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       # taz.de -- Ein Jahr Krieg in Sudan: Khartum lebt in unseren Herzen
       
       > Unsere Autorin schreibt darüber, dass Sudans Machthaber ihre Heimatstadt
       > zerstört haben. Doch sie gibt die Hoffnung nicht auf.
       
   IMG Bild: Die sudanesische Journalistin Lujain Alsedeg lebt heute im Kairoer Exil
       
       Die [1][englische Originalfassung] dieses für die taz verfassten Textes
       lesen Sie hier 
       
       Vor einem Jahr, nach elf Tagen in der Kampfzone, [2][verließ ich meine
       Stadt]. Seitdem haben Sudans Streitkräfte (SAF) und die paramilitärischen
       Rapid Support Forces (RSF) ihren [3][brutalen Krieg] fortgesetzt und
       Khartum zerstört.
       
       Vor dem Krieg war Khartum meine geliebte Heimat, wo mein Vater begraben
       liegt und die meisten meiner Verwandten leben. Wo sich alles befand, was
       wir als Familie besaßen, und trotz der schwierigen politischen und
       ökonomischen Umstände wankte unser kollektiver Glauben an Khartums
       Sicherheit nie. Denn in Sudan leben, hieß, die komplexe Realität zu
       verstehen, wie Warlords sich um die Macht in Khartum und um die Ressourcen
       außerhalb von Khartum bekriegen. Die Hauptstadt wurde als das zivilisierte
       Gesicht des Landes behandelt, und um das Gesicht zu wahren, mussten die
       Konflikte anderswo ausgetragen werden.
       
       „Anderswo“ hieß während meiner Schulzeit: Darfur und Südsudan. Ich habe
       vage Erinnerungen an Berichte von Rebellengruppen, die dort gegen die
       Regierung kämpften. Lokale Nachrichten entfremdeten Süd- und Westsudanesen
       vom Rest des Landes und stellten sie als Wilde und Diebe dar.
       
       Dieses Narrativ hat koloniale Ursprünge, als britische und türkische
       Autoritäten den Tribalismus und den Rassismus förderten, indem sie
       Nordsudanesen mit Wohlstand und Status bevorzugten. Daraus entstand ein von
       Konflikten zerrissenes Land mit einem riesigen Gefälle zwischen den
       Regionen, was Entwicklung, Zugang zu Ressourcen und Bildung angeht.
       
       ## Khartums historische Gleichgültigkeit
       
       Schon vor den jüngsten Konflikten wurde Khartums Status als zivilisierte
       Oase in Sudan auf die Probe gestellt. Ich ging noch zur Schule, als der
       Führer der in Südsudan kämpfenden SPLA (Sudan People's Liberation Army),
       John Garang, in einem Hubschrauberabsturz getötet wurde, wenige Monate
       nachdem er 2005 das Friedensabkommen von Naivasha unterschrieben hatte, das
       Südsudan den Weg zur Unabhängigkeit ebnete. Nach seinem Tod gingen Nord-
       und Südsudanesen in Khartum aufeinander los, 36 Menschen wurden getötet.
       
       Der Schock von Garangs Tod spaltete die Hauptstadt zwischen Süd und Nord –
       eine Spaltung, die in Südsudan bereits bestand, aber in der Hauptstadt noch
       von sozioökonomischen Ungleichheiten überlagert war.
       
       Ich habe eine andere Erinnerung an die Gewalt nach John Garangs Tod als der
       Rest meiner Familie und die meisten Menschen in meiner Gemeinschaft, weil
       meine Schule eine der wenigen Institutionen Sudans war, die Zusammenleben
       zwischen Muslimen und Christen in Khartum förderte. Zwar war sie als
       koloniale Missionsschule entstanden, aber sudanesische Lehrer hatten
       Sister’s School in einen Freiraum ohne Diskriminierung verwandelt, wir
       wurden auf dem Schulgelände alle gleich behandelt.
       
