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       # taz.de -- Antiziganismus: „Rom*nja tragen Entrechtung als Erbe mit sich“
       
       > Auch heute noch sind Sinti und Roma Diskriminierung ausgesetzt. Sieben
       > Protokolle aus dem deutschsprachigen Raum.
       
   IMG Bild: Roma-Day in Berlin am 08.04.2023
       
       Mit rund 12 Millionen Menschen bilden Rom*nja und Sinti*zze die größte
       Minderheit Europas und sind gleichzeitig eine Gruppe, die stark von
       rassistischer Diskriminierung betroffen ist. Hier erzählen eine Pädagogin,
       ein Dichter, eine Pflegekraft und weitere in Deutschland oder Österreich
       lebende Rom*nja und Sinti*zze von ihrem Alltag.
       
       Isidora Randjelović, Jahrgang 1975, ist Sozialpädagogin und Mitgründerin
       des feministischen RomaniPhen e. V. 
       
       Heute ist der 8. April, der internationale Tag der Rom*nja. Vor allem ist
       er für mich mit dem Gefühl der transnationalen politischen romani
       Solidarität und Hoffnung verbunden. Als Teil der romani feministischen
       Gruppe inirromnja als auch des RomaniPhen e. V. ist mir heute das
       Zusammenkommen mit anderen Romnja* und Sintizze* wichtig, die als
       politische Subjekte in kollektiven Zusammenhängen agieren. Wir bringen
       ganzjährig unsere Erfahrungen und Analysen der Weltverhältnisse zusammen,
       deuten miteinander Geschichte und Gegenwart, arbeiten an der Herstellung
       von politischer und sozialer Gerechtigkeit. An diesem 8. April 2024 kommen
       wir im Verein zusammen, reflektieren gemeinsam das letzte Jahr, trauern um
       die Verluste, aber feiern auch die Erfolge.
       
       Gemeinsam mit „With Wings und Roots“ hat RomaniPhen e. V. am 28. März die
       Premiere des Dokumentarfilms „Das Recht, Rechte zu haben. Kämpfe von
       Migrant*innen, PoC, Sinti*zze & Rom*nja für gleiche Rechte“
       veranstaltet. Die Protagonist*innen des Dokumentarfilms thematisieren
       ihre Erfahrungen mit dem eingeschränkten Zugang zur Staatsangehörigkeit und
       verhandeln darüber hinaus auch komplexere Zusammenhänge wie etwa
       Zugehörigkeit, die (Un-)Möglichkeiten politischer Partizipation,
       historische Strukturen von Nationalstaatlichkeit, Kolonialismus und
       NS-Entrechtung.
       
       In Deutschland leben aktuell über 12 Millionen Menschen ohne deutsche
       Staatsangehörigkeit und somit mit den Folgen dieser rechtlichen
       Einschränkungen auf allen Ebenen des Lebens. Das Migrationsregime, die
       Kontrolle und Verhinderung von Migration, die Aufrüstung von Grenzbehörden
       und Polizei hat Folgen an den Außengrenzen und auch Effekte innerhalb
       Europas und der jeweiligen Nationalstaaten. Rom*nja tragen diese Politiken
       der Vertreibungen, Ausbürgerungen und nationalstaatlicher Entrechtung als
       historisches Erbe mit sich und insbesondere Frauen* und queere Personen
       sind dabei Mehrfachdiskriminierungen ausgesetzt.
       
       In den Empfehlungen sowohl der [1][Rassismusstudie „Unter Verdacht“] (2022)
       als auch der [2][Antiz***ismuskommission] sind konkrete Vorschläge zum
       Abbau der Diskriminierung gegen Rom*nja und Sinti*zze als auch zu
       Bleiberechtsregelungen formuliert, etwa eine aufenthaltsrechtliche
       Anerkennung von Rom*nja als Opfer des Nationalsozialismus und
       Erleichterung des Zugangs zur deutschen Staatsangehörigkeit, ebenso wie die
       die Legalisierung von Menschen ohne Aufenthaltspapiere bzw. von Geduldeten,
       die sich zu einem festzulegenden Stichtag in Deutschland befunden haben und
       sich seit mehr als sechs Monaten hier aufhalten. In Bezug auf
       Diskriminierung wird die [3][Verabschiedung eines
       Bundesantidiskriminierungsgesetzes empfohlen], das den öffentlich-
       rechtlichen Bereich mit umfasst.
       
