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       # taz.de -- Anhaltende Diskriminierung von Roma: Wir als „die Anderen“
       
       > Die bis heute permanente Ausgrenzung von Roma produziert permanente
       > Migration. Verantwortung gegenüber der Geschichte sähe anders aus.
       
   IMG Bild: Viel zu viel Schweigen, Stille herrscht über die anhaltende Diskriminierung von Sinti und Roma
       
       Ich war 14 Jahre alt, als ich im Jahr 1993 mit meiner Mutter und meinen
       Geschwistern nach Deutschland flüchtete. Aus dem Kosovo, wo sich die
       Vertreibungen ankündigten. Familiär gehöre ich zwei Minderheiten an, den
       Roma und den Hashkali. Damals wusste ich, dass die Nazis viele Roma
       ermordet haben – bei uns sagt man, „aus den Roma Seife gemacht haben“ – mir
       war nur die Dimension nicht klar. Mein Urgroßvater hatte gegen die Nazis
       gekämpft. Ich erfuhr davon erst, als meine Mutter mir vom Kampf ihres
       Großvaters in Jugoslawien erzählte – und davon, dass er dort gefallen ist.
       In der Schule lernte ich sehr wenig über den Porajmos. Ich ging bis zur 8.
       Klasse im Kosovo in die Schule – dort lernten wir viel über die
       Partisan:innen – und dann hier in Deutschland.
       
       Hier lernte ich, wie die Nazis an die Macht kamen, über die
       Reichspogromnacht, über ihren Krieg, den Holocaust und die Vernichtung von
       Andersdenkenden, aber die europaweite Verfolgung der Roma füllte allenfalls
       einen Nebensatz. Wir sind angehängt in einer Aufzählung. Als meine Mutter
       also von meinem Urgroßvater erzählte, war das ein trauriges Gefühl, weil
       weder sie noch ich die Möglichkeit hatten, diesen Menschen kennenzulernen.
       Es war berührend, zu erfahren, dass dieser Mann sein Leben ließ – weil er
       kämpfte, gegen die Nazis.
       
       Die Konstruktion von uns als „Andere“ war bereits vor dem
       Nationalsozialismus eine Konstante. Sie hält sich bis heute, mit vielen
       Abstufungen und Ausprägungen. Für mich als Minderheitenangehörige war es
       wichtig, diese Geschichte zu kennen, um mich selbst positiv wahrzunehmen.
       Ich hatte das Zuschreiben des „Andersseins“ gespürt, als ich auch die
       Geschichte der Bürgerrechtsbewegung und des [1][8. April] kennenlernte. Das
       gab mir den Mut, rassistischen Auffassungen zu entgegnen.
       
       ## Rassistischer Geiz, selbst bei der Entschädigung
       
       Wenn [2][eine Romni in einem Buch oder Film vorkommt] – dann wird sie
       stereotypisch dargestellt. Um solche Erzählungen nicht länger anzunehmen,
       dafür war für mich die Auseinandersetzung mit unserer Geschichte sehr
       wichtig. Denke ich an diese, fühle ich mich stark genug, mich diesen
       Rassismen entgegenzustellen.
       
       In den 50er und 60er Jahren arbeiteten in deutschen Behörden Beamte, die an
       der Selektion beteiligt waren. Vielen überlebenden Sinti und ihren
       Angehörigen wurde nach der Rückkehr aus den Lagern die aberkannte deutsche
       Staatsbürgerschaft wiedergegeben – dann wurden diese Anfang der 50er Jahre
       erneut geprüft. Zu großzügig sei man in der Vergabe von Pässen an
       Überlebende gewesen, fanden die Behörden nun. Dieser rassistische Geiz
       wirkte auch in der Praxis der Entschädigungen.
       
