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       # taz.de -- Polizeigewalt in Dessau: Sein Name war Rose
       
       > Ein Familienvater stirbt 1997 schwerverletzt, kurz nachdem er in einem
       > Dessauer Polizeirevier war. Jetzt zeigen seine Angehörigen vier
       > Polizisten an.
       
   IMG Bild: Hans-Jürgen Rose, Anfang der 1990er Jahre
       
       Dass es schlecht aussah, das hatte Michael N. sofort erkannt. „Ich hab
       gleich gesagt, Mensch, hoffentlich hat der keine inneren Verletzungen oder
       was.“ In der Nacht auf den 7. Dezember 1997 wird der Polizist N. zu einem
       Wohnblock in der Dessauer Innenstadt gerufen. Schwer verletzt liegt vor dem
       Haus ein Mann, nur einen Steinwurf entfernt von dem Revier, in dem N.
       Dienst tat. „Der war mir fast am Abnippeln, ich musste den ja am Leben
       halten.“
       
       N. ist heute Pensionär. Er steht im engen Flur eines Mietshauses in Dessau,
       in blauem Camp-David-Sweatshirt und Jeans, drahtig, ein Ex-Kampfsportler,
       Motorradfahrer. Fast eine Stunde spricht er mit der taz und berichtet von
       dieser Nacht. „Es war schweinekalt, der hat geklappert wie ein Maikäfer.“
       
       Als Michael N. 2013 das letzte Mal zu den Ereignissen jener Nacht vernommen
       wird, kann er sich wichtige Punkte „nicht mehr in seine Erinnerung
       zurückholen“, so notiert es der Staatsanwalt. Aber heute, an diesem Freitag
       im März, ist die Erinnerung wieder da. Er habe Verstärkung gerufen, sagt
       er. „Ich hab gleich gesagt, alles ran hier, was ranzuholen ist.“
       
       Es dauert eine halbe Stunde, bis der Rettungswagen kommt. 28 Stunden
       später, um 9.25 Uhr am 8. Dezember, stirbt der Mann im Städtischen Klinikum
       Dessau an inneren Verletzungen, die kurz vor seinem Tod eine
       Querschnittslähmung verursachen, übersät mit tiefen Hautunterblutungen,
       zerquetschtem Hoden, Lungenabriss, von Schlägen auf den Kiefer waren Zähne
       ins Gesicht durchgestoßen, ein Lendenwirbel so zertrümmert, dass der
       Wirbelkanal offen liegt. Der Name des Toten war Hans-Jürgen Rose, ein
       Maschinenbauingenieur aus Wolfen nahe Dessau. Als er stirbt, ist er 36
       Jahre alt, Vater dreier Kinder.
       
       ## Einer von drei Toten auf diesem Polizeirevier
       
       Vier Stunden bevor Michael N. ihn vor dem Wohnblock Wolfgangstraße 15
       findet, war Rose von Polizisten in das nahe gelegene Dessauer Polizeirevier
       in der Wolfgangstraße 25 gebracht worden, wegen Trunkenheit am Steuer.
       
       Rose ist einer von drei Menschen, die zwischen 1997 und 2005 sterben,
       nachdem oder während sie auf diesen Polizeirevier waren: 2002 wird der
       alkoholkranke Mario Bichtemann mit einem Schädelbasisbruch in der
       Ausnüchterungszelle 5 des Reviers gefunden. [1][2005 verbrennt der Sierra
       Leoner Oury Jalloh in derselben Zelle.] Der wegen fahrlässiger Tötung
       Jallohs angeklagte und 2008 freigesprochene Polizeibeamte Hans-Ulrich M.
       ist auch in der Nacht im Revier im Dienst, in der Rose so schwer verletzt
       wird.
       
       Roses Familie will die Sache nicht ruhen lassen. Am Donnerstag hat sie vier
       Polizeibeamte aus Dessau, Kollegen von Michael N., wegen Mordes an Rose
       angezeigt – beim Generalbundesanwalt in Karlsruhe.
       
       Zwei Mal hat die Justiz die Ermittlungen in der Sache eingestellt, erst
       2002, dann 2014. Es sei „nicht auszuschließen“, dass Unbekannte Rose
       totprügelten oder dass er ohne Fremdeinwirkung einfach aus dem Fenster
       fiel, heißt es dazu im letzten Einstellungsvermerk der Staatsanwaltschaft.
       