       Das sind Beispiele für grundlegende strukturelle Maßnahmen, die den
       Menschen ein würdevolles Leben und eine gesellschaftliche Beteiligung
       ermöglichen könnten. Dazu müssten aber auch in dem aktuell durch rechten
       Populismus geprägten politischen Klima Diskurse über Gerechtigkeit
       überhaupt wieder an Wert gewinnen. Hier ist noch viel zu tun!
       
       ----------
       
       Ruždija Sejdović, Jahrgang 1966, ist Dichter, Dramaturg und im Vorstand von
       Rom e. V. in Köln. 
       
       Ich bin in Montenegro geboren und seit 1988 in Deutschland. Heute habe ich
       eine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung, meine Tochter hat einen deutschen
       Pass, sie studiert und macht gerade einen Bachelor-Abschluss. Ich liebe
       auch Montenegro, mache da Urlaub, und dort liegt der Schwerpunkt meines
       literarischen Schaffens auf Romanes. Aber weil wir Roma kein eigenes Land
       haben, spüren wir auch nicht diesen nationalen Patriotismus. Für einen Rom
       hängt die Heimat mehr an den Menschen. Wir haben unsere Loyalität gegenüber
       unserer fiktiven Heimat und in meinem Fall ist das Köln. Köln ist meine
       Heimat.
       
       Für die meisten Roma hat sich die Lage in Europa in den letzten Jahrzehnten
       nicht verbessert. Schon 1990 habe ich in Nordrhein-Westfalen an dem
       berühmten „Bettelmarsch“ teilgenommen, der von der Rom und Cinti Union
       organisiert wurde. Es war eine Bürgerbewegung, bei der Hunderte Roma von
       Stadt zu Stadt gezogen sind, um für ein Bleiberecht zu demonstrieren.
       
       Zurzeit kommen viele Roma aus dem Balkan nach Deutschland. Es heißt, sie
       kämen aus „sicheren Herkunftsländern“, aber für Roma sind diese Länder
       nicht sicher. Sie werden nicht ernst genommen und nicht als Flüchtlinge
       gesehen, die vor Diskriminierung Schutz suchen. Ihnen droht die Abschiebung
       oder ein jahrelanger Duldungsstatus. So wird verhindert, dass die Familien
       sich integrieren können. Für Kinder besteht die Gefahr, dass sie in
       angebliche „Heimatländer“ der Eltern abgeschoben werden, die sie nie
       gesehen haben und deren Sprache sie nicht sprechen.
       
       Das ist ein europäisches Problem. Das muss die Politik verändern – aber
       nicht ohne unsere Roma- und Sinti-Vereine. Die Roma-Community muss in der
       Politik mehr Sichtbarkeit erhalten, die Expertise sollte aus den eigenen
       Reihen kommen und die Menschen mehr für sich reden und kämpfen. Wir
       versuchen das mit dem Rom e. V., wo ich seit Jahrzehnten aktiv bin. Wir
       haben ein Roma-Archiv und eine -Bibliothek aufgebaut und sind auch mit
       pädagogischen Projekten aktiv. Eines heißt Angle Dikhas, was auf Romanes
       „nach vorne schauen“ bedeutet. Wir begleiten Eltern und bieten Mediationen
       in Schulen an. Die Angst vor Demütigung und vor Antiziganismus ist ein sehr
       großes Trauma, das ganze Familien belastet. Generationen von Roma wurden
       von einem Land ins andere abgeschoben und konnten deshalb keine Ausbildung
       schaffen. Die Kinder von diesen Eltern, die nie in der Schule waren, müssen
       den Sinn des Lernens neu verstehen. Alle Eltern wollen eine Perspektive für
       ihre Kinder.
       
       ----------
       
       Milena Ademović, 49 Jahre, aus Niś/Serbien.
       
