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       # taz.de -- Huckleberry-Finn-Neuerzählung „James“: Die umgedrehte Perspektive
       
       > Der afroamerikanische Autor Percival Everett erzählt im Roman „James“
       > eine Abenteuergeschichte. Es geht auch um Mark Twains Blick auf die
       > Sklaverei.
       
   IMG Bild: Der Autor Percival Everett 2022
       
       Anlässlich der Veröffentlichung von „James“, dem neuen Roman von Percival
       Everett, erschien im New Yorker ein großes Porträt des US-amerikanischen
       Schriftstellers. Maya Binyam, die Autorin, fragt darin den
       afroamerikanischen Autor nach seiner Lektüre von Mark Twains „Die Abenteuer
       des Huckleberry Finn“, dessen Geschichte „James“ nun aus der Sicht des
       Sklaven Jim neu erzählt.
       
       Er habe, antwortet Everett, den Roman als Jugendlicher nicht mit besonderer
       Begeisterung gelesen. Bei der neuerlichen Lektüre, vor der Abfassung von
       „James“, hätte er ihn als „blur“ empfunden, was so viel bedeutet wie
       „verschwommen“, „undeutlich“, aber auch „verzerrend“.
       
       Eine Interpretation, die, ließe sich ergänzen, Mark Twains Absicht auch
       ziemlich nahe kommt: „Wer versucht“, schreibt [1][der Klassiker Twain] in
       einer ironischen Vorbemerkung, „in dieser Erzählung … eine Moral … zu
       finden, wird des Landes verwiesen; wer versucht, eine schlüssige Handlung
       darin zu finden, wird erschossen.“ Was dann allerdings nichts daran
       geändert hat, dass „Die Abenteuer des Huckleberry Finn“ immer als Text
       gegen den Rassismus gelesen wurden.
       
       Aber kann man ihn auch als harmlosen Jugendroman lesen, in dem das
       eigentliche Grauen der Sklaverei nicht vorkommt? Viele Reaktionen von Jim
       bleiben dem heutigen Leser rätselhaft. Warum, beispielsweise, kann Jim sich
       vor Freude gar nicht mehr einkriegen, als er Huck nach einer Trennung
       wiedersieht? Beim ersten Lesen ist man von der tiefen Freundschaft Jims
       gegenüber Huck gerührt. Aber freut sich Jim nicht auch deshalb so sehr,
       weil der weiße Huck ein Stück weit seine Lebensversicherung ist?
       
       Twain erwähnt zwar Jims Angst vor den Sklavenjägern; aber was es konkret
       bedeutet, wenn sie ihn einfangen, erzählt er nicht. Jim bleibt deshalb
       blur. Allerdings gilt das auch für andere Figuren in Twains Roman, was wohl
       an seiner Absicht liegt, sie für den Leser „offen“ zu halten und jede
       Psychologisierung zu vermeiden.
       
       ## Die Angst ausfüllen
       
       Percival Everett ändert das nun. Indem er in „James“ die Flucht von Huck
       und Jim den Mississippi hinunter aus der Sicht von Jim erzählt, wird
       deutlich, weshalb ein etwa 13-jähriger Junge so wichtig für einen
       erwachsenen, um die 30 Jahre alten Mann wird. Es ist die Macht, die Huck
       allein aufgrund seiner Hautfarbe hat. Huck kann als Weißer die Situation am
       Ufer auskundschaften; Jim darf auf keinen Fall entdeckt werden.
       
       Einen Satz wie „aber wie er sich in der nächsten halben Stunde abrackerte,
       das zeigte, was für ne Angst er hatte“ füllt Everett erzählerisch mit
       Inhalt. Dabei hält er sich im Großen und Ganzen an den Plot Twains, lässt
       jedoch eine Reihe von Ereignissen weg und erzählt dafür neue. So wird in
       Everetts Version der Geschichte deutlich, wie [2][schnell ein Sklave in den
       amerikanischen Südstaaten gelyncht] wurde und wie perfide die nachträgliche
       juristische Begründung dafür war.
       
       Sammy, ein junges Mädchen, das verkauft und dadurch von ihrer Familie
       getrennt wurde, wird immer wieder von ihrem neuen Sklavenhalter
       vergewaltigt. Eindrucksvoll schildert Everett ihre Angst. Eine andere
       Stelle in „James“ könnte man als Kommentar zur identitätspolitischen
       Diskussion zur Gegenwart interpretieren. Jim denkt an seine Tochter, die er
       mit seiner Frau zurücklassen musste. „Ich fragte mich, wie sehr sie sich in
       diesem Augenblick um mich ängstigte, und fand den Gedanken, dass sie Angst
       verspürte, entsetzlich. Mir wurde klar, dass ich ihn deshalb entsetzlich
       fand, weil ich dieses Gefühl so gut kannte, jeden Tag, jede Nacht.“
       