       Doch jetzt wurden neue Fakten bekannt, die daran Zweifel aufkommen lassen:
       Offenbar manipulierte Einsatzprotokolle, Ermittlungsakten, die auf ein
       völlig anderes Geschehen hindeuten – und Zeugenaussagen.
       
       ## Unmöglicher Geschehensablauf
       
       Viele der neuen Erkenntnisse gehen auf die jahrelange Investigation einer
       Gruppe namens [2][Recherche Zentrum] zurück, die aus der Initiative
       Gedenken an Oury Jalloh hervorgegangen ist. Die mit privaten Spenden
       finanzierte Gruppe von Investigativjournalist*innen, Filmemacher*innen
       und Aktivist*innen hat sich der „Aufklärung von möglichen
       Polizeimorden“ verschrieben. Im Fall Rose hat sie viele der Vorgänge
       rekonstruiert – und die Anzeige mit der Familie gemeinsam gestellt.
       
       „Wir hoffen, etwas Gerechtigkeit zu bekommen“, sagte Iris Rose am
       Donnerstag auf einer Pressekonferenz, bei der das Recherche Zentrum die
       Indizien präsentierte, die nun zur Anzeige gegen die Polizisten führten.
       Iris Rose ist mit ihrer Tochter gekommen. Fast 27 Jahre lebt die Familie
       damit, nicht zu wissen, wie ihr Ex-Mann und Vater starb. „All die Jahre
       wurden wir belogen“, sagte Iris Rose. „Aber die Täter haben ihr Leben noch
       und zeigen keine Reue.“
       
       Unstrittig ist, dass der damals arbeitslose Maschinenbauingenieur Rose in
       jener Nacht mit einem befreundeten Paar in einer Dessauer Kneipe sitzt.
       Gegen 1 Uhr fährt er von dort betrunken mit dem Auto zur Zerbster Straße
       39. Hier wohnt das Pärchen, bei dem der von seiner Frau getrennt lebende
       Rose damals untergekommen war. Beim Einparken rammt er ein Auto. Dessen
       Besitzer kommt auf die Straße, nimmt Rose den Schlüssel weg. Eine Passantin
       ruft die Polizei. Die Beamten Thomas B. und Manfred H. erscheinen, lassen
       Rose pusten. Sie stellen 1,98 Promille fest, nehmen ihn zur Blutabnahme mit
       auf das Polizeirevier. Bis 2:55 Uhr nimmt der hinzugerufene Polizeiarzt
       Andreas Blodau Rose Blut ab. So geht es aus den Ermittlungsakten hervor.
       
       Doch was dem so genannten Lagefilm des Reviers – eine Art Logbuch, in dem
       die Geschehnisse einer Schicht eingetragen werden – zufolge dann geschehen
       sein soll, ist praktisch unmöglich.
       
       Demnach soll Rose um 3.01 Uhr entlassen worden sein und dabei angedeutet
       haben, wieder fahren zu wollen. Der Polizist Thomas B. schickt zwei
       Streifenbeamte zur Zerbster Straße, wo noch Roses Auto steht. Die Beamten
       Udo H. und Mario N. wollen Rose bereits um 3.02 Uhr in seinem Auto fahrend
       sehen, obwohl es zu Fuß mindestens sieben Minuten dorthin dauert. Statt den
       Betrunkenen aufzuhalten, wollen sie zugeschaut haben, wie er in
       Schlangenlinien wegfährt. Sie seien ihm gefolgt, zwei Kilometer
       stadtauswärts. Um 3.08 Uhr wollen sie ihn am Wallwitzhafen an der
       Muldebrücke angehalten, ihm den Schlüssel weggenommen und ihn erneut aufs
       Revier gebracht haben.
       
       Die erst später aufgetauchte Anzeige wegen dieser angeblichen zweiten
       Trunkenheitsfahrt soll um 3.10 Uhr geschrieben worden sein – nur zwei
       Minuten, nachdem Rose weit außerhalb der Stadt angehalten worden sein soll
       und nur neun Minuten nach der ersten Entlassung. Schon um 3.35 Uhr soll
       Rose dann das zweite Mal aus dem Polizeirevier entlassen worden sein.
       