       Während der Rest des Landes entweder muslimische Schulen für Nordsudanesen
       oder christliche Schulen für Südsudanesen kannte, bot meine Schule beide
       Bildungswege an, und als draußen Gewalt ausbrach, trösteten wir einander.
       Unsere kleine Gemeinschaft aus Schülern und Lehrern war persönlich
       betroffen, aber der Schock übersetzte sich nie in Gewalt oder Anspannung,
       wir lebten weiter friedlich zusammen.
       
       Ein weiterer Versuch, den zerbrechlichen Frieden von Khartum zu stören, kam
       2008, als die in Darfur kämpfende JEM (Justice and Equality Movement)
       Omdurman angriff, eine der drei Städte des Großraums Khartum. Über 220
       Menschen starben in zwei Tagen Schlacht, bis die JEM ihre Niederlage einsah
       und sich aus Khartum zurückzog.
       
       Diesmal brauchte die Stadt mehr Zeit, um sich zu erholen, und härtere
       Strafen wurden verhängt, auch die Todesstrafe. Und dennoch blieb Khartum
       das Traumziel des sudanesischen Volkes, eine Stadt mit über 6 Millionen
       Einwohnern, der einzige Ort in Sudan, in den sich zu investieren lohnte.
       
       Es gab auch zivile Versuche, Khartums Gleichgültigkeit gegenüber den Klagen
       von außerhalb zu stören. 2011 begannen die Menschen, zu Protesten gegen das
       Bashir-Regime zu mobilisieren, das Sudan seit 1989 regierte. Diese
       Demonstrationen währten bis 2013 trotz gewaltsamer Repression und flauten
       dann unter dem Eindruck von Reformversprechen der herrschenden Partei und
       Regierung ab.
       
       Doch die Versprechen wurden nie eingehalten, und Südsudans Sezession 2011
       verstärkte die politischen und ökonomischen Machtkämpfe im Land. Als im
       Dezember 2018 die Inflation einen Höchststand erreichte, begannen neue
       Proteste in Al-Damazin, der Hauptstadt des Bundesstaates Blue Nile, und
       Khartum schloss sich bald an.
       
       ## Aus Hass wurde Hoffnung
       
       Bis Dezember 2018 war meine Beziehung zu Khartum komplex. Meine Liebe für
       die Straßen meiner Kindheit vermischte sich mit Hass über zerbrochene
       Träume und bedrückende Lebensumstände.
       
       Während meine Schultage mich vor direkten Erfahrungen von Ungerechtigkeit
       bewahrt hatten, kam ich an der Universität mit den Erfahrungen meiner
       Kommilitonen aus dem ganzen Land in Berührung. Ich hörte ihre Geschichten
       vom Leben in Flüchtlingslagern und Kampfgebieten. Ich schloss mich den
       Protesten gegen den Zentralstaat an, obwohl ich als in Khartum
       Aufgewachsene von diesem Staat profitiert hatte. Ich konnte sehen, wie
       dieser Staat dem Rest Sudans schadete und wie die Ressourcen des Landes an
       einige Wenige mit Macht und Einfluss verschwendet wurden.
       
       Und aus dem Hass wurde Hoffnung. Aus der Teilnahme an Protesten entstand in
       mir ein Verantwortungsgefühl. Ich konnte plötzlich Frust und Wut in Taten
       kanalisieren.
       
       Als die Massensitzstreiks von April 2019 zum Sturz der Bashir-Diktatur
       führten, bedeutete die Teilnahme an den Protesten, Khartum in Besitz zu
       nehmen. Unsere Straßen waren nun gefüllt mit dem Bewusstsein, an einer
       [4][glorreichen Revolution] teilzunehmen, wo Hunderttausende von Menschen
       im Angesicht eines brutalen Regimes friedlich blieben bis zu ihrem letzten
       Atemzug.
       
       Ich gehörte zu einer Stadt, die nicht mehr gleichgültig war, die sich ihrer
       Privilegien bewusst wurde und daran aktiv etwas ändern wollte. Und zum
       ersten Mal war ich stolz auf meine Stadt.
       
