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       # taz.de -- Neuer Roman von Marković: Menschen im Spätkapitalismus
       
       > „Minihorror“ ist ein urkomischer Roman über den Arbeits- und
       > Beziehungsalltag. Die Autorin erhielt 2024 den Belletristik-Preis der
       > Leipziger Buchmesse.
       
   IMG Bild: Die Autorin von „Minihorror“: Barbi Marković
       
       Anm. d. Red.: Diese Buchrezension zu „Minihorror“ von Barbi Marković
       erschien am 10. März 2024 in der taz. Am 21. März 2024 wurde die Autorin
       mit dem Belletristik-Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet. 
       
       Manchmal ist im Leben von Mini und Miki alles ganz einfach. „Die Abendsonne
       ist rot, und sie haben Spaß wie ein Paar in der Werbung.“ Manchmal taucht
       allerdings ein menschenfressendes Monster im Supermarkt auf oder ein Freund
       zerfällt in kleine Stücke.
       
       In ihrem Roman „Minihorror“ hat Barbi Marković eine Welt erschaffen, die
       unserer stark ähnelt (Österreich, 21. Jahrhundert, Spätkapitalismus) und
       deren „Horrors“, wie sie es nennt, einfach etwas plastischer sind. In lose
       zusammenhängenden Geschichten erzählt die Autorin von Mini, Miki und der
       Schwierigkeit, glücklich zu sein – denn immer, wenn man es sein könnte,
       stresst man sich zu sehr damit.
       
       Als „Furore“ beschreibt der Residenz-Verlag das, was seine Autorin mit
       ihren Romanen macht, und der Begriff könnte treffender nicht sein. Marković
       wurde im vergangenen Jahr der Kunstpreis Berlin verliehen, 2017 las sie
       beim Bachmann-Preis, und nun ist „Minihorror“ für den Preis der Leipziger
       Buchmesse nominiert.
       
       Ihr letzter Roman „Die verschissene Zeit“ über drei Jugendliche im Belgrad
       der 90er Jahre wurde als „punk“, „krass“, „böse“ und „Masterpiece“
       besprochen – all das ist Marković mit „Minihorror“ wieder gelungen. Sie
       bricht mit der Romanform, mischt Zeichnungen oder Lautmalereien unter, fügt
       Gastgeschichten anderer Autor:innen hinzu und wirft die Leserin hinein
       in eine Prosa-Spielart des Comics.
       
       Tatsächlich sehen die Protagonist:innen Mini und Miki ein wenig aus wie
       Minnie Maus und Micky Maus, die man von Disney oder aus den „Lustigen
       Taschenbüchern“ kennt. Mini und Miki leben in Wien, und ebenso wie die
       Comicmäuse wechseln sie dabei munter durch die Berufungen: Mal ist Mini
       selbstständige Grafikdesignerin, mal erfolgreiche Schriftstellerin, mal
       digitale Superheldin. Leicht findet man sich wieder in ihren
       Alltagsproblemen („Mini ist heute schlecht drauf, deshalb muss sie den
       ganzen Tag Serien schauen“) und dann auch wieder nicht (aufdringliche
       kannibalistische Cousinen).
       
       ## Putzen und Beziehungstat
       
       Wie die in Belgrad aufgewachsene Autorin selbst ist Mini aus Serbien nach
       Wien migriert. Wenn Mini aber jemand fragt, „Woher kommst du?“, rastet sie
       schon mal aus und haut dem Gegenüber eine rein. Die Leute in Minis Welt
       sind rassistisch wie bei uns, nur weniger versteckt: „Mini, du siehst
       anders aus. Fühlst du dich wie eine Österreicherin?“, fragt sie eine
       Journalistin.
       
       Andauernd fühlt man sich ertappt bei den lässig dahinerzählten
       Alltagsbegebenheiten, von altbekannt bis maßlos übertrieben: „Mini und Miki
       sind beim Putzen sehr wütend, weil sie bei jeder Handlung auf schlechte
       Gewohnheiten der oder des anderen stoßen. Sie entdecken einander in Gestalt
       von Haaren im Abfluss, Gestank auf Handtüchern, schlecht weggeräumten
       Putzfetzen, Stücken getrockneten Schlamms und ekeln sich vom Rachenzäpfchen
       runter bis zum Magenanfang.“ Beinahe endet das Putzen in einer sogenannten
       Beziehungstat, doch Mini und Miki reißen sich noch gerade so zusammen.
       