       ## Von Unbekannten überfallen?
       
       Danach, so die These der Justiz, könnte Rose von Unbekannten überfallen
       worden sein. Oder er könnte sich Zugang zum Haus Wolfgangstraße 15
       verschafft haben und dort aus dem Fenster gefallen oder gestoßen worden
       sein.
       
       Um 5 Uhr meldet dann ein Anwohner, dass ein Mann vor seinem Haus liegt. Der
       Schichtleiter schickt Michael N.
       
       Nun könnten die Uhrzeiten im Lagefilm des Polizeireviers einfach falsch
       eingetragen worden sein. Und die Beamten Udo H. und Mario N. könnten Rose
       an seiner zweiten Trunkenheitsfahrt in dieser Nacht nicht gehindert haben,
       obwohl sie das hätten tun müssen, warum auch immer.
       
       Doch es gibt ein vom Recherche Zentrum in Auftrag gegebenes Gutachten des
       Londoner Forensikers John Richard Welch. Der arbeitete 38 Jahre in der
       Abteilung für Dokumentenforensik des kriminaltechnischen Labors der
       Metropolitan Police und ist heute als Sachverständiger tätig. Im Oktober
       2023 hat Welch die Rose-Akte untersucht. Das Ergebnis: Alle
       Lagefilm-Einträge zu Rose, von 1.11 Uhr morgen bis 15 Uhr an jenem Tag,
       seien manipuliert. Die „Unkenntlichmachung einiger Einträge (…) ist
       offensichtlich“, so Welch. Es gebe „Hinweis auf andere Änderungen, die
       heimlich vorgenommen wurden“ (…). Mit Schreibmaschine sei auf
       „eingetrocknete weiße Korrekturflüssigkeit“ geschrieben worden.
       
       Aber weshalb?
       
       ## „Zahlreiche stumpfe Gewalteinwirkungen“
       
       Um 3.20 Uhr – rund 25 Minuten nachdem Rose angeblich zum ersten Mal
       entlassen wurde – sieht der Polizeiarzt Andreas Blodau Rose noch einmal im
       Treppenhaus des Reviers, begleitet von Polizisten. Eine womöglich
       erfundene, zweite Trunkenheitsfahrt könnte dazu dienen, die Begegnung
       Blodaus mit Rose zu dieser Zeit zu erklären.
       
       Als Rose am 8. Dezember in der Städtischen Klinik stirbt, reicht die
       Anästhesistin und Intensivmedizinerin Barbara Fiedler eine Anzeige zur
       Todesermittlung bei der Dessauer Kripo ein. Per Formular beantragt sie eine
       Autopsie. Das ist das Standardvorgehen, wenn ein Tod keine natürliche
       Ursache hat.
       
       Die Polizeidirektion beauftragt die Hallenser Rechtsmedizinerin Uta
       Romanowski, zu klären, ob die Verletzungen auf „Verkehrsunfall?, Sturz aus
       der Höhe?, Misshandlung?, Kombination?“ zurückzuführen sind. Zudem soll
       Romanowski prüfen, ob die Verletzungen am Rücken mit einem Schlagstock
       entstanden sein können. Die Ermittler übergeben ihr drei verschiedene
       Schlagstock-Modelle – jene, die die Beamten auf dem Dessauer Revier im
       Einsatz hatten.
       
       Romanowski kommt zu dem Schluss, dass die „zahlreichen stumpfen
       Gewalteinwirkungen“, die zu Roses Tod führten, „als Folge von
       Misshandlungen anzusehen sind“. Die parallelen Blutungen auf dem Rücken
       entstünden „typischerweise durch Stockschläge“. Einer der drei ihr
       übergebenen Polizei-Schlagstöcke weise die Breite der Blutungsstreifen von
       2,5 Zentimetern auf und wäre „am ehesten (…) geeignet, diese Verletzungen
       zu verursachen“.
       
       Am Schulterblatt, am Rücken, an der Innenseiten der Beine und am Hoden
       seien Verletzungen erkennbar, bei denen „am ehesten an Fußtritte zu denken
       ist“.
       