       Mein damaliger Mann und ich sind 1998 nach Deutschland gekommen, wie viele
       andere aus meiner Stadt wegen des Kosovokriegs, der sechs Monate später
       begann – aber auch, weil wir ein besseres Leben wollten für unsere Tochter,
       sie war damals drei Jahre alt. Es war sehr schwierig am Anfang, ohne
       Deutsch, ohne die eigenen Rechte zu kennen. Aber ich hatte großes Glück:
       Ich bekam ein Jahr Duldung von der Ausländerbehörde, mit Arbeitserlaubnis.
       Alle anderen, die ich kannte, bekamen nur drei Monate ohne
       Arbeitserlaubnis. Ich habe mir sofort Arbeit gesucht – und hatte wieder
       Glück. Mein erster Anruf auf eine Stellenanzeige war bei einer slawischen
       Reinigungsfirma, sie haben mich eingestellt, und beim Arbeiten, in den
       Pausen, habe ich Deutsch gelernt von einem Kollegen. Vier Jahre später habe
       mich beim RAA beworben (Regionale Arbeitsstellen für Bildung, Integration
       und Demokratie e. V.; Anm. d. Red.), die suchten eine Roma-Frau für
       verschiedene Projekte. Dort habe ich Roma-Aktivisten kennengelernt und bin
       selber Aktivistin geworden, heute engagiere ich mich vor allem im Verein
       RomaTrial.
       
       Ich bin stolz auf mich, dass ich es alleine geschafft habe, meine zwei
       Töchter großzuziehen. Zwei Männer haben mich sitzen lassen, ich musste viel
       arbeiten, hatte zeitweise mehrere Jobs – und ich hatte viele Jahre Angst,
       abgeschoben zu werden. Dieser Druck und die Angst haben mich psychisch und
       physisch kaputt gemacht. Ich mache mir auch Sorgen um meine Kinder und
       Enkel – vor kurzem bin ich Oma geworden – wegen der Diskriminierung hier,
       etwa in der Schule. Das kannte ich gar nicht von zu Hause in Niś. Aber hier
       kam meine älteste Tochter schon in der ersten Klasse weinend nach Hause,
       sagte, keiner will mit ihr spielen. Ich bin zur Lehrerin gegangen und
       wollte das mit ihr besprechen. Aber sie sagte nur: „Ausländer sind
       bescheuert!“ Ja, wirklich! Ich habe mein Kind von der Schule genommen.
       Leider wurde es auf der nächsten Schule wieder von einem Lehrer gemobbt,
       auch er war ein Rassist. Auch ich habe immer wieder Diskriminierung
       gespürt. So viele Wohnungen bekam ich nicht, obwohl mein Lohn reichte.
       
       Diese Verfolgung der Roma macht mich wütend, seit Jahrhunderten ist das so
       und geht immer weiter. Ich arbeite heute als Beraterin für Roma aus der EU
       – was ich da alles zu hören bekomme! Manche Behörden verlangen zum Beispiel
       Informationen von Roma, die sie von Deutschen niemals verlangen würden, für
       die es nicht mal Formulare gibt! Wir Frauen haben es besonders schwer, auch
       wegen der alten Roma-Traditionen, die Frauen keine eigenen Rechte lassen.
       Positiv ist: Viele Frauen sind mutiger geworden, können auf eigenen Beinen
       stehen, ihre Kinder erziehen, sich Ausbildung und Arbeit suchen. Auch
       darauf bin ich stolz.
       
       -------------------
       
       Marlo Thormann, Jahrgang 1960, Neumünster, ist ehrenamtlicher Vorsitzender
       der Sinti-Union Schleswig-Holstein. 
       
       Wie es mir geht? Mir geht es eigentlich gut im Moment. Wir alle, die wir
       uns in der Sinti-Union Schleswig-Holstein engagieren, haben in den
       vergangenen Monaten sehr viel Arbeit gehabt. Unser Verein mit Sitz in
       Neumünster will die Sinti und Roma sichtbar machen und auf Diskriminierung
       hinweisen. Dazu sind wir an einer ganzen Reihe Gremien beteiligt, gestern
       zum Beispiel war ich bei einem Treffen des Landesaktionsplans gegen
       Antisemitismus. Wir arbeiten oft mit jüdischen Organisationen zusammen,
       denn viele Formen der Diskriminierung sind identisch. Abends merke ich oft
       die Anstrengung, aber am Tag während der Arbeit nicht. Denn alles, was wir
       tun, empowert uns auch selbst, und wir merken, dass unser Einsatz Früchte
       trägt. Sorge macht mir aber, dass Meinungen, die früher als rechts galten,
       heute in der Mitte der Gesellschaft angekommen sind. Wenn sich die Diskurse
       verschieben, ist das gefährlich für uns. Darum lassen wir nicht nach, die
       Leute darüber aufzuklären, was mit den Sinti und Roma in der NS-Zeit
       passiert ist und welchen Rassismus wir heute noch erleben.
       