       Der rassistisch motivierte Genozid an Roma und Sinti wurde 1982 durch
       Bundeskanzler Helmut Schmidt offiziell anerkannt. Die
       Sinti-&-Roma-Bürgerrechtsbewegung bestand seit Anfang der 70er Jahre auf
       ihren Rechten. Weitere 30 Jahre vergingen, bis in Berlin das [3][zentrale
       Mahnmal für die ermordeten und verfolgten Sinti und Roma Europas] eröffnet
       wurde. Am 8. April 2015 habe ich an diesem für uns sehr bedeutsamen Ort
       eine Rede gehalten.
       
       ## Bis heute flüchten Roma nach Deutschland. Immer wieder
       
       Geschichte braucht die Verantwortungsübernahme in der Gegenwart. Diese
       suchen wir aber vergeblich. Still war und ist es, wenn es um Abschiebungen
       geht. Wenn Staaten als sicher erklärt oder neue Verschärfungen eingeführt
       werden. Die permanente Ausgrenzung produziert permanente Migration.
       
       Menschenrechtlich und auch wirtschaftlich ist dies fatal, doch der Wille
       zur Ignoranz scheint unermesslich. Die mehrfache Diskriminierung in den
       Herkunftsstaaten trifft die Besitzlosen am härtesten, ihre Situation ist
       komplex und zieht sich über Generationen hinweg. Das schmerzt. Bis heute
       flüchten Roma nach Deutschland. Nach jeder Abschiebung. Erneut. Immer
       wieder. Dieses weitestgehend ignorierte Phänomen umfasst und überschattet
       Generationen, zerreißt Familien.
       
       Roma sind Nachkommen der Verfolgten, der Überlebenden und Ermordeten. Die
       Abgeschobenen sind Nachkommen, finden aufenthaltsrechtlich aber keine
       Anerkennung. Die Verknüpfung von Bleiberechten und Gerechtigkeit könnte die
       Ausweglosigkeit und die Abwärtsspirale in der Bildung unterbrechen. Wir
       setzen uns politisch für eine Kontingentregelung im Sinne des Paragrafen 23
       Aufenthaltsgesetz ein, analog zum Verfahren für die jüdischen Menschen.
       [4][Hierzu brauchen wir die gesellschaftliche und politische
       Unterstützung]. Gegen ein „leeres Erinnern und ein kaltes“ (Jonuz) fordern
       wir dies als ein klares Signal der Anerkennung.
       
       Mir selbst hätte das viel erspart. Ich ging zur Schule und studierte mit
       dem Status der Duldung. Ich verstand lange nicht, warum es für uns so
       kompliziert war, ein Bleiberecht zu erhalten. Eine Bildungskarriere war für
       mich nicht vorgesehen. Deutschland hieß uns nicht willkommen, wollte meine
       Eltern abschieben, als ich für das erste juristische Staatsexamen lernte.
       Damals haben wir uns das erste Mal geoutet, als Roma.
       
       ## Dem Schweigen nicht beugen
       
       Was viele bis heute nicht wissen, ist, dass nach den Nato-Luftangriffen
       1999 massive gewaltvolle Vertreibungen stattfanden, Hunderttausende Roma
       und andere Minderheitenangehörige verloren alles und mussten aus dem Kosovo
       fliehen. Viele flohen in die nächstliegenden Staaten, andere nach
       Westeuropa. Deutschland nahm Flüchtende auf, vergab aber keine
       langfristigen Bleiberechte. Die erste Aufgabe der Kfor-Truppen sollte sein,
       die sichere Rückkehr von Geflüchteten zu ermöglichen. Doch viele Häuser der
       Roma waren zerstört oder in Besitz genommen worden. Auch das Haus meines
       Opas war besetzt. Eine sichere Rückkehr war nicht möglich. Für viele bis
       heute nicht.
       
       Dem Schweigen in der Gesellschaft, dem ausbleibenden Echo auf dieses
       Unrecht und unsere Proteste dürfen wir uns nicht beugen. Es geht auch um
       die eigene Haltung: Finde ich die aktuelle Abschiebepolitik mit der
       Geschichte vereinbar?
       
       8 Apr 2024
       
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