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       # taz.de -- Virtual-Reality-Brillen: Meeting im Raumschiff
       
       > VR-Brillen sollen das nächste große Ding werden. Wie sie unsere Arbeit
       > bereichern können und sich auf unsere sozialen Beziehungen auswirken.
       
   IMG Bild: Meeting mit Meerblick: Tim Frank trifft seine Kollegen mit der VR-Brille
       
       Tim Franks Kollege sieht aus wie eine halbfertige Comicfigur, als er aus
       dem Nichts erscheint. Er trägt Hemd, Cap, eine Brille und hat keine Beine.
       „Hallo, Sven“, begrüßt Frank ihn zum virtuellen Meeting auf einer Terrasse
       mit Blick aufs Meer. Auf einem niedrigen Tisch steht eine
       überdimensionierte Musikbox, daneben weiße Sofas. Es könnte auch ein
       kostspieliges Airbnb auf Ibiza sein.
       
       In Wirklichkeit sitzt Tim Frank in einem Büro im wolkenverhangenen Hamburg
       und sein Kollege in Heidelberg. Frank trägt eine Virtual-Reality-Brille,
       mit der er jeden Tag mehrere Stunden an Dokumenten schreibt, Excel-Listen
       erstellt und an Meetings teilnimmt. Das mit den Beinen seines Kollegen
       liege an der Software, sagt Frank, „die kann das noch nicht simulieren“.
       Aber es sei besser als Zoom-Konferenzen, bei denen die Menschen immer an
       der Kamera vorbeigucken.
       
       Tim Frank ist Geschäftsführer von VRtual X, eine VR-Agentur, die zum
       Beispiel virtuelle Jobmessen für Jugendliche programmiert. Doch Frank
       verkauft nicht nur VR-Anwendungen, er ist auch einer der Wenigen in
       Deutschland, die VR-Brillen nicht nur zum Gaming, sondern für Büroarbeiten
       verwenden.
       
       Warum aber schnallt sich Tim Frank diesen Minicomputer auf den Kopf, wenn
       er die gleichen Aufgaben auch mit einer Tastatur und einem Bildschirm
       erledigen könnte? [1][Sieht so die Zukunft des Arbeitens aus?]
       
       Wenn es nach Meta-Chef [2][Mark Zuckerberg] geht: auf jeden Fall. [3][Meta]
       setzt seit Jahren auf die Technologie, verkauft mittlerweile 75 Prozent
       aller VR-Brillen. Im Februar hat auch Apple seine erste Brille auf den
       Markt gebracht, die Apple Vision Pro, Preis pro Stück: 3.500 Dollar. 15
       Milliarden Dollar soll Apple in die Entwicklung der Apple Vision Pro
       investiert haben. Es soll „the next big thing“ nach dem Smartphone werden.
       
       Im Werbevideo zur Apple Vision Pro ist zu sehen, wie sich die
       US-Tech-Giganten die Zukunft vorstellen: Nutzer sollen die Brille gar nicht
       mehr abnehmen, damit arbeiten, Filme schauen, mit Freunden telefonieren,
       selbst beim Fußballspielen mit seinen Kindern hat der Mann im Werbeclip die
       Brille auf. Mensch und Maschine verschmelzen.
       
       ## VR-Brillen sind vielseitig einsetzbar
       
       Seit einigen Jahren werden solche Brillen auch in Deutschland in der
       Arbeitswelt häufiger eingesetzt, unter anderem in der Industrie, um zum
       Beispiel virtuelle Modelle von Autos zu erzeugen und anzuschauen. Eine
       weitere Anwendung: Schulungen für Berufsanfänger, die schon die Maschinen
       kennenlernen wollen, mit denen sie arbeiten werden.
       
       Im klassischen Büroalltag sind die Brillen bisher kaum ein Thema. Der
       Grund: Sie wiegen mehr als ein halbes Kilo, was bei mehrstündigem Tragen zu
       Nackenschmerzen führen kann. Zudem kann „Motion Sickness“ auftreten, wenn
       sich Nutzer in einer virtuellen Welt bewegen, obwohl sie in Wirklichkeit
       auf ihrem Stuhl sitzen. Die Folgen sind Kopfschmerzen und Schwindelgefühl.
       Besonders Frauen sind davon betroffen.
       
       In einer Studie der Hochschulen in Coburg, Cambridge und Primorska haben
       Forscher Menschen fünf Tage mit und danach fünf Tage ohne VR-Brille
       klassische Bürotätigkeiten machen lassen. Das Ergebnis: Zwei der 16
       Probanden brachen nach einem halben Tag VR-Brille ab, weil sie Migräne,
       Brechreiz und Angstgefühle hatten. Auch wenn sich die restlichen Probanden
       über die Woche hinweg besser an die Brille gewöhnten, fühlten sie sich in
       ihrer VR-Arbeitsphase unproduktiver und frustrierter.
       
       Tim Frank kann sich mit der Brille auf dem Kopf besser fokussieren. In
       seinem Hamburger Büro erzählt er: „Alles begann während Corona.“ Die Kita
       fiel aus, also zogen er und seine Frau zu seinen Eltern, die sich um die
       Kinder kümmerten. Für Frank bedeutete das: Statt im eleganten Büro mit
       großem Schreibtisch und Bildschirm saß er plötzlich in einem kleinen,
       kahlen Zimmer, in dem überall Wäsche lag und in das manchmal die Oma
       reinkam, um Kleider zu holen.
       
