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       # taz.de -- Romanì in Italien: „Man sieht es ihnen ja nicht an“
       
       > Aus Angst vor Diskriminierung verleugnen viele Romanì in Italien ihre
       > Herkunft. Denn in der Bevölkerung halten sich hartnäckig gefährliche
       > Vorurteile.
       
   IMG Bild: Workshops gegen Verschwörungsmythen und Vorurteile: der italienische Musiker und Aktivist Santino Spinelli
       
       Rom taz | Eine ältere Dame bleibt vor dem Müllcontainer stehen, der sich
       auf dem Bürgersteig befindet. Direkt vor dem Wohnblock in dem Sträßchen in
       einem Außenviertel Roms. Der Container ist noch nicht ganz voll, doch um
       ihn herum liegen zerfledderte Mülltüten samt ihrem verstreuten Inhalt:
       Joghurtbecher, Milchkartons, Essensreste. „Das waren wieder die Roma!“,
       schimpft sie los, „die versauen alles!“
       
       In einem Punkt hat die ältere Dame recht: Immer mal wieder sieht man in der
       italienischen Hauptstadt Roma, die von Müllcontainer zu Müllcontainer
       ziehen, mit einer Eisenstange in den Abfällen herumstochern, dann
       abgetragene Gymnastikschuhe, zerschlissene Jacken, leere Bilderrahmen oder
       Metallteile herausfischen und die spärliche Beute auf einem alten
       Kinderwagen verstauen.
       
       Doch von dem Einwand, dass der Dreck rund um die Tonnen gar nicht von den
       Menschen angerichtet wird, sondern von den zahlreichen Möwen, die auf der
       Suche nach Essbarem die Mülltüten zerfetzen, will die Dame nichts wissen.
       „Das waren die ‚Rom‘ (so werden in Italien die Roma genannt), und wenn sie
       nicht die Straßen versauen, sind sie als Taschendiebe unterwegs!“, giftet
       sie weiter.
       
       [1][Die Frau steht mit ihren Aussagen für den italienischen Mainstream.] In
       kaum einem anderen westeuropäischen Land stoßen die Roma und Sinti auf so
       [2][heftige Ablehnung] wie in Italien. Vor einigen Jahren bekannten sich 85
       Prozent der Italiener*innen in einer Umfrage des Pew Research Center zu
       einer „negativen Sicht“ dieser Community. Und 2023 fand das Institut EMG in
       einer in Rom durchgeführten Befragung heraus, dass knapp 70 Prozent der
       Menschen dort die Romanì – dies ist der Sammelbegriff, den Sinti, Roma und
       andere Untergruppen für sich benutzen – für „eine Bedrohung“ halten.
       
       ## Staatlich organisierte rassistische Segregation
       
       Dabei leben gerade einmal 140.000 bis 180.000 Romanì in Italien. Rund die
       Hälfte, schätzungsweise bis zu 100.000, sind italienische
       Staatsbürger*innen, deren Vorfahren schon seit 600 Jahren im Land leben,
       schätzt Santino Spinelli. Spinelli selbst stammt aus einer alten
       Romanì-Familie. Der 59-Jährige ist erfolgreicher Musiker,
       Universitätsdozent und einer der Gründer der UCRI, der Unione Comunità
       Romanes in Italia. Vor allem in den neunziger und nuller Jahren kamen
       Romanì vom Westbalkan, aus Rumänien oder Bulgarien nach Italien.
       
       Der Staat reagierte auf den Zuzug mit einer Maßnahme, die in Westeuropa
       ihresgleichen sucht: Quer durchs Land, vorneweg in Großstädten wie Rom,
       errichtete der Staat öffentlich verwaltete Roma-Camps – und es entstanden
       weitere sogenannte „informelle“ Camps. „Das war ein klarer Fall von
       rassischer Segregation“, sagt Spinelli. Befördert wurde das ganze dadurch,
       dass sich die Millionensummen kostenden Camps als hervorragende
       Einnahmequelle für kriminelle Organisationen entpuppten, die zum Beispiel
       in Rom im besten Einvernehmen mit Menschen aus der Politik agierten.
       
       Ein solches Camp war das „Dorf der Solidarität“ – so lautete der zynische
       Name – in Castel Romano. Die Containersiedlung wurde im Jahr 2005 errichtet
       und lag im Nirgendwo außerhalb der Stadt, an einer Ausfallstraße weitab von
       anderen Wohngebieten. Zu Spitzenzeiten wohnten hier etwa 1.200 Menschen,
       die vor allem aus Ex-Jugoslawien gekommen waren. Begründet wurde diese
       Politik häufig damit, dass die Ankommenden ja Menschen seien, die an einer
       regulären Wohnung gar nicht interessiert seien. Als „nomadi“ wurden sie im
       Italienischen bezeichnet.
       
