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       # taz.de -- Autorin Oksanen zu Putins Antifeminismus: „Es geht gegen Gleichberechtigung“
       
       > Das neue Buch von Sofi Oksanen heißt „Putins Krieg gegen die Frauen“. Die
       > Bestsellerautorin über die Verbindung von Antifemimismus und
       > Ukrainekrieg.
       
   IMG Bild: Sofi Oksanen kämpft gegen das Imperiale Russland Putins
       
       literataz: Frau Oksanen, Sie beschreiben in Ihrem Essay, wie das russische
       Regime einen Krieg gegen Frauen führt, sowohl durch konkrete Gewalt als
       auch ideell. Ist Frauenfeindlichkeit per se ein Symptom des Totalitarismus? 
       
       Sofi Oksanen: Ein Hauptaugenmerk des Putin-Regimes ist es, Frauen von der
       Macht fernzuhalten und Männer an der Macht zu halten. Wer beobachtet hat,
       wie es Frauen und sexuellen Minderheiten in Russland in jüngerer Zeit
       erging, dürfte nicht überrascht sein ob der Entwicklung zur patriarchalen
       Diktatur.
       
       Es gibt einen direkten Zusammenhang zwischen dem Antifeminismus in Russland
       und dem Ukrainekrieg: Die Ukraine repräsentiert alles, was der Kreml
       ablehnt – zum Beispiel, dass Frauen mehr Macht haben. Die Ukraine schickt
       auch Soldatinnen an die Front, hat rund 5.000 weibliche Offiziere,
       Präsident Selenskyj ehrt viele von ihnen mit der Ehrenmedaille „Held der
       Ukraine“. Es ist definitiv auch ein Krieg um die Gleichberechtigung der
       Geschlechter.
       
       Die estnische Ministerpräsidentin Kaja Kallas wurde kürzlich in Russland
       zur Fahndung ausgeschrieben, auch Julia Nawalnaya dürfte in höchster Gefahr
       schweben, wenn sie nun die Rolle ihres toten Mannes übernehmen sollte. 
       
       Der Kreml greift gezielt Politikerinnen an, das ist seine Strategie. Der
       internationale Haftbefehl gegen Kaja Kallas ist eines der Beispiele dafür.
       Es gibt eine Menge Desinformationskampagnen gegen westliche Politikerinnen,
       [1][die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock] war ein Ziel dieser
       Attacken. Dass jetzt [2][Julia Nawalnaya] ins Visier genommen wird, zeigen
       etwa im Netz geteilte Bilder, die sie angeblich mit ihrem neuen Freund
       zeigen sollen.
       
       Sie erwähnen Putins [3][Hausphilosophen Alexander Dugin,] der die
       „Demaskulinisierung“ Russland befürchtet, von da ist es nicht weit zu
       Putins homophobem Feindbild „Gayropa“. Sind Chauvinismus und Antifeminismus
       Teil des russischen Identitätsgebildes? 
       
       Die russische Identitätsbildung und die Geschichte könnten ganz anders
       aussehen, wenn das Land ein demokratisches System gehabt hätte, wenn mehr
       Frauen an der Macht gewesen wären oder wenn die Macht der Sicherheitsorgane
       geringer gewesen wäre. 
       
       Putins Idee von der russischen Identität schließt Frauen aus. Anders war
       das etwa in Nawalnys Team, in seinem engsten Umkreis waren viele Frauen. Er
       benachteiligte niemanden aufgrund seiner geschlechtlichen Identität, er
       wollte einfach die talentiertesten und fähigsten Personen. Grundsätzlich
       kann man sagen, dass Russland ein Identitätsproblem hat: Die baltischen
       Staaten oder auch Polen verfügten immer über eine recht klare nationale
       Identität.
       
       Eine eigenständige russische Identität aber gab es nicht. Nicht zu
       Sowjetzeiten, nicht heute. Die russische Identität ist nur auf
       Kolonisierung aufgebaut.
       
       Einer der Gründe für Sie, dieses Buch zu schreiben, waren Vergewaltigung
       und Folter, die Ihre Großtante während der Besetzung Estlands durch die
       Sowjetunion erlitten hat. 
       
       Ja. Meine Großtante hat sich danach völlig aus der Welt zurückgezogen, nie
       darüber gesprochen. Ihr Fall hat mir gezeigt, dass erlittene sexuelle
       Gewalt etwas ist, das einen für den Rest des Lebens begleitet. Man kann sie
       nicht mit jeder anderen Kriegsverletzung vergleichen, sie ist ein Trauma.
       Die Wunden, die ein Opfer in sich trägt, sollten genauso anerkannt werden
       wie körperliche Schäden bei Kriegsversehrten.
       