       Was ich mir wünsche, ist eigentlich ganz einfach: normale Teilhabe und
       Akzeptanz, also das, was jedem Bürger, jeder Bürgerin zusteht. Unsere
       Kinder sollen behandelt werden wie andere, unsere Jugendlichen sollen
       Ausbildungsplätze kriegen. Ich selbst wollte Bankkaufmann werden und wurde
       mit einem rassistischen Spruch abgelehnt – das ist lange her. Aber vor
       wenigen Monaten wurde hier in Neumünster einer jungen Sinteza gesagt, dass
       sie mit ihrem Namen keinen Vertrag bekäme. Das ist nicht 1940 oder 1960
       passiert, sondern im Jahr 2023! Ich denke, um das allmählich zu ändern,
       braucht es Bildung und Aufklärung von der Kita bis in die Berufsschulen und
       Universitäten.
       
       ----
       
       Romani Rose, Jahrgang 1946, ist Vorsitzender des Zentralrats Deutscher
       Sinti und Roma. 
       
       Die Entwicklung in unserem Land und der neue Nationalismus und
       Rechtsextremismus machen mir Sorgen. Mit Fassungslosigkeit habe ich das
       Treffen in Potsdam wahrgenommen. Rechtsextremismus und Nationalismus zeigen
       sich mit Gewalt. Auch Sinti und Roma waren in der Vergangenheit Opfer. Die
       Bundesrepublik hat über lange Jahrzehnte hinweg den Rechtsextremismus und
       Nationalismus verharmlost und klein geredet, weil viele in unserem Land es
       gleichtun mit Patriotismus.
       
       Ich betrachte mich als Patrioten. Deutschland ist meine Heimat, auch mein
       Land und das Land meiner Kinder und Enkelkinder. Die Verteidigung der
       Demokratie und des Rechtsstaats steht für mich im Vordergrund – vor allem
       anderen. Die Minderheitenrechte werden nur über die Demokratie und über den
       Rechtsstaat garantiert. Wenn Demokratie und Rechtsstaat beseitigt werden –
       was einige dieser Leute, die von einer Renaissance der Vergangenheit
       träumen, als krankhafte Vorstellung haben –, dann hat das massive
       Auswirkungen auf unsere gesamte Gesellschaft. Was wir als Zentralrat
       erreicht haben, hätte ich mir vor 40 Jahren nicht vorstellen können. Vor
       allen Dingen: die Anerkennung als nationale Minderheit 1995. Ebenso die
       Anerkennung des Holocaust, des Völkermords an den 500.000 Sinti und Roma im
       NS-besetzten Europa, die natürlich erst 1982, fast 40 Jahre verspätet, kam.
       Auch die Errichtung des Denkmals in Berlin, für die wir viele Jahre
       eingetreten sind, und dass in Städten und Gemeinden in unserem Land
       Erinnerungstafeln und Gedenksteine angebracht werden. Das sind wichtige
       Zeichen für eine gemeinsame Verantwortung und für eine allgemeine
       Aufarbeitung der Geschichte.
       
       Erinnern hat für uns dabei nichts mit einer Schuldübertragung auf die
       heutige Generation zu tun. Erinnern heißt, Verantwortung zu übernehmen für
       das Vermächtnis der Opfer von Auschwitz, der 6 Millionen Juden und der
       500.000 Sinti und Roma und für die Situation des Unrechts in Europa.
       Nationalismus sollte in unserem Land keinen Platz haben.
       
       ----
       
       Amela, Jahrgang 1988, Amela heißt eigentlich anders. Sie ist in Skopje
       geboren, in Deutschland aufgewachsen und macht eine Ausbildung zur
       Pflegekraft in einer norddeutschen Großstadt. 
       
       Heute bin ich glücklich, wir sind glücklich, meine Kinder gehen zur Schule,
       mein Mann arbeitet, und auch ich habe ein gutes Auskommen. Ich bin im
       zweiten Lehrjahr meiner Ausbildung zur Pflegefachkraft in einem
       Krankenhaus. Die Stelle hat mir meine Schwägerin vermittelt, die dort als
       Reinigungskraft angestellt ist. Seit 2019 bin ich dort und habe erst mal
       drei Jahre als Pflegehelferin gearbeitet. Vorher musste ich monatelang auf
       ein Arbeitsvisum warten.
       
