URI: 
       # taz.de -- Polizeieinsatz in Göttinger Wohnkomplex: „Ortsbegehung“ im Morgengrauen
       
       > In Göttingen wurde mit einem Großaufgebot ein Hochhaus kontrolliert, in
       > dem überwiegend Rom*nja wohnen. Das martialische Vorgehen wird
       > kritisiert.
       
   IMG Bild: Zum Teil in Schutzkleidung im Einsatz: Polizist*innen führten am Dienstag Kontrollen in einem Göttinger Wohnkomplex durch
       
       Göttingen taz | Es waren Hunderte Einsatzkräfte, die sich am Dienstagmorgen
       [1][um den Göttinger Hochhauskomplex nahe des Bahnhofs aufstellten.] An
       zwei Hauptzufahrtsstraßen in die Stadt parkten um sechs Uhr die
       Polizeimannschaftsbusse, manche der Polizist*innen trugen gelbe oder
       blaue Schutzanzüge, als die Einheiten in die Einfahrt des Hauses in der
       Groner Landstraße marschierten. Drohnen kreisten währenddessen in der Luft.
       
       Was nach einer groß angelegten Razzia klingt, bezeichnete Göttingens
       Sozialdezernentin Anja Krause nach Abschluss des gemeinsamen Einsatzes von
       Stadtverwaltung und Polizei als „Ortsbegehung zur Verbesserung der
       Lebensumstände“. In Tandems hätten Polizist*innen und Mitarbeitende der
       Stadt „ganz in Ruhe“ Personalien der Bewohner*innen aufgenommen,
       Leerstand, Schädlingsbefall und Überbelegung überprüft. Damit wolle man dem
       Haupteigentümer nachweisen, dass es in seiner Immobilie inakzeptable
       Missstände gibt, unter denen die rund 700 Menschen, darunter 200 Kinder und
       Jugendliche, zu leben hätten.
       
       Doch die Kritik an der Aktion ist groß. „Wieso kommen hier 600 Polizisten?
       Die Kinder wurden alle um 6 Uhr aufgeweckt und hatten Angst“, sagt ein
       50-jähriger Bewohner der taz. Ohne den Tausch von Personalien gegen einen
       Kontrollschein habe niemand das Gelände verlassen dürfen, auch die Kinder
       hätten nur nach Kontrolle zur Schule gehen dürfen.
       
       Das sei „einfach Stress für die Kinder“, sagt er. „Wir sind für die wie
       Hunde, nur Hunde lassen sie laufen, aber uns nicht“. Die Polizei habe
       außerdem „Geld, Goldschmuck und Handys“ konfisziert und immer wieder
       gefragt: „Wieso habt ihr das?“ Einige Anwohner*innen hätten nun
       Probleme, ihre Einkäufe zu zahlen.
       
       ## Kritik an „rassistischer Repression“
       
       Neben einem sozialen Brennpunkt sei die Groner Landstraße 9–9b auch ein
       „polizeilicher Brennpunkt“, sagte am Dienstagnachmittag Rainer Nolte,
       leitender Polizeidirektor in Göttingen. Insgesamt habe man während der
       Maßnahme fünf Haftbefehle vollstrecken können und sieben
       Wohnungsdurchsuchungen durchgeführt. Die Haftbefehle seien alle aufgrund
       kleiner Delikte und Ordnungswidrigkeiten erlassen worden.
       
       „Unsere Gespräche mit den Bewohner*innen und das Auftreten der Behörden
       zeigen deutlich, dass die Stadt sich als liebe Helferin inszeniert und
       dahinter gewaltvolle, rassistische Repressionen stecken“, erklärt Lena
       Rademacher, Sprecherin der Basisdemokratischen Linken.
       
       Die Gruppe war es auch, die den letzten behördlichen Großeinsatz im Juni
       2020 massiv kritisierte. Damals stellte die Stadtverwaltung das gesamte
       Gebäude aufgrund einiger Coronafälle unter Quarantäne und setzte diese mit
       einer Einzäunung des Gebäudekomplexes und massivem Polizeiaufgebot durch.
       