       Was ist mit finanzieller Entschädigung von Vergewaltigungsopfern? 
       
       Es könnte noch ein langer Weg sein, bis es Schmerzensgeldzahlungen geben
       wird. Wir sollten auch über Arbeitsunfähigkeit bei den Opfern sprechen.
       Eine finanzielle Entschädigung wäre ein Zeichen, dass sexuelle Gewalt ernst
       genommen wird.
       
       Was muss in der (westlichen) Öffentlichkeit und Politik geschehen, damit
       sexuelle Gewalt noch mehr als systemischer Teil eines Krieges begriffen
       wird? 
       
       Es gibt eine positive Entwicklung: Wir haben viel mehr Frauen im
       Journalismus, mehr Forscherinnen, Staatsanwältinnen und Richterinnen. Durch
       sie gibt es eine andere Sensibilität als in einer komplett
       männerdominierten Öffentlichkeit. Die MeToo-Bewegung hat viel verändert und
       dazu beigetragen, dass das Schamgefühl aufseiten der Opfer vielleicht
       weniger wird. Aber Sexualverbrechen sind in der Vergangenheit ziemlich
       unterbelichtet geblieben. Bei den Nürnberger Prozessen gab es keine
       Verurteilungen wegen Vergewaltigungen, obwohl wir genau wissen, dass sie
       zum Verbrechensrepertoire des Nazi-Regimes gehörten.
       
       Warum wird sexuelle Gewalt noch heute im Krieg so wenig geahndet? 
       
       Die Verfolgung sexueller Straftäter in Kriegen ist eine große
       Herausforderung für unser Rechtssystem. Das ist sicher auch ein Problem des
       Geldes. Erst mal brauchen wir aber den politischen Willen, um Sexualdelikte
       im Krieg aufzuklären und um die Täter anzuklagen. In der Ukraine gibt es so
       viele derartige Kriegsverbrechen, dass eine Aufklärung ohne internationale
       Hilfe nicht möglich ist.
       
       Bleibt sexuelle Gewalt zu sehr Randnotiz? 
       
       Ja. Ich verstehe auch, dass manchmal andere Dinge kriegsentscheidend sind,
       zum Beispiel, dass die Ukraine definitiv mehr Munition braucht. Aber
       sexuelle Gewalt sollte ein selbstverständlicher Teil der Diskussion sein.
       Meist wird nur über besonders grausame Ereignisse zu diesem Thema
       berichtet, als wäre es etwas Separates. Es sollte normal sein, darüber zu
       reden. Dann gäbe es weniger Scham und Einsamkeitsgefühle auf Opferseite.
       
       Welche Rolle spielt Frauenhass im Netz, wenn wir über sexuelle Gewalt
       generell sprechen? 
       
       Es gibt online viel Hass, der sich explizit gegen Frauen richtet, auch in
       Finnland. Finnland steht immer weit oben im Gender Equality Index, und doch
       werden auch hier Politikerinnen, Journalistinnen, Polizistinnen,
       Richterinnen mit geschlechtsspezifischem Hass überzogen. Also Menschen, die
       das Fundament unseres demokratischen Systems bilden. Aus Onlinehetze wird
       schnell tatsächliche Gewalt.
       
       Noch mal zurück zu Russland: Sie beschäftigen sich auch mit Putins Narrativ
       von den chaotischen neunziger Jahren, von denen er sein Land erlöst habe.
       Für Sie trägt diese Erzählung frauenfeindliche Züge. Welche? 
       
       Ganz einfach: Es war für den Kreml die Zeit, als all die schlechten
       westlichen Einflüsse ins Land kamen, einschließlich der Feministinnen und
       des Frauenaktivismus. Mit den Folgen hatte und hat Putin zu kämpfen, man
       denke an Pussy Riot.
       
       Eine Ihrer Forderungen ist es, dass Russland alle Verbrechen des
       Stalinismus und des Kolonialismus aufarbeitet – dieses Ziel ist in weiter
       Ferne, oder?
       
       Ja, weil zunächst einmal eine Niederlage Russlands in diesem Krieg
       erforderlich wäre. Die Niederlage ist aber etwas, das die westlichen Länder
       nicht zu thematisieren wagen. Klar ist aber: Russland wird sich nicht
       freiwillig mit seiner Vergangenheit auseinandersetzen oder anerkennen, dass
       der Kolonialismus ein Problem ist.
       
       19 Mar 2024
       
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