       Eine „besonders schwere Gewalteinwirkung“ hingegen sei so intensiv, dass
       sie durch Schläge oder Tritte nicht zu erklären sei. Hier komme am ehesten
       ein Sturz aus der Höhe infrage. Aber: Das „Gesamtverletzungsmuster“, das
       Fehlen von Kopfverletzungen und bestimmten Abschürfungen, spreche dagegen,
       dass Rose so aus dem Fenster fiel, wie er aufgefunden wurde. Die
       Verletzungen wären am ehesten so zu erklären, dass er aus der Höhe auf
       einen „prominenten Gegenstand“ aufprallte. Doch die Gegebenheiten an der
       Hauswand von Roses Fundort, seien „mit Sicherheit als Verletzungsursache
       auszuschließen“. Wäre Rose dort heruntergefallen, dann sähe die Leiche
       anders aus, so schließen Romanowski und der Leiter der Gerichtsmedizin
       Halle.
       
       ## „Nie eine Erklärung bekommen“
       
       Ermittlerfotos von einer Treppe, die offenbar zum Speisesaal im Dessauer
       Polizeirevier führt, zeigen das Ende des Treppengeländers mit einem großen
       Knauf.
       
       Mit der Presse will Romanowski heute nicht sprechen. Doch in einem
       aufgezeichneten Gespräch mit dem Recherche Zentrum, das die taz anhören
       konnte, sagt sie: „Die Befunde waren eigentlich so eindeutig, dass man da
       kein langes Überlegen mehr gebraucht hatte.“ Der Gedanke daran habe „uns
       nie so richtig losgelassen“ und sie „etliche Jahre beschäftigt.“ Die
       Mediziner hätten „eigentlich nie eine Erklärung bekommen, wer das
       verursacht hat“, so Romanowski. Sie habe sich gewünscht, „dass eines Tages
       jemand von der Staatsanwaltschaft oder von der Ermittlungsbehörde kommt und
       sagt: Also, Sie hatten recht, wir wissen jetzt, wie es gewesen ist, der und
       der hat in dieser Situation diese Verletzung verursacht, auf den Herrn Rose
       eingeschlagen, so hätte ich mir gewünscht, dass der Fall geklärt wird.“
       
       Was also geschah, bevor Rose starb?
       
       Rose galt als aufbrausend. Er soll die Angewohnheit gehabt haben, Menschen
       zu provozieren.
       
       Laut Anzeige der Familie beim Generalbundesanwalt habe Rose das Revier
       nicht verlassen. Stattdessen sei womöglich ein Streit mit ihm eskaliert.
       Polizisten hätten Rose schwer misshandelt. Anschließend hätten sie ihn vor
       das Haus in der Wolfgangstraße gebracht, um den Verdacht auf Unbekannte zu
       lenken.
       
       ## Speisesaal als „Aufenthaltsort des Rose“?
       
       In der Rose-Akte finden sich seitenweise Fotos aus dem Gebäude des
       Polizeireviers. Die Todesermittler machten die Aufnahmen am 15. Dezember
       1997. Ihre Bildmappe ist überschrieben mit „Räumlichkeiten Polizeirevier
       Dessau Aufenthaltsort des Rose“. Doch sie zeigen weder eine Gewahrsamszelle
       noch einen Vernehmungsraum. Stattdessen sind Steinsäulen im Speisesaal
       fotografiert, durchnummeriert, mit angelegten Maßstäben. Aus der Akte geht
       hervor, dass von diesen Säulen auch DNA-Abstriche genommen wurden. Es
       handelt sich um den Speisesaal für die Beamten, der über eine Treppe vom
       Rest des Reviers getrennt ist.
       
       Warum wird dieser Raum als „Aufenthaltsort des Rose“ untersucht? Wurde Rose
       dorthin gebracht, an eine der Säulen gekettet und misshandelt?
       
       Der pensionierte Polizist Michael N. sagt, dass es „Anfang der 1990er
       Jahre“ Usus gewesen sei, im Speisesaal Menschen anzuketten, weil es damals
       „zu viele Gefangene“ gegeben habe. „Irgendwie müssen wir die ja fixieren“.
       Später sei das aber nicht mehr so gehandhabt worden.
       
       Eine weitere Ungereimtheit sind die Anzeigen gegen Rose. Als Ermittler
       Roses Tod untersuchen, liegen diese nicht vor. Erst später werden sie der
       Akte beigefügt.
       