       Bei der Arbeit erwähne ich nicht, dass ich Romani bin. Deshalb möchte ich
       auch nicht mit Namen in der Zeitung stehen. Als ich neu war, hörte ich in
       der Pause die Kolleginnen miteinander reden. Eine sprach über ihre
       Nachbarn, die „Zigeuner“ seien, viel Geld und teure Autos hätten und
       kriminell seien. Die anderen stimmten ihr zu. Da dachte ich mir: Ich sage
       einfach nur, dass ich aus Mazedonien komme, sonst haben sie gleich ein
       schlechtes Bild von mir. Aber es ärgert mich: Wir sind keine schlechten
       Leute. Von jeder Nationalität gibt es solche und solche Menschen. Es gibt
       auch Deutsche, die klauen. Aber wenn einer einen Fehler macht, dann werden
       gleich alle aus der Gruppe diskriminiert.
       
       Ehrlich gesagt ist das in Mazedonien aber noch ein bisschen schlimmer. Dort
       ist es für Roma sehr schwierig, eine Arbeit zu finden, sie werden in allen
       Bereichen des Lebens diskriminiert, auch wenn es in den letzten Jahren
       kleine Verbesserungen gab. Für eine gute Schule oder um zu studieren,
       brauchst du Kontakte, die viele Roma nicht haben. Die Ethnie spielt eine
       riesige Rolle, bei Jobs haben Mazedonier oder Albaner den Vorrang.
       
       Schon meine Tante kam vor Jahrzehnten als Gastarbeiterin nach Deutschland
       und lebt noch immer hier. Ich selbst bin in Deutschland aufgewachsen. Meine
       Eltern waren mit uns als Asylbewerber hergekommen. Deshalb spreche ich
       Deutsch, ich war hier bis zur dritten Klasse in der Grundschule. Danach
       wurden wir abgeschoben. Es war immer mein Traum, zurückzukehren, der sich
       nun nach vielen Jahren erfüllt hat.
       
       Wir haben hier die Chance auf ein besseres Leben, wir verdienen mehr, und
       meine Kinder haben eine Zukunft. Klar: Zu Hause reden wir Romanes, aber mit
       den Kindern haben wir jetzt einen Sprachmix, wo neben Mazedonisch auch
       Deutsch dabei ist, damit sie es gut lernen.
       
       Wenn ich in die Zukunft schaue, dann wünsche ich mir, dass ich meine
       Ausbildung abschließe und eine gute Fachkraft werde. Noch in diesem Jahr
       stelle ich einen Antrag auf eine unbefristete Niederlassungserlaubnis. Dann
       könnte ich hier bleiben. Ich wünsche mir, dass wir irgendwann vielleicht
       ein Haus kaufen können. Wenn ich das Gefühl hätte, dass die Kollegen nicht
       rassistisch sind, könnte ich mir auch vorstellen offen zu sagen, dass ich
       Romani bin.
       
       ----
       
       Anna-Gleirscher-Entner, Jahrgang 1970, ist Psychotherapeutin in Kasten bei
       Böheimkirchen, Österreich. 
       
       Ich bin in einer Sinti-Familie mit elf Geschwistern in Linz aufgewachsen.
       Schon immer hat mich eine gewisse Schwere begleitet. Ich bin überzeugt,
       dass Traumata von einer Generation zur nächsten weitergegeben werden können
       und dass dies auch in meiner Familie der Fall war. Mein Vater ist 1936
       geboren, er musste sich während dem Nationalsozialismus jahrelang vor den
       Nazis verstecken. Meine Mutter verbrachte drei Jahre im KZ Lackenbach, das
       war das größte Lager für die Verfolgung und Deportation von Sinti und Roma
       im Deutschen Reich und Österreich. Über diese Zeit haben meine Eltern in
       meiner Kindheit nie geredet, es war ein Tabu, darüber zu sprechen.
       
