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       # taz.de -- Digitales Arbeiten: Die Pünktlichkeits-Pandemie
       
       > Zoom-Treffen haben das Verständnis von Zeit verändert und die
       > Zusammenarbeit untereinander. Meetings werden oftmals zum Selbstzweck.
       
   IMG Bild: Früher hätte man sich kurz getroffen, wenn man im gleichen Gebäude arbeitet, heute muss es ein digitales „Meeting“ sein
       
       Zeit ist ein Element der Freiheit oder der Herrschaft. Die ersten
       mechanischen Zeitmessgeräte wurden von Mönchen erfunden, die ihren
       Tagesablauf genauer regeln wollten. Im 14. und 15. Jahrhundert verbreitete
       sich die Uhr dann in weiten Teilen Europas. „The Clockwork Self“ heißt ein
       schon etwas älteres Buch von Adam Max Cohen, das sich mit dem Aspekt der
       europäischen Disziplinierungsgeschichte befasst – das Ich als Uhrwerk.
       
       Was das mit heute zu tun hat? Die Coronapandemie, [1][die vor vier Jahren
       begann], und die staatlichen Eindämmungsmaßnahmen hatten auf den
       verschiedensten Ebenen gravierende Folgen: Allzu viele Menschen leiden
       immer noch unter den gesundheitlichen Folgen. Die Debatte über Homeoffice
       und eine grundsätzlich andere Perspektive auf Sinn und Wesen und Wert von
       Arbeit hält an. Die langfristigen psychischen Folgen, vor allem für Kinder
       und Jugendliche, treten immer deutlicher zutage. Die Innenstädte verändern
       sich, weil das Leben und auch das Shoppen immer digitaler werden. Manche
       sprechen auch schon von einer neuen Immobilienkrise, besonders Büros und
       andere kommerzielle Immobilien – und damit auch von einer neuen
       Bankenkrise.
       
       Was sich aber auch verändert hat, ist die Beziehung von Menschen zur Zeit –
       so erlebe ich das jedenfalls. [2][Durch die Zoom-Treffen, die sich während
       der Pandemie etabliert habe]n und die heute oft eins nach dem anderen
       stattfinden, back to back, wie man so sagt, ist eine Vorstellung von
       Pünktlichkeit entstanden, die wie eine digitale Variante der frühmodernen
       Klöster-Doktrin erscheint: Wie oft wurden denn vor der Pandemie Treffen
       mehr oder weniger auf die Sekunde hin begonnen? Gab es vor der Pandemie
       schon diesen inneren Druck, wenn man auch nur zwei Minuten zu spät zu einem
       Treffen erscheint? Was sind die Folgen dieser Art von digitaler
       Selbstdisziplinierung?
       
       Mir scheint es, dass die technologischen (Selbst-)Kontrollmechanismen sehr
       rasch verinnerlicht wurden. Und dass sich mit der stummen Herrschaft über
       die Zeit etwas verändert hat, das mit dem Wesen der digitalen Techniken zu
       tun hat. Das digitale Zeitalter [3][ermöglicht Anwesenheit über physische
       Grenzen hinweg – das hat viele Vorteile, aber auch deutliche psychologische
       Folgen]. Es verändert, wie wir uns sehen, wie wir unsere Tage
       strukturieren, wie sich unser Leben reguliert. Im Alltag scheint es indes
       noch nicht ganz so angekommen zu sein. In der Arbeitswelt hingegen, so wie
       ich sie erlebe, hat das Folgen für die Art und Weise, wie „Meetings“
       geführt und Zusammenarbeit organisiert wird.
       
       Diese Veränderungen gehen über die Regulierung der Zeit hinaus, haben aber
       damit zu tun. Die digitalen Meetings etwa, die für viele Menschen nun ihre
       Arbeit prägen und der Auslöser der neuen Pünktlichkeits-Pandemie sind, Zoom
       oder Teams oder was sie eben nutzen, haben viele Vorteile, die auch
       performative Nachteile sind: Man kann durch die Technik sehr viele Treffen
       organisieren, die analog oder in Person nicht möglich wären und die sehr
       schnell und effizient Kommunikation ermöglichen; man kann überhaupt sehr
       viele Treffen organisieren, die eventuell gar nicht nötig wären, wenn es
       nicht die Technik gäbe, die diese Treffen ermöglichte.
       
       Kommunikation wird damit von etwas, was Menschen tun, zum eigentlichen
       Gegenstand der Arbeit, oft zur Arbeit selbst – auch wenn es auf mich
       manchmal eher wie das Gegenteil dessen wirkt, was Arbeit ist. Das kann
       daran liegen, dass ich eine solitäre Art der Arbeit verfolge, das
       Schreiben; das kann auch daran liegen, dass ich oft den Eindruck habe, dass
       Planung und Prozess das eigentliche Arbeiten ersetzen. Auch das hat einen
       Aspekt der Zeitlichkeit – bestimmte Arten von Arbeit hatten ein Ergebnis,
       ein Ziel; das prozesshafte, digitale Gleiten lässt Zeit dagegen eher breiig
       werden und seltsam zäh.
       
       ## Logik der digitalen Technik
       
       Klar ist, dass die Logik der digitalen Technik die Logik der Arbeit
       bestimmt – ohne dass das oft wirklich reflektiert wird. Denn so ist das mit
       Digitalen: Es schafft sich die Bedürfnisse und die Realitäten, die es
       braucht, um zu funktionieren. Früher hätte man sich kurz getroffen, wenn
       man im gleichen Gebäude arbeitet, heute muss es ein digitales „Meeting“
       sein.
       
       Mir fällt das immer auf, wenn ich etwa Fotos aus den 1930er und 1940er
       Jahren anschaue, zum Beispiel die Bilder vom Strand von Coney Island in New
       York, die der amerikanische Fotograf Weegee gemacht hat, der eigentlich
       Arthur Fellig hieß und in Galizien in der heutigen Ukraine geboren wurde –
       all die Menschen, die da dicht an dicht gedrängt stehen.
       
       Solche Szenen gibt es heute nicht mehr, genauso wie es überhaupt diese
       Massen nicht mehr auf den Straßen gibt, wie man sie etwa auf alten Bildern
       vom Potsdamer Platz in Berlin sieht. Es gibt damit eigentlich die Masse
       nicht mehr, den treibenden und in vielem gefährlichsten politischen Faktor
       des frühen 20. Jahrhunderts, jedenfalls nicht mehr in der sichtbaren Form.
       
       ## Früher war die Straße interessanter
       
       Was ist geschehen? Die einfachste Erklärung ist, dass es eine Zeit vor der
       Einführung des Fernsehens gab, als es interessanter war, auf der Straße
       oder am Strand zu sein, als zu Hause vor der tapezierten oder nicht
       tapezierten Wand oder auch dem Radio; und dass es eine Zeit danach gibt, wo
       die Menschen nun lieber zu Hause bleiben?
       
       Waren sie glücklicher zuvor, waren sie glücklicher danach? Darum geht es
       erst einmal nicht. Es geht darum zu verstehen, wie Technologie oder
       Technik, die Uhr, der Fernseher, das Internet, das Leben reguliert und
       reglementiert, oft ohne Widerspruch oder überhaupt Bewusstsein. Das ist das
       Faszinierende oder auch die fast physische Macht von Technologie. Es ist
       ein dauerndes Ausverhandeln, was die Menschen meistens nicht selbst machen,
       sondern es hinnehmen. Die Wirkungen von Technologie lassen sich erst nach
       und nach ermessen. Ein Feldversuch.
       
       27 Mar 2024
       
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