       Die erste – wegen des Verkehrsunfalls und Fahren unter Alkoholeinfluss –
       soll von dem Polizeibeamten Thomas B. um 2.51 Uhr am Computer erstellt
       worden sein. Aber: Die Computer-Logdaten des Reviers für jenen Tag sind
       offenbar nicht auffindbar. Stattdessen legt ein Polizeihauptkommissar Abel,
       der EDV-Beauftragte des Reviers, den Todesermittlern eine offensichtlich
       handgeschriebene Excel-Tabelle mit den Logdaten der Diensthabenden vor. Sie
       soll belegen, dass Thomas B. tatsächlich zu jener Zeit am Rechner saß. Doch
       während bei allen anderen Einträgen der Tabelle das korrekte fragliche
       Datum 7. Dezember steht, steht in der Zeile von Thomas B. der 6. Dezember.
       Die Ermittler fragen den EDV-Beauftragten Abel, wie das möglich sei. Dessen
       Antwort: ein „Computerfehler“. Den Ermittlern reicht die Auskunft, wie sie
       handschriftlich vermerken.
       
       ## Herr P. will nichts mehr sagen
       
       Die Ermittlungen leitete damals zuerst der Kriminalkommissar Uwe P. Er
       ermittelte zunächst gegen die eigenen Kollegen. Die Witwe Iris Rose sagt,
       dass Uwe P. ihr später in einem persönlichen Gespräch gesagt habe, die
       Polizei wisse, „wer diese Täter sind, aber sie könnten dagegen nichts
       machen“, so Iris Rose.
       
       Uwe P. lebt heute als Pensionär in einem kleinen Dorf auf dem Land, nahe
       Dessau. Statt die Tür zu öffnen, stellt er sich hinter das Fenster im
       Hochparterre, stellt das Fenster auf Kipp und sagt nur sehr lang: „Ja?“
       Eine Erklärung unterbricht er sofort und sagt, er werde zu der Sache „gar
       nichts mehr sagen“ und damit sei „doch alles gesagt“. Dann schließt er das
       Fenster. Man wüsste gern von ihm, was er Iris Rose sagte, warum er die
       Säulen im Speisesaal fotografieren ließ, was er zu den Manipulationen im
       Einsatzjournal sagt, zum Gutachten der Rechtsmedizin. Doch auf einen Brief
       mit Nachfragen und auf Nachrichten auf dem Anrufbeantworter reagiert er
       nicht.
       
       Der wohl erste Hinweis auf mögliche Polizeigewalt stammt von dem Polizisten
       Michael N. Noch am Morgen des 7. Dezember gibt er zu Protokoll, in der
       vorigen Nacht etwas Merkwürdiges gehört zu haben. „Ich hatte da schon
       Informationen, die hatten den vorher schon“, sagt er heute dazu. Durch die
       Wand zum Pausenraum des Polizeireviers hätten sich Kollegen unterhalten.
       „Der wollte mir doch ein paar in die Fresse hauen, da hab ich ihm eine
       reingezogen“, so zitiert ein Staatsanwalt aus Michael N.s erster
       Vernehmung. Der taz bestätigt Michael N., an jenem Morgen aus dem Nebenraum
       sinngemäß einen solchen Satz gehört zu haben. „Den haben wir ordentlich
       verrollt“, sagt er, der Satz sei gefallen. Die Stimme habe er aber nicht
       erkannt.
       
       Noch etwas ist auffällig: Als Michael N. in jener Nacht mit dem schwer
       verletzten Rose auf den Krankenwagen wartet, tauchen die beiden Beamten
       auf, die Rose wenige Stunden früher aufs Revier gebracht hatten: Thomas B.
       und Manfred H. Michael N. sagt später, sie wirkten „sichtlich nervös“. Er
       fragt die beiden, ob sie Rose kennen – sie verneinen. „Wir haben ihn nicht
       erkannt“, sagt Manfred H. auch später bei der Staatsanwaltschaft. Sie
       hätten lediglich eine Wolldecke bringen wollen, nachdem sie Michael N.s
       Funkspruch gehört hatten.
       