       Das war für mich sehr schwierig, da ich unglaublich neugierig war und die
       Welt verstehen wollte. Es fühlte sich immer so an, als würden Geister über
       meiner Familie schweben, die ich nicht greifen konnte. Erst später habe ich
       durch meinen Beruf gelernt, dass dies eine Überlebensstrategie meiner
       Eltern war, sie konnten einfach nicht über das Erlebte sprechen, sie
       mussten sich davor schützen. Aufgrund ihrer Geschichte konnten sie nicht
       wirklich Eltern sein, deshalb war ich früh auf mich allein gestellt. Durch
       meine Ausbildung zur Psychotherapeutin konnte ich meine Familiengeschichte
       immer besser verstehen. Zwar ist die Schwere immer noch präsent, aber
       mittlerweile habe ich sie als Teil von mir akzeptiert.
       
       Neben der Schwere zeichnete meine Eltern auch eine wahnsinnige
       Überlebenskraft aus, die sie auch an mich weitergetragen haben. Ich wollte
       das Schweigen meiner Eltern brechen, ich habe deshalb ein Buch über den
       Umgang mit Traumata von Sinti und Roma geschrieben. Auch in meiner Arbeit
       versuche ich mit einem kultursensiblen Ansatz, immer auch die Herkunft
       meiner Patienten miteinzubeziehen, ihnen zu helfen, sich selbst und ihre
       Erfahrungen besser zu verstehen. All dies sind Dinge, die mir geholfen
       haben, mich in gewisser Weise auch aus einer Opferrolle zu befreien.
       
       Gleichzeitig gibt es in Österreich immer noch sehr viel Diskriminierung
       gegenüber Sinti und Roma. Sie werden immer noch nicht als Bürger dieses
       Landes gesehen, es gibt die gleichen Vorurteile der faulen, stehlenden und
       ungebildeten Z* wie vor hunderten von Jahren, das hat sich kaum verändert.
       Damals wie heute wird Menschen ihr Menschsein abgesprochen, und das ist der
       Ursprung von allem Gräuel.
       
       Dass es heutzutage Menschen gibt, die den Überfall auf Jüd:innen feiern,
       besorgt mich auch als Sintizza. Ich habe immer diese latente Angst, dass es
       auch mich wieder treffen könnte. Auch dass es in Österreich mittlerweile
       Sinti und Roma gibt, die die FPÖ wählen, ist für mich völlig
       unverständlich. Sie scheinen unsere Geschichte vergessen zu haben und sind
       blind dafür, welcher Diskriminierung wir noch immer ausgesetzt sind.
       
       Ich würde mir wünschen, dass die Gesellschaft jenseits der Stereotype von
       Sinti und Roma die Biografien der Menschen sehen und ihnen endlich mit
       Respekt und Wertschätzung begegnen würde. Aber ich habe wenig Hoffnung,
       dass dies in naher Zukunft passieren wird.
       
       8 Apr 2024
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.romnja-power.de/unter-verdacht-rassismuserfahrungen-von-romnja-und-sintizze-in-deutschland/
   DIR [2] https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/downloads/DE/publikationen/themen/heimat-integration/bericht-unabhaengige-kommission-Antiziganismus.pdf;jsessionid=8B390398B919B6AC8DCC0C1243CF82E0.live891?__blob=publicationFile&v=3
   DIR [3] https://dserver.bundestag.de/btd/20/097/2009779.pdf
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Isidora Randjelović
   DIR Ruždija Sejdović
   DIR Milena Ademović
   DIR Marlo Thormann
   DIR Romani Rose
   DIR Amela
   DIR Anna Gleirscher-Entner
       
       ## TAGS
       
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       Jahrzehnten für die Minderheit ein. Ein Gespräch, auch über Kritik aus
       seiner Community.
       
   DIR Bildungschancen von Roma in Spanien: Gitanos kämpfen gegen Segregation
       
       Nur ein Bruchteil der Roma in Spanien haben einen Hochschulabschluss. Wer
       als Gitano aufsteigen will, muss gegen Armut und Diskriminierung ankämpfen.
       
   DIR Kelly Laubinger über Diskriminierung: „Genug Rassismus für alle da“
       
       Die Sinteza und Aktivistin Kelly Laubinger sah als Kind, wie die Polizei
       ihre Puppen durchsuchte. Ein Gespräch über das Leben unter Generalverdacht.
       
   DIR Sinti-Vereinsvorsitzender über Mahnmal: „Ein Wegweiser in die Zukunft“
       
       Der Sinti-Verein Hamburg hat auf dem Friedhof am Diebsteich in
       Hamburg-Bahrenfeld ein Mahnmal errichtet. Am Sonntag wird es feierlich
       eingeweiht.