       Frank legte seinen Laptop zur Seite und setzte die VR-Brille auf. Auf
       einmal war er im perfekten Büro: ein gigantischer Raum, dunkle Wände wie in
       einer Höhle, im Hintergrund orange leuchtende Lampen. Vor sich hatte er
       drei riesige Bildschirme. Oder er beamte sich in seine Loggia, breite
       Fenster, Blick auf eine Flusslandschaft. Die nutzt er, wenn er kreativ sein
       will. Meetings hält er gerne im Raumschiff ab, „um bei den Kunden
       anzugeben“.
       
       ## Die Brille kommt auch schon mal mit aufs Klo
       
       Schon als Jugendlicher war Frank ein „Raumoptimierer“. Alle paar Jahre
       gestaltete er sein Kinderzimmer um. Einmal hatte er eine James-Bond-Phase,
       mit Minibar und Filmplakat, dann eine minimalistische Phase nur mit
       Schreibtisch und Computer. Das Umbauen hat ihn früher viel Arbeit gekostet.
       Jetzt, mit der VR-Brille, geht das mit einem Klick.
       
       Kürzlich war er in einem Hotel [4][im Ahrtal], er wollte die Betreiber
       finanziell unterstützen, die noch mit dem Wiederaufbau beschäftigt sind.
       Sein Zimmer war „ziemlich abgeranzt“, also zog er die Brille an, schrieb
       noch ein paar Mails, legte sich aufs Bett und schaute „Matrix 4“.
       
       Franks einziges Problem: Der Weg zurück in die Realität, den „Bruch“, wie
       er ihn nennt. Besonders wenn er lange gearbeitet hat und es draußen dunkel
       ist, möchte er die Brille am liebsten wieder aufsetzen. Um den „Bruch“ zu
       vermeiden, behält er die Brille auch auf, wenn er auf Toilette geht. Damit
       er auf dem Weg nirgendwo anstößt, filmt seine Brille die Umgebung und zeigt
       sie ihm. In seinem realen Büro benutzt er die Brille aber nur für Meetings,
       der direkte Kontakt mit seinen Mitarbeitern ist ihm wichtig.
       
       Menschlicher Kontakt ist wohl einer der wichtigsten Faktoren bei der Frage,
       ob sich VR-Brillen im Mainstream durchsetzen werden. Der Komfort wird
       voraussichtlich bald kein Thema mehr sein, die Brillen immer leichter
       werden, bis sie irgendwann so aussehen wie Lesebrillen. Unklar ist aber, ob
       Menschen wirklich ständig im digitalen Raum arbeiten und dadurch weniger
       mit echten Menschen interagieren wollen.
       
       ## Die Angst vor Vereinsamung ist groß
       
       Anand van Zelderen leitet in Zürich das „Future of Work Virtual Reality
       Lab“. Er hat gerade eine Umfrage unter mehr als tausend Schweizer
       Beschäftigten von zwei Firmen gemacht, die seit ein paar Monaten mit
       VR-Brillen im Arbeitsalltag experimentieren. Die Ergebnisse sind eindeutig:
       Nur 6 Prozent der Befragten würden ihre Kollegen lieber im virtuellen Raum
       treffen als in der Realität. 63 Prozent der Befragten machen sich Sorgen,
       dass sie im virtuellen Büroalltag vereinsamen. „Virtual Reality reduziert
       soziale Beziehungen“, ist sich van Zelderen sicher.
       
       Um dem entgegenzuwirken, geht Apple mit der Vision Pro in eine andere
       Richtung: Das Unternehmen setzt nicht so sehr auf virtuelle Welten, sondern
       auf die reale Umgebung. Diese wird von den Kameras gefilmt und auf die
       Brille projiziert, sodass die Nutzer dasselbe sehen, was sie auch ohne
       Brille sehen würden. In den Raum können dann allerdings virtuelle
       Bildschirme gestellt werden, der Browser etwa oder das Mailprogramm. Da sie
       weiterhin ein originalgetreues Bild von der Realität sehen, können sie beim
       Arbeiten durch die Wohnung oder das Büro laufen.
       
       Dafür verwendet Apple den Begriff des „Spatial Computing“. Kein Beamen mehr
       in virtuelle Welten, sondern ständiger Kontakt zur Umwelt – das ist das
       Versprechen. Werden Menschen in Zukunft also selbst bei realen Begegnungen
       ihre Brillen anbehalten, so wie jetzt schon Menschen während Gesprächen
       ihre Kopfhörer im Ohr lassen?
       
       Für Frank ist das keine Option. Wenn er sich mit anderen in der realen Welt
       unterhält, hat er keine Brille auf. Zuhause möchte er auch bald wieder
       klassisch mit Tastatur und Bildschirm arbeiten, das neue Haus ist fast
       fertig. Er hat darauf geachtet, dass dort Platz für ein schönes Büro mit
       großen Fenstern ist.
       
       6 Apr 2024
       
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