       Marković spart nicht an Seitenhieben gegen den [1][Menschen im
       Spätkapitalismus,] da geht es um Saisonarbeit, Erbschaft oder entgrenzte
       Arbeitsmoral. Die selbstständig tätige Mini weiß, „dass das, was sie macht,
       nie genug sein kann, aber dass sie ebenso in Gefahr ist, zu viel zu machen.
       Deswegen weint sie, weil sie jetzt nicht weiß, ob sie Gas geben oder Pause
       machen oder ins Fitnessstudio gehen oder E-Mails schreiben soll.“ Auch den
       Literaturbetrieb selbst nimmt Marković sich vor, genauer: das
       [2][Trendgenre der Autofiktion.]
       
       ## Modernisierte Superkräfte
       
       Als Schriftstellerin veröffentlicht Mini das Leben ihrer Freund:innen
       unter deren Klarnamen: „Und als diese Menschen ihren Unmut äußerten, hat
       sie nur kalt erwidert, dass sie ihre Geschichten und ihre Namen und ihr
       Leid für das Werk gebraucht hat, und wenn sie sich zwischen Freund:innen
       und Werk entscheiden muss, dann gewinnt immer das Werk.“ Zwischen
       Überspitzungen, die Absurditäten unserer Gesellschaft freilegen, mischt
       sich das Surreale.
       
       Wie als Gruß an ihren Roman „Superheldinnen“ schenkt Marković auch Mini in
       einer der Geschichten Superkräfte, allerdings modernisierte. Nach einer
       dreitägigen Social-Media-Pause stellt Mini fest, dass sie alle Profile und
       Posts bearbeiten kann – Trollangriffe stoppen, Preppervideos löschen, so
       was. Nur ist der Preis, dass sie nicht wegschauen kann, und ähnlich der
       Mär, dass vom Fernsehen die Augen viereckig werden, laufen Minis Augen von
       ihrer 24-Stunden-Bildschirmzeit einfach aus.
       
       ## Auf der Zoomkonferenz
       
       Marković ist ein urkomischer Roman gelungen, der Sprache dabei wunderbar
       ernst nimmt. Familiäre Abgründe versteht sie wörtlich: „Sie versuchen mich
       in ein tiefes Loch zu stürzen“, „sie ziehen mich nach unten“, beklagt sich
       Mini gern über ihre Verwandtschaft, und Miki hält das alles für Metaphern,
       bis er sieht, wie die Eltern Mini in eine Grube im Nachbarsgarten
       scheuchen. Die Autorin schreibt in klaren Sätzen, die knallen. Jedes Wort
       sitzt, sogar die hässlichen.
       
       Ihre Anglizismen sind schon zu eingedeutscht, um wirklich modern zu sein
       („High Five“ oder „Partykiller“), dazwischen streut sie österreichische
       Mundart oder comichafte Ausrufe wie „hihihi“ und „hehehe“. Immer wieder
       gleichen die Anekdoten Zwangsgedanken: Was, wenn ich mich bei der
       Zoomkonferenz ausgerechnet in dem Moment verschlucke, in dem ich etwas
       sagen will? Wenn mir ein besserer Titel für mein Buch einfällt, kurz
       nachdem ich es veröffentlicht habe? Mini passiert das alles tatsächlich,
       zumindest in einigen der zahlreichen Versionen ihres Lebens, die Marković
       skizziert.
       
       In einer charakteristischen Szene beobachtet Mini den in Österreich
       populären Krampus-Brauch, bei dem man sich als monströser Begleiter des
       Nikolaus verkleidet und durch die Dörfer zieht: „Mini lernt Folgendes über
       diese gefährlichen Wesen, und auf eine gewisse Art ist das, was sie lernt,
       wirklich nichts Neues für sie: Sie muss aufpassen, von den verkleideten
       Männern nicht geschlagen oder vergewaltigt und von ihren riesigen
       Accessoires nicht am Kopf getroffen zu werden. Sie muss aber auch dauernd
       auf diese Wesen aufpassen, weil sie zugleich gewalttätig und zerbrechlich
       sind.“
       
       Der wahre Horror liegt in jenen Geschichten, in denen man das
       wiedererkennt, was man für normal hält – bis man es in einem Gruselroman
       liest und es dort nahtlos hineinpasst.
       
       10 Mar 2024
       
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       ## AUTOREN
       
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