       [2][Inzwischen hat das Göttinger Verwaltungsgericht das Vorgehen für
       rechtswidrig erklärt.] Daraufhin klagten im Dezember vergangenen Jahres von
       den etwa 700 Anwohner*innen 223 Personen aus 78 Familien auf ein
       Schmerzensgeld wegen rechtswidriger Freiheitsentziehung in Höhe von 880.850
       Euro. Das geht aus einer Pressemitteilung der Anwaltskanzlei Sven Adam
       hervor. Bekommen haben die Bewohner*innen bis heute allerdings nichts.
       
       ## Auch Grüne kritisieren Vorgehen
       
       Auch die Göttinger Ratsfraktion der Grünen stellt den Einsatz am Dienstag
       infrage: „Es ist gut, dass wir uns endlich den Wohnverhältnissen in der
       Groner Landstraße 9 zuwenden, und es ist auch gut, dass die Bewohnbarkeit
       des Hauses Priorität bekommt und wir nicht mehr tatenlos zusehen – aber
       dafür ein solch massiver Einsatz im Morgengrauen?“, stellt Susanne Stobbe,
       Fraktionsvorsitzende der Göttinger Ratsfraktion der Grünen das Vorgehen
       infrage.
       
       Es sei klar, dass die Gefährder*innenlage von der Polizei
       eingeschätzt werde und diese schlussendlich festlege, wie viele
       Polizist*innen zum Einsatz kämen, so Stobbe, aber bei
       Verhältnismäßigkeit und Umgang mit den Bewohnenden sei die Verwaltung
       gefragt.
       
       Auch das Göttinger Roma-Center kritisiert den Einsatz am Dienstag scharf.
       „Die Maßnahme stigmatisiert die Bewohner*innen, traumatisiert die Kinder
       durch den massiven Einsatz der Polizei. In dem Haus leben [3][viele Roma
       aus Rumänien,] ein Land das regelmäßig von europäischen Institutionen wegen
       Polizeigewalt verurteilt wird.“
       
       10 Apr 2024
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Quarantaene-im-Hochhaus-in-Goettingen/!5693050
   DIR [2] /Corona-Quarantaene-in-Goettingen/!5975142
   DIR [3] /Romani-Rose-ueber-Rechte-von-Sinti--Roma/!6002898
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Yasmin Dreessen
       
       ## TAGS
       
   DIR Göttingen
   DIR Polizei Niedersachsen
   DIR Sinti und Roma
   DIR Wohnraum
   DIR Heizkosten
   DIR Göttingen
   DIR Schwerpunkt Rassismus
   DIR Schwerpunkt Coronavirus
   DIR Hochhaus
   DIR Schwerpunkt Coronavirus
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Millionennachzahlung verlangt: Mieter wehren sich erfolgreich gegen Heizkostenwucher
       
       Göttinger müssen überhöhte Heizkostennachzahlungen erstmal nicht bezahlen.
       Die Hauseigentümerin LEG klagt nun gegen den Energieversorger Enercity.
       
   DIR Haus der Heilsarmee in Göttingen: Unterkunft für Obdachlose verfällt
       
       Ein Wohnheim der Heilsarmee wird nur notdürftig repariert. Bewohner
       fürchten, dass es bald nicht mehr zu retten ist. Doch die Stadt spielt auf
       Zeit.
       
   DIR Razzia in Göttinger Hochhaus: Unprofessionell und stigmatisierend
       
       Die Kontrolle eines Hochhauses in Göttingen war gut gemeint. Doch Stadt und
       Polizei haben die Bewohner*innen wie Verbrecher*innen behandelt.
       
   DIR Corona-Quarantäne in Göttingen: Rechtswidrig eingesperrt
       
       Eine Familie klagte gegen die Umzäunung ihres Wohnkomplexes in der
       Pandemie. Nun erklärte ein Gericht das für rechtswidrig.
       
   DIR Quarantäne im Hochhaus in Göttingen: Flucht aus dem Corona-Block
       
       Das Göttinger Hochhaus ist nicht mehr völlig abgeriegelt. Zwei Familien
       haben Eilanträge gestellt, um aus den beengten Wohnverhältnissen
       auszuziehen.
       
   DIR Wegen Corona abgeriegelter Wohnkomplex: Leichte Lockerungen in Göttingen
       
       BewohnerInnen des wegen Corona abgeriegelten Wohnkomplexes, die zweimal
       negativ getestet wurden, dürfen das Gebäude wieder verlassen.