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       # taz.de -- Aufarbeitung der Pandemie-Maßnahmen: Corona – die ganze Wahrheit
       
       > Ein obskures Online-Portal hat die Veröffentlichung von
       > Pandemie-Protokollen des Robert-Koch-Instituts erzwungen. Was bringt das
       > für die Aufarbeitung?
       
   IMG Bild: Demonstranten protestieren im November 2020 gegen Pandemie-Maßnahmen vor dem Brandenburger Tor in Berlin
       
       Was sind das für Dokumente und warum wurden sie jetzt veröffentlicht? 
       
       Es sind über 200 Dokumente, die nun an die Öffentlichkeit gelangt sind:
       interne Protokolle von Sitzungen des Coronakrisenstabs im
       Robert-Koch-Institut (RKI) von Januar 2020 bis April 2021. Während der
       Coronapandemie hatte das Institut, das dem Bundesgesundheitsministerium
       untersteht, eine zentrale Rolle inne. Beinahe täglich traf sich der
       Krisenstab. In den Sitzungen wurde über die Bewertung des Risikos für die
       Bevölkerung, die Wirksamkeit unterschiedlicher Schutzmaßnahmen oder die
       Verfügbarkeit von Impfstoffen gesprochen.
       
       Die Freigabe der Dokumente hat das Magazin Multipolar auf der Grundlage des
       Informationsfreiheitsgesetzes erstritten und nun auf seiner Webseite
       veröffentlicht. Multipolar ist eine 2020 gegründete Online-Plattform, für
       die im Impressum der Gründer und Mitherausgeber Paul Schreyer
       verantwortlich zeichnet. Schreyer gilt Politikwissenschaftlern als
       [1][„vergleichsweise geschickter Verschwörungstheoretiker“], er fiel unter
       anderem mit verschwörungsideologischen Deutungsmustern der 9/11-Anschläge,
       einer sehr russlandfreundlichen Lesart des Ukraine-Kriegs seit 2014 und
       einer 2020 erschienenen Publikation zur Coronapandemie auf. Er
       veröffentlichte zuvor auch auf einschlägigen Portalen wie „Rubikon“,
       „NachDenkSeiten“ und KenFM.
       
       Ob es sich bei den von Multipolar veröffentlichten Protokollen um die
       Originaldokumente handelt, wollte das RKI nicht bestätigen. Multipolar rief
       andere Medien zur weiteren Recherche in den Dokumenten auf.
       
       Warum sind Teile der Protokolle geschwärzt? 
       
       Sowohl Namen als auch ganze Passagen sind vor der Freigabe durch das RKI
       geschwärzt worden. In einem ebenfalls von Multipolar veröffentlichten
       1.000-seitigen Dokument werden die Schwärzungen mit dem Schutz von
       Mitarbeiter*innen, behördlichen Beratungsprozessen und Sicherheitsbelangen
       begründet. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) gibt an, selbst
       keine Schwärzungen veranlasst zu haben und kündigte im Deutschlandfunk an,
       „dass die Protokolle [2][weitestgehend entschwärzt werden sollen]“.
       Multipolar klagt nach eigenen Angaben bereits vor dem Berliner
       Verwaltungsgericht auf die vollständige Einsicht.
       
       Welche Punkte werden besonders heiß diskutiert und wie sind diese
       einzuordnen? 
       
       Eine umfassende Analyse der über 200 mehrseitigen Protokolle gibt es
       bislang nicht, einzelne Punkte wurden herausgegriffen. Multipolar hatte im
       Zuge der Veröffentlichung vor allem die Frage skandalisiert, wer im März
       2020 darüber entschied, dass das Risiko durch Covid-19 als „hoch“
       eingestuft wird.
       
       Dazu steht im Protokoll vom 16. März 2020: „Am WE wurde eine neue
       Risikobewertung vorbereitet. Es soll diese Woche hochskaliert werden. Die
       Risikobewertung wird veröffentlicht, sobald (Name geschwärzt) ein Signal
       dafür gibt.“ Multipolar zog daraus den Schluss, dass die Höherstufung nicht
       auf Grundlage einer fachlichen Einschätzung durch das RKI, sondern auf
       Anweisung einer externen Person aus der Politik erfolgt sei.
       
       Das RKI und auch das Bundesgesundheitsministerium weisen diesen Vorwurf
       zurück und geben an, hinter der Schwärzung verberge sich der Name eines
       RKI-Mitarbeiters. Der Epidemiologe [3][Hajo Zeeb] sagte der taz, es hätte
       ihn auch nicht gewundert, „wenn letztlich ein Politiker über die
       Veröffentlichung entschieden hätte“. Schließlich seien Entscheidungen in
       der Pandemie von Wissenschaft und Politik gemeinsam getroffen und
       kommuniziert worden.
       
       Die Höherstufung des Risikos selbst wird ebenfalls in Frage gestellt, gilt
       aber Wissenschaftler*innen wie Zeeb in der damaligen Situation als
       angemessen.
       
