URI: 
       # taz.de -- Amoktat gegen Zeugen Jehovas in Hamburg: Sechs Tote, keine Strafen
       
       > Gut ein Jahr nach der Tat ist das letzte Verfahren gegen einen
       > Mitarbeiter der Waffenbehörde eingestellt – wegen Mängeln im
       > Waffengesetz.
       
   IMG Bild: Hätte es verhindert werden können? Polizist:innen vor dem Königreichsaal der Zeugen Jehovas, dem Tatort des Amoklaufs
       
       Hamburg taz | Die Hamburger Generalstaatsanwaltschaft hat die Ermittlungen
       wegen fahrlässiger Tötung gegen einen Mitarbeiter [1][der Hamburger
       Waffenbehörde] eingestellt. Er soll einem Hinweis auf die psychische
       Instabilität des späteren Amoktäters gegen die Zeugen Jehovas nicht
       angemessen nachgegangen sein. Damit sind die strafrechtlichen Ermittlungen
       zu der Amoktat in Hamburg-Alsterdorf im März 2023 abgeschlossen.
       
       Der Täter Philipp F. hatte bei einer Andacht im Königreichssaal der Zeugen
       Jehovas an der Deelböge sechs Menschen und einen Fötus getötet sowie
       zahlreiche Menschen verletzt. Danach hatte er sich erschossen.
       
       Für Verfehlungen vor der Tat wird also absehbar niemand zur Rechenschaft
       gezogen werden. Dabei gab es derer eine ganze Reihe. Der damalige
       Mitarbeiter der Waffenbehörde mit Namen K., der seit einem Jahr vom Dienst
       suspendiert ist, soll den schwersten Fehler begangen haben.
       
       Am 16. Januar 2023 bekam er einen Anruf aus dem Hanseatic Gun Club, wo
       Philipp F. schießen gelernt und seine Waffensachkundeprüfung abgelegt
       hatte. Anrufer war ein Mitarbeiter des Schießclubs namens S., der F.s
       Prüfung abgenommen und dabei [2][zahlreiche Verfahrens- und Formfehler
       begangen] hatte. Weil K. sich mit einem Nebenjob als Schießtrainer im
       Hanseatic Gun Club etwas dazuverdient hatte, kannte man sich – zumindest so
       gut, dass S. sich nicht offiziell bei der Waffenbehörde meldete, sondern
       auf K.s privatem Telefon in dessen Freizeit.
       
       ## Bruder des späteren Amoktäters warnte per Brief
       
       Der Grund seines Anrufs: Beim Gun Club hatte sich der Bruder von Philipp F.
       gemeldet. Er hatte erfahren, dass dieser dort sein Schießtraining
       absolvierte hatte, und machte sich Sorgen über Philipp F.s psychischen
       Zustand, wollte wissen, wohin er sich damit wenden könne. Nach der
       Rückfrage bei K. richtete S. dem Bruder des späteren Amoktäters aus, dieser
       solle sich direkt an die Waffenbehörde wenden, „schriftlich oder
       telefonisch, anonym oder unter Nennung seines Namens“, wie es in der
       Mitteilung des Staatsanwaltschaft zur Verfahrenseinstellung heißt.
       
       Der besorgte Bruder folgte dem Rat: Er schrieb einen anonymen Brief, der
       eine Woche später bei der Waffenbehörde einging und schließlich bei K. auf
       dem Schreibtisch landete. Der behandelte das Schreiben wie einen
       x-beliebigen, anonymen Hinweis. Er fragte lediglich polizeiliche
       Erkenntnisse über F. ab und veranlasste einen unangekündigten Hausbesuch,
       bei dem zwei Beamte kontrollierten, ob F. seine Waffe und die Munition
       ordnungsgemäß im Tresor eingeschlossen hatte. Bis auf eine Patronenhülse
       war das der Fall.
       
       Hamburgs damaliger Polizeipräsident Ralf Martin Meyer rechtfertigte nach
       dem Amoklauf das zaghafte Vorgehen seiner Waffenbehörde öffentlich damit,
       dass es sich [3][um ein anonymes Schreiben gehandelt] habe. Solche Hinweise
       gingen bei den Behörden in so großer Zahl und nicht selten in
       denunziatorischer Absicht ein, dass es nicht möglich sei, allen gründlich
       nachzugehen.
       
