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       # taz.de -- Terror in Konzerthalle: Schuld und Sühne
       
       > Nach dem Anschlag bei Moskau versucht der Kreml, Spuren in die Ukraine zu
       > legen. Diskutiert wird auch eine Wiedereinführung der Todesstrafe.
       
   IMG Bild: Suche nach Trost: Am Sonntag hielt Russland wie hier in St. Petersburg einen nationalen Trauertag ab
       
       BERLIN taz | Ganz Russland trauert an diesem Sonntag: Landesweit sind die
       Fahnen auf halbmast gesetzt. In vielen Städten sind spontan Gedenkorte
       entstanden. Der Strom von Menschen, die dort Stofftiere und Blumen ablegen
       sowie Kerzen anzünden, reißt nicht ab. Vor dem Veranstaltungskomplex Crocus
       City Hall in Krasnogorsk ist ein riesiges Blumenmeer zu sehen. Arbeiter mit
       schwerem Gerät räumen Trümmer beiseite und tragen die verkohlten Reste des
       Gebäudes ab.
       
       In dem Moskauer Vorort [1][hatten Bewaffnete am Freitagabend am Eingang des
       Konzertsaals], wo die russische Rockband Piknik auftreten sollte, das
       Feuer auf Sicherheitskräfte eröffnet und eine Brandbombe geworfen. Diese
       löste ein Feuer in der Halle aus.
       
       Anschließend drangen die Attentäter in den Saal ein und mordeten unter
       Rufen wie „Allahu akbar“ wahllos weiter. Die vorläufige schreckliche
       Bilanz: 137 Personen wurden getötet, 154 verletzt – einige davon schwer.
       Mindestens zehn Menschen werden noch vermisst.
       
       Es ist der schwerste Terroranschlag in der Russischen Föderation seit 2004.
       Damals hatten [2][tschetschenische Terroristen in Beslan] (Nordossetien) in
       einer Schule mehr als 1.200 Geiseln genommen. Bei der Erstürmung des
       Gebäudes kamen nach offiziellen Angaben 331 Geiseln ums Leben, die meisten
       von ihnen Minderjährige.
       
       ## Täter-Video auf Telegram verbreitet
       
       Die Crocus City Hall gehört zu einem gleichnamigen Geschäftszentrum, das
       über die Moskauer Ringstraße zu erreichen ist. Es gibt eine Fußgängerbrücke
       über den Fluss Moskwa sowie von der U-Bahn-Station Mjakinino einen direkten
       Durchgang zur Konzerthalle. Dieser ist sowohl über den Haupteingang als
       auch über Parkplätze zu erreichen. Zum Zeitpunkt des Anschlags könnten sich
       laut dem Internetportal insider.ru bis zu 6.000 Menschen in dem Gebäude
       aufgehalten haben.
       
       Wie die Attentäter unbehelligt in das Gebäude gelangen konnten, ist nach
       wie vor unklar. „Heute ist mein zweiter Geburtstag. Ich bin am Leben.Wir
       haben es in die Garderobe geschafft. Es herrschte Panik, sie hätten beinahe
       jemanden in der Schranktür zerquetscht. Wir sind mehr als eine halbe Stunde
       herumgelaufen. Während dieser Zeit waren nirgendwo Sicherheitsdienste zu
       sehen. Im Großen und Ganzen sind wir alleine rausgekommen“, zitiert die
       oppositionelle russische Zeitung Nowaja Gazeta Europe die Benutzerin Marina
       Truschina auf dem sozialen Netzwerk VKontakte.
       
       Bereits am Freitagabend hatte die Dschihadistenmiliz Islamischer Staat
       Khorasan Provinz (ISKP), eine lokale Gruppierung des IS, den Anschlag für
       sich reklamiert. Einen Tag später erfolgte eine Bestätigung im Onlinedienst
       Telegram. Der Anschlag sei Teil des „natürlichen Kontextes des tobenden
       Kriegs“ mit den „Ländern, die den Islam bekämpfen“, heißt es dort. Auf
       einem ebenfalls auf Telegram verbreiteten Video des Angriffs, mutmaßlich
       von den Attentätern aufgenommen, ist zu sehen, wie einer von ihnen einer
       verletzten Person die Kehle durchschneidet.
       
