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       # taz.de -- Ärztin über Abtreibungsparagrafen: „Müssen jetzt viel Druck machen“
       
       > Die Empfehlungen der Kommission zu Abtreibungen seien historisch, sagt
       > Alicia Baier von den Doctors for Choice. Die Ampel müsse die Chance nun
       > nutzen.
       
   IMG Bild: Wie lange noch? Demonstration am 2.6.1973 in Bonn gegen den Abtreibungsparagrafen 218
       
       taz: Frau Baier, die von der Bundesregierung eingesetzte Kommission zur
       reproduktiven Selbstbestimmung empfiehlt, Schwangerschaftsabbrüche
       mindestens in den ersten drei Monaten zu legalisieren. Wie finden Sie das? 
       
       Alicia Baier: Das ist ein historischer Moment. Die Empfehlungen der
       Kommission geben der Politik die einmalige Chance, eine neue Regelung zu
       finden, die ungewollt Schwangere endlich gut medizinisch versorgt – statt
       ihnen wie bisher zu schaden. Die Kommission sagt ganz klar, dass die
       aktuelle Rechtslage in Deutschland verfassungs- und menschenrechtlich nicht
       haltbar ist.
       
       Haben Sie auch Kritik? 
       
       Bei vielen wichtigen Themen wird die Kommission weniger konkret. Da zeigt
       sie vor allem Handlungsspielräume auf; etwa bei der Pflichtberatung oder
       bei Abbrüchen nach den ersten drei Monaten. Natürlich hätten wir uns da
       entschiedenere Positionen gewünscht. Aber die Kommission diskutiert die
       Themen durch – und zeigt die Nachteile etwa der Beratungspflicht deutlich
       auf. Es liegt nun an der Politik, eine gute Regelung im Einklang mit den
       Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation zu finden.
       
       Was würde eine umfassende Umsetzung der Empfehlungen bedeuten? 
       
       Es würde bedeuten, dass wir Menschen- und Frauenrechte in Deutschland
       endlich achten. [1][Nicht umsonst wurde die Bundesrepublik für ihre
       restriktive Rechtslage von der UN-Frauenrechtskonvention gerügt]. Eine
       weitreichende Umsetzung würde Abbrüche endlich als das anerkennen, was sie
       sind: als wichtige medizinische Leistung statt als Straftat. Und es würde
       eine gute und gerechte Versorgung möglich, nicht zuletzt, indem der
       Eingriff Kassenleistung wird.
       
       [2][Das Thema ist enorm umstritten.] Befürchten Sie eine gesellschaftliche
       Kontroverse? 
       
       Die wird es sicher geben. Aber die Zeit dafür ist gekommen: Die
       gesellschaftliche Haltung zum Schwangerschaftsabbruch hat sich in den
       vergangenen Jahren geändert. Die Mehrheit befürwortet eine Legalisierung,
       wie Umfragen gezeigt haben. Eine Legalisierung würde zwar nicht von heute
       auf morgen die Stigmatisierung von Abbrüchen beenden – aber sie wäre eine
       notwendige Bedingung dafür.
       
       Die Union pocht darauf, dass eine Legalisierung gegen die Urteile des
       Bundesverfassungsgericht verstoßen würde – [3][und droht schon jetzt mit
       einer Klage]. 
       
       Die aktuelle Regelung ist hochproblematisch. Deshalb wurde diese Kommission
       beauftragt. Sie war interdisziplinär zusammengesetzt, darunter mehrere
       Juristinnen. Die sagen jetzt nicht nur, dass eine Legalisierung möglich
       ist. Sie sagen, diese ist dringend geboten. Selbst viele liberale Kräfte
       haben sich lange Jahre aus Sorge vor dem Bundesverfassungsgericht nicht an
       den sogenannten Kompromiss zum Schwangerschaftsabbruch getraut. Jetzt sehen
       wir es schwarz auf weiß: Es gibt keinen Grund, Abtreibungen weiter zu
       kriminalisieren.
       
       SPD und Grüne hatten die Streichung des Abtreibungsverbots in ihren
       Wahlprogrammen. Was erwarten Sie von der Ampel? 
       
       Ich erwarte, dass die Ampel sich dieser Empfehlungen ohne Verzögerung
       annimmt und die Chance ergreift, die aufgezeigten Spielräume umfassend
       auszunutzen.
       
       Sind Sie zuversichtlich? 
       
       Ich habe Sorge, dass das Thema mit Blick auf den beginnenden Wahlkampf
       verschleppt wird. Das wäre fatal: Gerade jetzt haben wir eine liberale
       Regierung, die einer Legalisierung in der Mehrheit positiv gegenübersteht.
       Das kann in der nächsten Legislatur ganz anders aussehen. Aber die
       Empfehlungen der Kommission sind nicht bindend. Genau deswegen müssen wir
       jetzt öffentlich viel Druck machen. Dieser Zeitpunkt muss unbedingt genutzt
       werden.
       
       10 Apr 2024
       
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