       K. hatte weder eine Notiz über das Telefonat mit dem Mitarbeiter aus dem
       Schießklub angefertigt noch seinen Vorgesetzten gemeldet, dass er über
       Philipp F. informiert gewesen war und das der Form nach anonyme Schreiben
       also sehr wohl einem mutmaßlichen Absender zuzuordnen war. Hätte er das
       getan, so nimmt die Staatsanwaltschaft an, hätte die Waffenbehörde
       Rücksprache mit der Familie von Philipp F. gehalten und Details über das
       Ausmaß von dessen seit Jahren bekannter psychischer Störung erfahren. Dann
       wäre sie vermutlich robuster vorgegangen und hätte F. im Zuge der
       Gefahrenabwehr die Waffe abgenommen.
       
       ## Kritik am Waffengesetz
       
       Genau da liegt der Knackpunkt: Die Generalstaatsanwaltschaft ist zwar
       überzeugt, dass K. sich einer beamtenrechtlichen Sorgfaltspflichtverletzung
       schuldig gemacht hat, einer sogenannten „Schlechtleistung“ nach dem
       Beamtenstatusgesetz. Die Strafverfolger konnten letztlich nicht sicher
       davon ausgehen, dass in diesem Fall die spätere Mordwaffe, eine Pistole
       Heckler & Koch P 30, von Philipp F. sofort sichergestellt worden wäre. Das
       wäre aber die Voraussetzung für eine Anklage wegen fahrlässiger Tötung
       gegen K. gewesen.
       
       Die Generalstaatsanwaltschaft übt in ihrem Beschluss erneut deutliche
       Kritik am deutschen Waffengesetz: Die einschlägigen Paragrafen seien
       „unterschiedlich interpretierbar“, sie böten keine Gewähr dafür, eine
       Schusswaffe – wenigstens vorläufig – zu entziehen, selbst bei einem
       „validen Verdacht einer psychischen Erkrankung des Waffenträgers“, heißt es
       in ihrer Mitteilung.
       
       In der Regel sei stattdessen die Einholung eines psychologischen Gutachtens
       geboten. Und das sei so langwierig, dass dadurch „die Amoktat vom 9. März
       2023 zeitlich bedingt nicht mehr mit überwiegender Wahrscheinlichkeit hätte
       verhindert werden können“.
       
       Schon als sie die Verfahren wegen zahlreicher Unregelmäßigkeiten in
       Waffensachkundeprüfungen – nicht nur der von von Philipp F. – einstellte,
       hatte die Hamburger Generalstaatsanwaltschaft das Fehlen einer
       bundeseinheitlichen Prüfungsordnung bemängelt.
       
       Der Norddeutschland-Sprecher der von der Amoktat betroffenen Zeugen
       Jehovas, Michael Tsifidaris, sieht ebenfalls Handlungsbedarf beim
       Gesetzgeber: Man schätze „die bisherige Zusammenarbeit und Hilfe der
       Sicherheitsbehörden“ und nehme die aktuelle Einstellungsentscheidung zur
       Kenntnis, schreibt er. „Gleichzeitig hoffen wir, dass Gesetzgeber und
       Behörden die notwendigen Schlüsse aus dem Geschehenen gezogen haben und
       entsprechende Maßnahmen für die Zukunft ergreifen.“
       
       4 Apr 2024
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Nach-Amoktat-in-Hamburg/!5938987
   DIR [2] /Ein-Jahr-nach-Amoktat-in-Hamburg/!5997050
   DIR [3] /Pannen-vor-Amoktat-gegen-Zeugen-Jehovas/!5920307
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jan Kahlcke
       
       ## TAGS
       
   DIR Waffen
   DIR Waffenrecht
   DIR Waffengesetze
   DIR Zeugen Jehovas
   DIR Hamburg
   DIR Amoklauf
   DIR Waffen
   DIR Zeugen Jehovas
   DIR Amoklauf
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Ein Jahr nach Amoktat in Hamburg: Im Schnelldurchlauf zur Mordwaffe
       
       Vor einem Jahr tötete Philipp F. in Hamburg sechs Zeugen Jehovas. Bei
       seiner Waffensachkunde-Prüfung ging es drunter und drüber.
       
   DIR Nach Amoktat in Hamburg: Grote rüstet Waffenbehörde auf
       
       Nach der Amoktat gegen Zeugen Jehovas präsentiert Hamburgs Innensenator
       Reformen bei der Waffenbehörde. Die Reaktionen sind geteilt.
       
   DIR Amoktat bei Zeugen Jehovas in Hamburg: Polizei und Schießklub im Visier
       
       Verdacht auf fahrlässige Tötung und gefälschte Urkunden: Ermittler
       durchsuchten die Wohnungen eines Polizisten und dreier
       Schießklub-Mitglieder.