       Auch der Putsch von 2021 erschütterte den Stolz nicht. Wir wussten, dass es
       nicht einfach war, das Land zu verändern, und wir gingen [5][erneut auf die
       Straße], diesmal mit Mobilisierung auf Nachbarschaftsebene und Schaffung
       von Basisstrukturen, die die korrupte Militärherrschaft und ihre Komplizen
       in den politischen Parteien ersetzen könnten.
       
       ## Stillstand hinter den Kämpfen
       
       Wir waren bereit zum langen Kampf, mit friedlichen Mitteln wie ziviler
       Ungehorsam und wöchentlichen Demonstrationen. Aber trotz der gewaltsamen
       Repression mit über 100 Getöteten gelang es dem De-facto-Führer nicht, eine
       funktionierende Regierung zu bilden. Niemand obsiegte im Kampf zwischen den
       Menschen auf der Straße und den Menschen an der Macht, und das Land kam
       scheinbar zum Stillstand.
       
       Unter diesem scheinbaren Stillstand köchelten Spannungen zwischen SAF und
       RSF. Sie hatten zwar 2021 gemeinsam geputscht, aber die Führer dieser
       beiden Streitkräfte waren sich uneins über das bisschen Macht, das es in
       Sudan noch gab.
       
       Am 15. April 2023 war ich Zeugin, wie Khartum zum Schlachtfeld wurde und
       wie im Angesicht von Gewalt und schweren Waffen unsere Erfahrungen und
       Mittel des friedlichen Widerstandes nichts mehr nützten.
       
       Das Einzige, was wir tun konnten, war, [6][zu gehen].
       
       Seitdem haben beide Kriegsparteien in Khartum den Sieg über die andere
       ausgerufen, wobei es in Wirklichkeit nichts mehr zu siegen gab. Die
       Zerstörung hat nichts ausgespart, physisch, ökonomisch, sozial, kulturell.
       
       ## Was, wenn der Krieg vorbei ist?
       
       Das Einzige, was nicht zerstört wurde, war unser Glaube, den wir in unseren
       Koffern mitnahmen, als wir gingen: der Glaube, dass es einen Weg zurück
       gibt.
       
       Heute ist der Krieg in meiner Stadt ein Jahr alt. Unser Haus in Khartum ist
       zerstört und geplündert worden. Unsere angemietete Wohnung in Kairo hat
       sich nie wie zu Hause angefühlt. Wir sprechen immer noch jeden Tag darüber,
       was wir machen, wenn der Krieg vorbei ist.
       
       Wir streiten darüber, woran wir erkennen, wenn der Krieg vorbei ist: Es
       gibt in Sudan keine Autorität mehr, der man vertrauen kann, es gibt selbst
       bei einem Ende der Kämpfe keine Garantie, dass der Krieg nicht erneut
       ausbrechen kann, unter altem oder neuen Gesicht.
       
       Der Anführer der paramilitärischen RSF hat gesagt: „Wer nicht kämpft, hat
       keine Haltung.“ Der Anführer der Streitkräfte SAF hat gesagt, dass nur
       Menschen mit „Resilienz“ regieren können und damit angedeutet, dass, wer
       gegangen ist oder sich nicht auf eine Seite geschlagen hat, in Zukunft
       ausgeschlossen sein wird. Sie versuchen, unseren Traum von einer Rückkehr
       zu zerschlagen.
       
       Aber ich glaube noch an einen Weg zurück. Er wird nicht mit einer großen
       Friedensverkündung kommen oder einer großen Geste einer Kriegspartei. Ich
       warte einfach. Auf eine Chance für normale Menschen, in Frieden zu
       existieren, ohne an der Gewalt teilzunehmen. Eine Chance, unsere Häuser
       wiederaufzubauen, unsere Stadt. Gäbe es diese Chance, ich würde keine
       Sekunde zögern.
       
       Aus dem Englischen von Dominic Johnson. Die Originalfassung lesen Sie hier
       
       15 Apr 2024
       
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