       Für Spinelli ist diese Behauptung blanker Unsinn, die Menschen, die vom
       Balkan immigriert seien, hätten schließlich in ihrer Heimat einen festen
       Wohnsitz gehabt. Dennoch hält sich der Begriff „nomadi“ ganz
       selbstverständlich als Synonym für Roma oder – bis heute in der
       Alltagssprache gebräuchlich: Zingari. Doch nur 2 Prozent der in Italien
       lebenden Romanì sind wirklich Reisende.
       
       ## In den Camps lebt nur eine Minderheit
       
       Zu Hoch-Zeiten lebten rund 40.000 Menschen in den „Roma-Camps“. Heute sind
       es immer noch knapp 18.000, 11.500 in öffentlich eingerichteten, 6.500 in
       „informellen“ Camps. So niedrig diese Zahl auch ist, so viel – negative –
       Sichtbarkeit verleiht sie den dort Wohnenden doch vor allem in den
       Großstädten, insbesondere in Rom. Gerade die informellen, vom Staat
       lediglich tolerierten Lager sind Orte des schieren Elends, mit ihren
       Holzbaracken und Wellblechhütten, ohne Strom und Wasser – und ohne
       Müllabfuhr.
       
       Die, die in den Camps leben, sind nur eine kleine Minderheit. Über 90
       Prozent der Romanì leben in Häusern und Wohnungen, gehen ihrer Arbeit nach,
       während ihre Kinder die Schule besuchen. Meist weiß keiner aus der
       Nachbarschaft von ihrem ethnischen Hintergrund. „Man sieht es ihnen ja
       nicht an, und viele von ihnen stammen aus Familien, die seit Jahrhunderten
       italienisch sind“, sagt Spinelli. Hinzu kommt, dass die meisten dieser
       Romanì ihre Herkunft für sich behalten. Aus Angst vor Diskriminierung.
       
       Die Herkunft konnten und können dagegen diejenigen nicht verbergen, die in
       den Camps leben müssen. Vor allem in den nuller Jahren wurde ihnen ihre
       Sichtbarkeit mehrfach zum Verhängnis. Als im Oktober 2007 ein 24-jähriger
       Roma aus Rumänien eine Römerin vergewaltigte und ermordete, [3][entfesselte
       die Mitte-links-Regierung unter Romano Prodi] ebenso wie Roms [4][linker
       Bürgermeister Walter Veltroni] eine brutale Hetze auf Roma. Prodi ließ
       damals ein Eildekret verabschieden, um osteuropäische Roma ohne viel
       Aufhebens aus dem Land werfen zu können. Veltroni ordnete die Räumung
       diverser informeller Camps an.
       
       Noch schlimmer kam es im Mai 2008 in Neapels Stadtviertel Ponticelli. Dort
       beschuldigten zwei Neapolitanerinnen ein 15-jähriges Roma-Mädchen, es habe
       aus ihrer Wohnung ein Baby entführen wollen. Das Mädchen wurde verhaftet,
       und umgehend zogen mehrere hundert Menschen zum nahen Roma-Camp. Der Mob
       fackelte das Camp ab, ohne dass die Polizei eingriff.
       
       ## Bis heute keine Erinnerung an Vernichtung in NS-Zeit
       
       Möglich war dieser Pogrom, weil tatsächlich auch heute noch vielen
       Italiener*innen die Behauptung, dass „Roma Kinder stehlen“, ganz
       selbstverständlich über die Lippen geht. Eine Behauptung, erklärt Santino
       Spinelli, die die Romanì in Zeiten des Faschismus zum leichten Opfer der
       Deportationen aus Italien in die deutschen Vernichtungslager werden ließ.
       Bis heute erinnert der italienische Staat nicht an die Vernichtung der Roma
       und Sinti in der NS-Zeit.
       
       [5][Spinellis Gedicht „Auschwitz“] ist dagegen auf dem im Jahr 2012 im
       Berliner Tiergarten eingeweihten Mahnmal für die Naziopfer aus den Reihen
       der Sinti und Roma verewigt. Während Italiens Politikerinnen zwar
       regelmäßig an die Schoah, nie aber an den Samudaripen erinnern, nämlich an
       die Tatsache, dass die Nazis auch 500.000 Romanì ermordeten.
       
       Wenigstens zum 8. April, ergänzt Spinelli dann noch, steige mittlerweile
       die Aufmerksamkeit für Roma und Sinti. Er selbst und sein Sohn werden im
       Rahmen der Feierlichkeiten am 10. April in Mailand ein Konzert geben, nicht
       irgendwo, sondern in der Mailänder Scala, dem Tempel der Oper und der
       klassischen Musik. „Das hat es noch nie gegeben in 600 Jahren: dass zwei
       Romanì-Musiker als Solisten an einem Ort wie der Scala auftreten, begleitet
       vom Symphonieorchester, um Roma-Musik zur Aufführung zu bringen.“ Seine
       Freude und sein Stolz sind groß.
       
       8 Apr 2024
       
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