       N. gibt auch das Erscheinen von B. und H. zu Protokoll. Etwa 14 Tage lang
       sei er danach mit Vernehmungen und Aussagen beschäftigt gewesen, erzählt
       Michael N. heute. Am Tag von Roses Tod sei er am Nachmittag, während er
       nach seiner Nachtschicht schlief, zur Vernehmung abgeholt worden. „Da sind
       die hier angedonnert und haben gesagt: ‚Micha, komm mal mit.‘“ Später seien
       ihm die Bilder der Leiche vorgelegt worden. „Die haben mich gefragt: 'Hast
       du den da verwichst?’“ Michael N., der Hinweise auf mögliches Fehlverhalten
       von Kollegen gibt, wird verdächtigt. Zwei der mit Rose befassten Polizisten
       werden nicht einmal befragt.
       
       ## 2002 wird die Akte geschlossen
       
       Das Ermittlungsverfahren in Sachen Rose wird 2002 eingestellt.
       
       Als das Landgericht Dessau fünf Jahre später den Tod Oury Jallohs
       verhandelt, bekommt der Jalloh-Anwalt Ulrich von Klinggräff ein anonymes
       Schreiben, das „offensichtlich aus Polizeikreisen stammte“, wie von
       Klinggräff heute der taz sagt. Es ist die Rede davon, dass im Fall Jalloh
       Beweismittel manipuliert wurden. Und: Zum ersten Mal wird in dem Brief ein
       möglicher Zusammenhang zwischen dem Tod von Oury Jalloh und dem Tod von
       Hans-Jürgen Rose hergestellt. Es seien auch da „Gewahrsamsakten
       manipuliert“ worden. „Bestimmte Beweismittel“ sollen „zurückgehalten worden
       sein und waren nie der Beweisakte beigefügt gewesen“.
       
       Nach einer Pressemitteilung der Initiative Gedenken an Oury Jalloh Anfang
       2013 leitet die Dessauer Staatsanwaltschaft ein neues Ermittlungsverfahren
       im Jalloh-Fall ein. Es steht der Verdacht im Raum, dass eine mögliche
       Tötung Jallohs dazu dienen sollte, neue Ermittlungen bei den früheren
       Todesfällen in dem Polizeirevier zu verhindern.
       
       Der Dessauer Oberstaatsanwalt Christian Preissner, späterer Präses der
       evangelischen anhaltinischen Landessynode, vernimmt 2013 die vier Beamten,
       die in der Nacht mit Rose zu tun hatten. Thomas B. und Manfred H. werden
       zum ersten Mal überhaupt in der Sache angehört – 16 Jahre nach dem Tod.
       Doch Thomas B. kann sich an nichts erinnern, Udo H. sagt, er habe mit den
       Verletzungen nichts zu tun, Manfred H. und Mario N. schildern einen ruhigen
       Einsatz, ohne besondere Vorkommnisse. Keiner kann sich erinnern, dass der
       von Michael N. gehörte Satz gefallen ist. Und so stellt Preissner am 28.
       Februar 2014 die Ermittlungen ein: Es gebe „keinen Anfangsverdacht gegen
       eine beteiligte Person“.
       
       Die Generalstaatsanwaltschaft Naumburg, die 2018 auch die Ermittlungen im
       Fall Jalloh schloss, erklärt auf Anfrage gegenüber der taz, die Rose-Akten
       im Rahmen des Jalloh-Verfahrens „einer Sichtung unterzogen“ zu haben. Dabei
       sei geprüft worden, „ob ein irgendgearteter Zusammenhang zwischen den
       einzelnen Sachverhalten bestehen könnte“. Das Ergebnis: Ein Zusammenhang
       zwischen Roses und Jallohs Tod sei „unter keinem Gesichtspunkt erkennbar“.
       
       ## Eine Sache des Gewissens
       
       Die taz hat die vier damals beteiligten Beamten ausfindig gemacht. Mario N.
       wohnt in einem unsanierten Plattenbau nahe der Dessauer Innenstadt. Er
       kocht mit seiner Frau, als er hört, worum es geht, will er nichts sagen.
       Thomas B. lebt und arbeitet in Magdeburg, die Tür seiner Plattenbauwohnung
       öffnet er nicht, bei Anrufen legt er sofort auf. Auch Manfred H. öffnet die
       Tür seiner Plattenbauwohnung nicht. Briefe lassen alle drei unbeantwortet.
       Udo H. ist nach Angaben seiner ehemaligen Lebensgefährtin vor Jahren mit
       einer anderen Frau in die Türkei ausgewandert.
       
