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       # taz.de -- Nach dem Tod von O.J. Simpson: Durch verschiedene Brillen
       
       > Der Footballstar O. J. Simpson ist gestorben. Bekannt wurde er durch
       > einen Mordprozess, der die Gräben zwischen Schwarzen und Weißen zeigt.
       
   IMG Bild: Ins Gefängnis hat O.J. Simpson nicht der Mord, sondern ein versuchter Raubüberfall gebracht. Hier stand er 2008 vor Gericht
       
       Meine Beziehung zu dem ehemaligen Footballspieler Orenthal James (O. J.)
       Simpson reicht bis in die 1970er Jahre zurück. Ich wuchs im Hudson Valley
       auf und wurde Fan, als ich beobachtete, wie er die gegnerische Abwehr
       durchbrach und für die Buffalo Bills über das Feld rannte.
       
       Meine Bewunderung war der Grund dafür, dass ich mich 1973 oder 1974 – ich
       muss damals zehn Jahre alt gewesen sein – allein auf den Weg zur Saratoga
       County Fair machte, die einige Blocks von meinem Elternhaus entfernt
       stattfand. Simpson sollte dort Autogramme verteilen. Ich stand ganz vorne
       in der Schlange, die immer länger wurde.
       
       Dann tauchte O. J. auf. 1,85 Meter groß und gut aussehend. Er stieg in
       einem 1970er-Leisure-Suit im weißesten Weiß aus einem kleinen Wohnwagen aus
       Aluminium. Unter einem Pavillon gab er Autogramme, ich bekam eines und
       schaute noch eine Weile zu.
       
       ## Völlig unterschiedliche Wahrnehmung
       
       Irgendwann brach ohne erkennbaren Grund die Menge auseinander, und die
       Menschen stürmten den Pavillon. O. J. schwang sich über das Geländer,
       landete anmutig, joggte zum Wohnwagen und verschwand darin. Die Menge
       stürzte sich auf den Wohnwagen und begann ihn zu schaukeln! Mit O. J. und
       allen, die sich darin befanden! Schließlich tauchte die Polizei auf und
       zerstreute die Menge.
       
       Danach habe ich lange nicht über den Vorfall nachgedacht – ebenso wenig wie
       über O. J. Simpson oder den US-Football – bis der Mordprozess gegen Simpson
       1994 in die Nachrichten kam. Die Staatsanwaltschaft behauptete, Simpson
       habe seine Ex-Frau Nicole Brown und deren Freund Ron Goldman erstochen. Ich
       blieb auf dem Laufenden – es war schwer, es nicht zu tun, selbst von Europa
       aus. Was ich nicht erwartet hatte, war, dass etwas Tiefgreifendes und
       Beunruhigendes über die USA enthüllt würde: nämlich die völlig
       unterschiedlichen Wahrnehmungen weißer und Schwarzer US-Amerikaner in Bezug
       auf die Strafverfolgung und das Strafrechtssystem des Landes.
       
       [1][78 Prozent der Schwarzen glaubten laut einer CBS-Befragung,] dass
       Simpson von der rassistischen Polizei reingelegt wurde. Die weiße
       Bevölkerung schockierte und verblüffte das, 75 Prozent der Befragten
       hielten Simpson für schuldig. Als liberaler weißer Mann der Mittelschicht
       wusste ich sehr wohl, dass der Rassismus in den USA tief verwurzelt ist und
       dass Schwarze Amerikaner seit Jahren Opfer rassistischer Polizeikräfte
       sind.
       
       Von den Lynchmorden, die bis in die 1960er Jahre hinein stattfanden, bis
       hin zum Fall von Rubin Carter. Carter saß jahrelang im Gefängnis für einen
       Mord, den er nicht begangen hatte. Und natürlich wurde 1991 der brutale
       Angriff von Rodney King mit der Kamera aufgezeichnet. Jeder konnte sehen:
       King wurde von weißen Beamten des Los Angeles Police Departments schwer
       misshandelt.
       