       ## Authentizität und Klischee
       
       In „Erasure“, einem anderen Roman von Percival Everett, der gerade unter
       dem Titel „American Fiction“ verfilmt wurde, hatte der nur bei der Kritik,
       aber nicht bei den Lesern erfolgreiche Schriftsteller Thelonious Ellison
       den Bestseller einer schwarzen Kollegin kritisiert. Ein Roman, in dem sie
       die Geschichte einer schwarzen Frau mit gewaltsamer Ghetto-Kindheit
       erzählt. Das Buch würde auffälligerweise besonders vom weißen
       Kulturestablishment gepriesen, sagt Ellison in diesem Roman, obwohl die
       Autorin selbst aus wohlhabenden und behüteten Verhältnissen käme. Ein Buch,
       das die Erwartungen des Marktes nach Klischees und „authentischen“
       Geschichten von Schwarzen aus dem Elend bediene und nicht nach
       literarischer Qualität.
       
       In „James“ vertritt Everett nicht die These, dass er den Sklaven Jim besser
       verstehen könnte, weil er Afroamerikaner ist; aber, so könnte man sagen,
       einen weißen Autor hat es bisher auch nicht interessiert, die Leerstellen
       in dem Twain’schen Roman mit Inhalt zu füllen.
       
       Dass „James“ ein Thesenroman ist, liegt im derzeitigen Trend. Der Eindruck,
       dass eine Idee den Roman prägt, kommt auch dadurch zustande, dass sich Jim
       in Everetts Version heimlich das Lesen beigebracht hat und bei dessen
       Abwesenheit durch die Bibliothek des Friedensrichters Thatcher arbeitet.
       Als Jim auf der Flucht mit Huck von einer Schlange gebissen wird, erscheint
       ihm in einem Fiebertraum Voltaire und er diskutiert mit ihm sein
       Menschenbild; Voltaire, der mit „Candide“ einen der prominentesten
       Thesenromane geschrieben hat.
       
       Auch John Locke taucht in dieser Szene auf, der Philosoph, der die
       Sklaverei ablehnte. Aber warum, fragt ihn Jim im Traum, hätte er dann für
       den Inselstaat Barbados eine Verfassung geschrieben, die die Sklaverei
       legalisiert?
       
       Theoretisch wäre ein so umfassend gebildeter Sklave wie dieser Jim möglich
       gewesen, praktisch aber war das äußerst selten. Die Frage ist, ob es
       sinnvoll ist, die Geschichte umzuschreiben, indem man sie mit
       realitätsfernen Figuren erzählt.
       
       Im Grunde war das ja das Konzept des sozialistischen Realismus mit seiner
       Forderung, die Geschichte positiver Helden aus der Arbeiterklasse zu
       erzählen. Andererseits betrachtet Everett selbst „James“ nicht als
       Thesenroman. In dem erwähnten Porträt von Maya Binyam, das den Titel
       „Percival Everett Can’t Say What His Novels Mean“ trägt, wehrt er sich
       gegen die Interpretation, dass „James“ eine Art Gegen-Huckleberry-Finn sei.
       
       Allerdings stellt auch Binyam die Frage, wie der Roman letztlich von seinen
       Lesern interpretiert werden wird. Und wie hätte Everetts [3][2019
       verstorbene Kollegin Toni Morrison] ihn gelesen? Wahrscheinlich so, wie sie
       die männlichen Klassiker der afroamerikanischen Literatur gelesen hat. Zu
       [4][Ralph Ellison]s Klassiker „Der unsichtbare Mann“ meinte sie: „Die Frage
       für mich war:,Unsichtbar für wen?' Für mich nicht.“ Auch in „James“ spielen
       Frauen keine große Rolle.
       
       Ganz abgesehen davon, dass Morrison mit „Menschenkind“ einen anderen
       literarischen Ansatz verfolgt hat, über die Sklaverei zu schreiben. Einem,
       in dem deren Monstrosität in einer monströsen Tat endet, bei der die
       Sklavin Sethe ihre Kinder tötet, um ihnen ein Leben als Sklaven zu
       ersparen. Etwas, das den Leser verstört, aber noch lange über das Buch
       nachdenken lässt.
       
       „James“ macht vieles deutlich, was Twain nur andeutet oder nicht erzählt.
       Und der Roman fügt den Abenteuern von Jim und Huckleberry Finn weitere
       Details der Geschichte des Rassismus in den USA hinzu. Die Dialoge sind
       ironisch, witzig und in ihrer Hintergründigkeit interessant.
       
       Der Abenteuerplot macht den Roman zum Page-Turner. Aber entgegen der
       Meinung von Everett, einen dekonstruktivistischen Roman geschrieben zu
       haben, ist die Absicht überall erkennbar. Die Idee, Mark Twains Geschichte
       gegen den Strich zu bürsten, hat vielleicht nicht zu einem Gegentext
       geführt, sondern eher zu einer Ergänzung; literarisch überzeugend ist das
       aber nicht gänzlich.
       
       15 Apr 2024
       
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