       In einzelnen Medien und sozialen Netzwerken wird skandalisiert, das RKI
       hätte zu Beginn eines erneuten Lockdowns im Winter 2020 intern diskutiert,
       dass der Lockdown gefährlicher sei als die Pandemie selbst. Tatsächlich
       bezieht sich die dabei zitierte Passage (Protokoll vom 16. Dezember 2020:
       „Konsequenzen des Lockdowns haben zum Teil schwerere Konsequenzen als COVID
       selbst.“) auf die Lage in Afrika.
       
       Weitere aus den Protokollen herausgegriffene Aussagen betreffen bereits
       bekannte und schon während der Pandemie geführte Diskussionen – etwa um die
       wissenschaftliche Grundlage für die Empfehlung von FFP2-Masken und die
       geringere Wirksamkeit des Impfstoffs von Astra Zeneca im Vergleich zu
       mRNA-Impfstoffen.
       
       Wie sind die politischen Reaktionen auf die Veröffentlichung? 
       
       Sehr schnell forderten AfD und das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) die
       vollständige Freigabe der Protokolle sowie die Einrichtung eines
       Untersuchungsausschusses, um die Rolle des RKI aufzuklären. Die FDP schloss
       sich den Forderungen nach einer Aufarbeitung an, Generalsekretär Bijan
       Djir-Sarai sprach sich für die Einsetzung einer Enquete-Kommission des
       Bundestags aus. Diese sei dringend notwendig, um „die begangenen Fehler
       klar zu benennen und künftig zu vermeiden“. Auch FDP-Chef Christian Lindner
       bezeichnet eine Enquete-Kommission als „das Mittel der Wahl“ zur
       Aufarbeitung.
       
       Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) und Grünen-Fraktionschefin
       Britta Haßelmann verteidigten in Reaktion auf die Veröffentlichung die
       staatlichen Auflagen in der Coronapandemie. Die Maßnahmen hätten sehr
       vielen Menschen das Leben gerettet, sagten beide.
       
       Wo stehen wir überhaupt in der Aufarbeitung der Pandemie? 
       
       Es gab bereits Initiativen zur wissenschaftlichen Aufarbeitung. Die wohl
       umfassendste war ein von Bundesregierung und Bundestag eingesetzter
       Sachverständigenausschuss, [4][der Mitte 2022 seinen Bericht vorlegte]. Für
       aussagekräftige Ergebnisse habe man aber zu wenig Zeit, Ressourcen und
       Daten gehabt, hieß es aus dem Ausschuss selbst.
       
       Aktuell verweist Karl Lauterbach immer wieder auf den neugegründeten
       wissenschaftlichen Expert*innenrat „Gesundheit und Resilienz“ – die
       ehrenamtlichen Mitglieder sollen Lehren aus der Pandemie ziehen. Das könne
       nur ein Ansatz der Aufarbeitung sein, „aber es sollte nicht der einzige
       bleiben“, sagt Epidemiologe Hajo Zeeb.
       
       Was könnte ein Untersuchungsausschuss erreichen? 
       
       Ein Untersuchungsausschuss im Bundestag ist mit ähnlichen Befugnissen
       ausgestattet wie ein Gericht und könnte daher große Transparenz über das
       Handeln des Staats während der Pandemie herstellen. Er darf Zeugen vorladen
       und behördliche Akten anfordern. Allerdings setzt sich ein
       Untersuchungsausschuss ausschließlich aus Abgeordneten zusammen, die
       Aufarbeitung könnte dort in eine stark politisierte Deutungsschlacht
       ausarten. Allein schon deshalb ist es unwahrscheinlich, dass sich im
       Bundestag die nötige Mehrheit von 25 Prozent für die Einsetzung eines
       solchen Ausschusses findet.
       
       In der Ampel gibt es [5][mehr Offenheit für eine Enquete-Kommission]. In
       ein solches Gremium schicken die Fraktionen jeweils zur Hälfte Abgeordnete
       und externe Sachverständige. Das sorgt normalerweise für eine sachlichere
       Auseinandersetzung – obgleich sich nicht verhindern ließe, dass die AfD
       auch Schein-Expert*innen aus dem Querdenkerspektrum entsendet.
       
       Allerdings müsste auch eine Enquete-Kommission ihre Arbeit bis zur nächsten
       Bundestagswahl beenden und bis dahin bleiben nur noch anderthalb Jahre.
       
       30 Mar 2024
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.scienceopen.com/document?vid=68ed12bb-376b-4584-977b-bec32ff40f57
   DIR [2] /Corona-und-Aufarbeitung/!6001147
   DIR [3] https://www.bips-institut.de/kontakt/personal/wissenschaftliche-mitarbeiter.html?MAid=526&cHash=2c101520005d0d5c8c2256a6b81becfc
   DIR [4] /Bericht-Corona-Sachverstaendigenausschuss/!5863180
   DIR [5] https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/aufarbeitung-der-pandemie-kommt-die-enquetekommission-19615934.html
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Manuela Heim
   DIR Moritz Huhn
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