       Aber dennoch wären die Beweise gegen Simpson erdrückend, dachte ich während
       des Prozesses. Schließlich gab es übereinstimmendes Blut, Haare und Fasern,
       die Simpson mit den Morden in Verbindung brachten. Am Tatort in Los Angeles
       wurden blutige Fußabdrücke in seiner Größe gefunden und ein Handschuh, der
       genauso aussah wie der, den seine getötete Ex-Frau gekauft hatte und den er
       bei im Fernsehen übertragenen Footballspielen trug. Ein weiterer Handschuh,
       der mit seinem Blut und dem der Opfer verschmiert war, wurde in Simpsons
       Haus gefunden.
       
       ## Rassistische Polizeigewalt
       
       Doch das Misstrauen der Schwarzen Amerikaner gegenüber dem System war so
       groß, und sie hatten so schreckliche Erfahrungen mit der Polizei gemacht,
       dass sie überzeugt waren, dass Simpson hereingelegt worden war: ein
       weiterer Schwarzer Mann, der aufgrund seiner Hautfarbe vom System verfolgt
       wurde. Es hat mir die Augen geöffnet, wie Schwarze Amerikaner die Dinge
       durch eine völlig andere Brille sehen als weiße Amerikaner, selbst meine
       Familie und Freunde.
       
       Noch nie zuvor war in den USA die tiefe kulturelle Spaltung zwischen weißen
       und Afroamerikanern so deutlich zutage getreten. Auch heute noch, obwohl 30
       Jahre vergangen sind, ist der Fall O. J. sehr bedeutsam für das Verständnis
       der USA. Ein Smartphone-Video rassistischer Polizeigewalt gegen
       Afroamerikaner nach dem anderen dokumentiert das Phänomen. Der bekannteste
       Fall: die Ermordung von George Floyd im Jahr 2020 durch einen weißen
       Polizeibeamten aus Minneapolis. Diese Fälle haben die Kluft noch tiefer
       werden lassen.
       
       Und das ist ein Grund, warum Präsident Biden bei den Wahlen einen so
       schweren Stand hat. Schwarze Amerikaner wollen einem weißen Mann nicht ihre
       Stimme geben, nur weil der andere eine noch schlechtere Option ist.
       Umfragen zeigen, dass die Rate der Zustimmung für Biden unter Schwarzen
       Wählern seit Anfang 2023 um fast 20 Punkte gesunken ist. Die Regierung
       Biden weiß aber, dass sie 90 Prozent [2][der afroamerikanischen Stimmen
       braucht, um zu gewinnen.]
       
       Sie rühmt sich damit, dass Biden eine Schwarze Frau in den Obersten
       Gerichtshof berufen und politische Maßnahmen ergriffen hat, die die
       Ungleichheit zwischen Schwarzen und weißen US-Amerikanern verringern
       sollen, etwa die Unterstützung von Unternehmen in Schwarzem Besitz, die
       Erweiterung des Zugangs zu Wohnraum, die Verbesserung der Bildungschancen
       und Regelungen zur Beseitigung der Ungerechtigkeiten in der
       Gesundheitsversorgung und im Bildungswesen.
       
       Aber Afroamerikaner sehen das anders. Der Mordprozess erinnerte mich an den
       wütenden Mob, den ich in den frühen 1970er Jahren hinter Simpson herlaufen
       sah. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass weiße Footballfans, die an einem
       Autogramm interessiert waren, aus heiterem Himmel einen rassistischen
       Angriff auf einen afroamerikanischen Starspieler starten würden. Aber
       vielleicht liegt das daran, dass ich weiß bin.
       
       Aus dem Englischen von Ann-Kathrin Leclère
       
       14 Apr 2024
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.euronews.com/culture/2023/10/03/culture-re-view-oj-simpson-freed-after-being-found-not-guilty-of-murder
   DIR [2] /Schwarze-Waehlerinnen-in-den-USA/!5687603
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Paul Hockenos
       
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