       Am Samstag ließ der Kreml die Festnahme von elf Verdächtigen bekannt geben
       – darunter auch die der vier Angreifer. Sie seien ausländische
       Staatsbürger, einige von ihnen aus dem zentralasiatischen Land
       Tadschikistan, wie russische Medien berichteten. Die Festnahmen seien in
       der Region Brjansk erfolgt, die an Belarus und die Ukraine grenzt. Der
       Inlandsgeheimdienst FSB gab an, die mutmaßlichen Täter hätten „Kontakte“ in
       die Ukraine und hätten dorthin fliehen wollen.
       
       Die Erzählung, [3][die Spur führe in die Ukraine, tischte auch Russlands
       Präsident Wladimir Putin seinen Landsleuten in einer TV-Ansprache auf], die
       erst 19 Stunden nach dem Terroranschlag ausgestrahlt wurde. Die Täter
       hätten die russisch-ukrainische Grenze überqueren wollen. Dort habe die
       Ukraine schon ein „Fenster“ für deren Grenzübergang vorbereitet, sagte
       Putin. Beweise für diese Beschuldigung nannte der Kremlchef nicht. Auch den
       IS erwähnte er nicht.
       
       ## Selenskyj nennt Putin Dummkopf
       
       Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj ging am Samstag in seiner
       allabendlichen Videoansprache auf die Vorwürfe ein. Nach dem, was in Moskau
       passiert sei, „versuchen Putin und die anderen Mistkerle natürlich nur,
       jemand anderem die Schuld in die Schuhe zu schieben. Anstatt sich um seine
       russischen Bürger*innen zu kümmern und sich an sie zu wenden, hat dieser
       Dummkopf Putin einen Tag lang geschwiegen und überlegt, wie er das mit der
       Ukraine in Verbindung bringen kann“, sagte Selenskyj.
       
       Derweil befeuert der jüngste Anschlag in Russland Debatten, wieder die
       Todesstrafe einzuführen. Der Chef der Duma-Fraktion Einiges Russland,
       Wladimir Wassiljew, kündigte am Samstag Pläne an, sich in der Duma
       „eingehend mit der Frage der Aufhebung des Moratoriums für die Todesstrafe
       im Einklang mit den ‚Erwartungen der Gesellschaft‘ zu befassen.“ Die
       Verhängung dieses Moratoriums war seinerzeit aufgrund von Russlands
       Mitgliedschaft im Europarat erfolgt. Dem gehört Moskau aber seit 2022 nicht
       mehr an. Der Präsident des russischen Verfassungsgerichts Waleri Sorkin
       hatte schon 2022 darauf hingewiesen, dass eine Aufhebung des Moratoriums
       die Annahme einer neuen Verfassung erforderlich mache.
       
       Besagte Erwartungen der Gesellschaft könnten jedoch noch in eine ganz
       andere Richtung gehen. „Die Geheimdienste konzentrieren sich auf politische
       Ermittlungen und die Einschüchterung von Bürgern. Sie kommen ihrer
       unmittelbaren Verantwortung, die Gesellschaft vor realen Bedrohungen zu
       schützen, nicht nach“, schreibt der russische Journalist Dmitri Kolezew auf
       X. „Der Angriff von 22. März sieht nach einem grandiosen Versagen des
       Staats aus. Es werden unglaubliche Summen für ‚Sicherheit‘ ausgegeben, aber
       diese Sicherheit wird nicht gewährt.“
       
       Unterdessen wurden am Sonntag mehrere Angriffe auf Migranten aus
       Zentralasien gemeldet. In der Region Moskau warf eine Gruppe junger Männer
       vier Tadschiken aus einem Nahverkehrszug, nachdem sie Berichten zufolge
       damit gedroht hatten, sie zu töten.
       
       24 Mar 2024
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Barbara Oertel
       
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