       Er glaube nicht, dass einer seiner Kollegen im Dienst derartig gewalttätig
       geworden sein könnte, sagt der pensionierte Polizist Michael N. „Von der
       Polizei macht so was keiner. Das traue ich keinem zu.“ Aber was geschehen
       sei, „ich weiß es ja nicht“, sagt er. Mit Rose „gab es ja auch Ärger in der
       Nacht, mit dummen Sprüchen. Aber würden Sie da wen beschuldigen, wenn Sie
       es nicht genau wissen?“ Wenn da etwas vorgefallen sei, „das müssen die
       Kollegen ja mit sich ausmachen, mit ihrem Gewissen“.
       
       Iris Rose hofft darauf, dass sich nun Menschen melden, die in der Tatnacht
       auf dem Polizeirevier, vor dem Haus in der Wolfgangstraße oder in der
       Klinik etwas mitbekommen haben. „Auf Unterstützung der Polizei können wir
       nicht hoffen“, sagt sie. „Aber das Schlimmste wäre, wenn man es nicht
       versuchen würde. Damit wir Jürgen sagen können: Wir haben es versucht für
       dich.“
       
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       Transparenzhinweis: Wir haben an einer Textstelle die Jahreszahl
       korrigiert, wann die Justiz die Ermittlungen im Fall Rose eingestellt hat.
       Außerdem haben wir den Text mit Zitaten von Iris Rose von der
       Pressekonferenz am 28. März aktualisiert. Die Redaktion.
       
       28 Mar 2024
       
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   DIR Mutmaßliche Polizeigewalt in Dessau: Wer hat Hans-Jürgen Rose getötet?
       
       Der Ingenieur Hans-Jürgen Rose starb 1997 unter ungeklärten Umständen in
       Dessau. Vieles deutet auf Polizeigewalt hin. Die Staatsanwaltschaft lehnt
       neue Ermittlungen ab.
       
   DIR Neue Enthüllungen im Fall Oury Jalloh: Polizei verschwieg Telefonmitschnitte
       
       Neue Recherchen zeigen: Zwei Telefonate kurz vor dem Tod Oury Jallohs
       wurden zwar aufgezeichnet, aber nie den Ermittlungsakten beigefügt.
       
   DIR Essay zum Tod von Lorenz A.: Die Polizei ist eine Echokammer
       
       Wie konnte es zu den tödlichen Schüssen kommen, die Lorenz A. aus Oldenburg
       in Rücken und Hinterkopf trafen? Das Polizeiproblem geht alle an.
       
   DIR Todesfall Hans-Jürgen Rose: Nicht zuständig
       
       Hans-Jürgen Rose starb, nachdem er im Polizeirevier Dessau war. Vieles
       deutet auf Polizeigewalt hin. Doch der Generalbundesanwalt lehnt den Fall
       ab.
       
   DIR Polizisten vor Gericht in Aurich: Anklage wegen Körperverletzung
       
       In Emden sollen zwei Polizisten einen heute 21-Jährigen schwer verletzt
       haben. Den Beamten werden weitere Fälle von Körperverletzung vorgeworfen.
       
   DIR Verfassungsgericht zu Fall Oury Jalloh: Aussitzen nach Aktenlage
       
       Die Karlsruher Richter lehnen neue Ermittlungen im Fall Oury Jalloh ab. Das
       Urteil markiert den Schlusspunkt von 18 Jahren deutschem Justizversagen.
       
   DIR Bundesverfassungsgericht zu Oury Jalloh: Bruder von Oury Jalloh erfolglos
       
       Das Bundesverfassungsgericht lehnt Klage der Familie ab: Im Fall des
       verbrannten Asylsuchenden Oury Jalloh wird es keine neuen Ermittlungen
       geben.
       
   DIR Mordfall Oury Jalloh: „Ich schwöre, ich wars nicht“
       
       Vor 17 Jahren verbrannte Oury Jalloh. Wenn er sich nicht selbst getötet
       hat, wer dann? Die taz fragte am Einsatz beteiligte Polizisten.