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       # taz.de -- Gewalt gegen Migrant:innen: Jede 40. Person stirbt
       
       > Die UN melden für 2023 eine Rekordzahl an Todesfällen auf
       > Migrationsrouten. Seenotretter:innen berichten von Schüssen und
       > Festsetzungen.
       
   IMG Bild: Gerettete Migrant:innen bei Sea-Watch-Rettungsaktion im zentralen Mittelmeer, 6. März 2024
       
       Berlin taz | 8.565 Menschen sind im vergangenen Jahr auf internationalen
       Migrationsrouten gestorben. Das meldete die UN-Migrationsorganisation IOM
       am Mittwoch. Gegenüber dem Vorjahr sei das ein Anstieg von rund 20 Prozent
       und der höchste Wert seit Beginn der Zählung im Jahr 2014.
       
       „Jede einzelne von ihnen ist eine schreckliche menschliche Tragödie, die
       noch jahrelang in den Familien nachhallt“, sagte die stellvertretende
       Generaldirektorin der IOM Ugochi Daniels. Da „sichere und reguläre
       Migrationswege“ nach wie vor begrenzt seien, versuchten jedes Jahr
       Hunderttausende Menschen, über irreguläre Routen unter unsicheren
       Bedingungen zu migrieren, so die IOM. Etwas mehr als die Hälfte der
       Todesfälle war demnach die Folge von Ertrinken, 9 Prozent wurden durch
       Fahrzeugunfälle und 7 Prozent durch Gewalt verursacht.
       
       Die meisten Menschen starben im Mittelmeer. Dort gab es im vergangenen Jahr
       mindestens 3.129 Tote und Vermisste – der höchste Wert seit 2017. Nach
       taz-Berechnungen kam auf dem Seeweg nach Italien rund einer von 62
       Menschen, die die Überfahrt versuchten, zu Tode, auf dem Seeweg nach
       Griechenland war es einer von 51 Menschen, und auf dem Seeweg nach Spanien
       starb etwa jede:r 40.
       
       Die gefährlichsten Routen in Afrika waren der Weg durch die Sahara und der
       Seeweg zu den Kanarischen Inseln. In Asien starben im vergangenen Jahr
       Hunderte von Afghan:innen und Rohingya auf der Flucht aus Afghanistan
       und Myanmar.
       
       ## 17-Jähriger wird nicht evakuiert – und stirbt auf Rettungsschiff
       
       Derweil meldete [1][die Seenotrettungs-NGO Sea-Watch] einen Todesfall bei
       einer Rettungsaktion. Demnach musste am Mittwoch nach der Rettung von
       ungefähr 50 Personen aus Seenot in internationalen Gewässern ein
       17-Jähriger an Bord des Rettungsschiffes „Sea-Watch 5“ nach einem
       Herzstillstand wiederbelebt werden. Er sei zwei Stunden später gestorben.
       Die Besatzung habe zuvor eine medizinische Evakuierung für ihn und weitere
       Gerettete bei staatlichen Rettungsstellen angefragt, diese seien jedoch
       verweigert worden. Vier weitere Überlebende an Bord befänden sich in einem
       kritischen gesundheitlichen Zustand und warteten nach Angaben von Sea-Watch
       am Mittwochabend auf ihre Evakuierung.
       
       Die Geretteten seien zuvor unter Deck eines überfüllten Holzbootes gefunden
       worden – mehrere von ihnen bewusstlos. Nach Aussagen anderer Insassen
       hätten die Flüchtenden dort zehn Stunden lang mit zu wenig Sauerstoff
       ausharren müssen, umgeben von Benzindämpfen. Einer der Bewusstlosen war der
       17-Jährige, der später starb. „Wir sind traurig und wütend“, sagte der
       Sea-Watch-Einsatzleiter Hugo Grenier. „Trotz stundenlanger Bitten um eine
       medizinische Evakuierung ist kein Küstenstaat unserer Aufforderung
       nachgekommen.“
       
       Am vergangenen Samstag hatte die Seenotrettungs-NGO SOS Humanity
       Zwischenfälle mit der libyschen Küstenwache gemeldet. Demnach sei ihr
       Schiff Humanity 1 zu zwei Seenotfällen gerufen worden. Beim ersten sei ein
       Patrouillenboot der libyschen Küstenwache erschienen, habe die Retter mit
       der Androhung von Waffengewalt zurückgedrängt, etwa 50 Migrant:innen auf
       ihr Boot gezwungen und zurück nach Libyen gebracht.
       
       Dasselbe Patrouillenboot soll kurz darauf zu einem zweiten Einsatz
       aufgebrochen sein, wieder hätte die Besatzung Menschen auf offenem Meer
       gezwungen, auf ihr Boot zu wechseln. Aus Panik seien dabei manche ins
       Wasser gesprungen, die Küstenwache habe einen Schuss abgefeuert. Die Crew
       der Humanity 1 habe im Anschluss 77 Menschen an Bord nehmen können.
       Überlebende hätten berichtet, dass mindestens ein Mensch in der Situation
       ertrunken sei.
       
       ## Behörden legen Rettungsschiff an die Kette
       
       Auf Anweisung der italienischen Rettungsleitstelle fuhr die Humanity 1 mit
       den Geretteten [2][in den italienischen Hafen Crotone in Kalabrien]. Dort
       kam das Schiff am Montagabend an und wurde von den italienischen Behörden
       für 20 Tage festgesetzt. Laut SOS Humanity begründeten die Behörden die
       Festsetzung mit dem Vorwurf, dass Anweisungen nicht befolgt worden seien
       und dadurch Menschenleben gefährdet worden wären.
       
       „Tatsächlich war es die von der EU finanzierte sogenannte libysche
       Küstenwache, die das Leben der Flüchtenden im Wasser sowie unserer
       Rettungscrew gefährdeten“, heißt es in einer Erklärung von SOS Humanity.
       
       7 Mar 2024
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Neues-Seenotrettungsschiff-Sea-Watch-5/!5953879
   DIR [2] /Ein-Jahr-nach-Schiffsunglueck-in-Italien/!5991702
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Christian Jakob
       
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