehen,
       dass es auch von konservativer Seite Kontrolle und Zensur von Literatur
       gibt. Nach Angaben der Schriftstellervereinigung PEN America wurden
       zwischen Juli 2021 und Juni 2022 rund 1.648 Titel an amerikanischen Schulen
       auf den Index gesetzt. Verboten werden vor allem Bücher, die sich mit
       Rassismus oder geschlechtlicher Vielfalt beschäftigen, wie „The Bluest Eye“
       von Toni Morrison oder „Gender Queer: A Memoir“ von Maia Kobabe. Von Cancel
       Culture ist in diesen Fällen seltsamerweise nicht die Rede.
       
       Die Tatsache, dass Lindgren, Ende und Dahl den Anpassungen nicht mehr
       zustimmen können, macht die Debatte natürlich hitziger. Aber wer weiß.
       Vielleicht hätten sie nicht verbissen auf ihrer Version beharrt, sondern
       wären entspannt gewesen. Deshalb sage ich es jetzt schon: Wenn ein Verlag
       in hundert Jahren meine Bücher noch einmal lektorieren will, um sie für die
       Leserschaft des 22. Jahrhunderts verständlicher zu machen: bitte sehr. Da
       bin ich entspannt – und da wünsche ich mir generell mehr Entspanntheit.
       
       Nehmen wir unseren Walther von der Vogelweide: Diu welt ist allenthalben
       ungenâgen vol. Oder in der Übertragung von Peter Rühmkorf: Die Welt ist
       allenthalben unberechenbar.
       
       18 Mar 2024
       
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