URI: 
       # taz.de -- Nach Messerattacke in Australien: Sorgfalt ist mehr als Zurückhaltung
       
       > In Sydney tötet ein Mann sechs Menschen, fünf davon sind weiblich.
       > Trotzdem sieht die Polizei keine Hinweise auf einen ideologischen
       > Hintergrund.
       
   IMG Bild: Gedenken an die Opfer in Sydney
       
       Wenn irgendwo in der Welt ein Schuss fällt, weiß in den sozialen Medien
       meist schon nach einer Minute irgendjemand, wer da auf wen aus welchem
       Grund geschossen hat. So war es auch nach dem [1][tödlichen Angriff in
       Sydney am Wochenende], bei dem ein Mann sechs Menschen mit einem Messer
       getötet hat.
       
       In den Stunden nach der Attacke verbreitete sich bei X, ehemals Twitter,
       ein Foto des vermeintlichen Täters, User mutmaßten, er käme aus dem „Nahen
       Osten“ und sei Dschihadist. Kurz darauf wurde die Identität des Mannes
       veröffentlicht, der fälschlicherweise beschuldigt wurde: ein jüdischer
       Professor für „Middle East Studies“. Der Name und sein Foto gingen viral.
       Doch mit dem Täter hatte er nichts zu tun. Es war eine Falschmeldung.
       
       Besonnene Zurückhaltung wird bei X, Instagram und Co nicht belohnt. Wildes
       Spekulieren, dazu noch antisemitisches, dagegen schon. Deswegen passiert es
       nicht selten, dass sich kurz nach öffentlichen Straftaten Dutzende Theorien
       im Netz verbreiten. Auch Boulevardmedien schließen sich dem gerne an.
       [2][Dabei ist es die Aufgabe des Journalismus, nicht in dieses Raunen
       einzusteigen,] sondern über das zu berichten, was gesichert ist, und
       klarzustellen, was unklar ist. Das gehört zur journalistischen
       Sorgfaltspflicht.
       
       Zugleich darf diese gebotene Zurückhaltung aber nicht zu einem naiven
       Weggucken und Verkennen von gesellschaftlichen Problemen führen. Das gilt
       gerade für Themen, bei denen Sicherheitsbehörden und Justiz bis heute
       blinde Flecken haben.
       
       ## Aussagen der Behörden irritieren
       
       Fünf der sechs Opfer, die ein 40-jähriger Australier in einem
       Einkaufszentrum, das in der Nähe des berühmten Bondi Beach liegt, tötete,
       waren weiblich. Das einzige männliche Todesopfer war ein Wachmann, der
       versucht hatte, den Attentäter aufzuhalten. Auch ein Großteil der 12
       Verletzten sind Frauen.
       
       Die Polizeipräsidentin des Bundesstaats New South Wales, Karen Webb, sagte,
       dass auf den Überwachungskameras des Einkaufszentrums zu sehen sei, wie der
       Mann mit seinem langen Messer überwiegend Frauen verfolgte. Dem
       Fernsehsender ABC sagte sie: „Es ist für mich und für die Ermittler
       offensichtlich, dass sich der Täter auf Frauen konzentriert und die Männer
       gemieden hat.“ Es ist erfreulich, dass die Polizei dies so eindeutig
       kommuniziert.
       
       Doch die weiteren Aussagen der Behörde irritieren. Webb sagt, der Täter
       soll schon lange psychische Probleme gehabt haben und dass es keine
       Hinweise auf ein ideologisches Motiv gebe. Und mehr noch: Ein
       terroristischer Hintergrund sei ausgeschlossen.
       
       Doch wie kann man ein gezieltes Töten von Frauen erkennen und gleichzeitig
       ein ideologisches Motiv ausschließen? Hinter so einer Aussage steckt
       Unwissen oder beabsichtigtes Wegschauen. Zumindest macht es die Gefahr,
       unter der Frauen tagtäglich leben müssen, unsichtbar: Denn Misogynie ist
       kein Einzelphänomen, sondern eine Struktur, die sich durch alle Bereiche
       der Gesellschaft zieht.
       
       ## Femizid als Terror
       
       Im vergangenen Dezember wurde in Kanada [3][zum ersten Mal ein Täter eines
       Femizids wegen Terrorismus zu einer lebenslangen Haft verurteilt.] Der
       damals 17-Jährige hatte vor vier Jahren vor einem Massagesalon in Toronto
       die 24-jährige Angestellte Ashley Arzaga getötet und zwei weitere Menschen
       verletzt. In seiner Tasche befand sich zur Tatzeit ein Zettel, auf dem
       Gewalt gegen Frauen propagiert wurde.
       
       Das Gericht sah darin die Tat eines „Incel“. Hinter dem Wort, eine
       Abkürzung für „unfreiwilligen Zölibat“, steckt eine frauenverachtende
       Ideologie, laut der sich Männer als Opfer sehen, denen ein vermeintliches
       Recht auf Sex verwehrt bleibe.
       
       Dass in Kanada so eine Form der geschlechtsspezifischen Gewalt als Terror
       eingestuft wurde, ist ein Novum. Eine wichtige Signalwirkung für alle Welt,
       hieß es damals. Doch die Signalwirkung lässt bislang eher auf sich warten.
       Das zeigt auch der Umgang mit dem Fall in Bondi Beach.
       
       ## Öffentlichen Druck erzeugen
       
       Der Vater des Attentäters von Sydney sagte in einem Interview mit
       australischen Medien, dass sein Sohn „verzweifelt eine Freundin“ gewollt
       habe. Das muss nichts mit dem Tatmotiv zu tun haben – aber ausschließen
       sollte man es auch nicht.
       
       Medien sollten deshalb Aussagen von Behörden nicht einfach unhinterfragt
       übernehmen – gerade dann nicht, wenn die Ermittlungen, wie im aktuellen
       Fall von Sydney, noch nicht abgeschlossen sind. Das Hinweisen auf mögliche
       politische Motive kann zudem öffentlichen Druck erzeugen, der Behörden
       zwingt, diesen nachzugehen. Denn auch der begründete Verweis auf den
       gesellschaftlichen Kontext von Straftaten und ein Bewusstsein dafür gehören
       zur journalistischen Sorgfaltspflicht.
       
       15 Apr 2024
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Nach-Messerattacke-in-Australien-/!6004300
   DIR [2] /Berichterstattung-zum-Anschlag-in-Hanau/!5662906
   DIR [3] /Incel-Urteil-in-Kanada/!5973248
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Carolina Schwarz
       
       ## TAGS
       
   DIR Misogynie
   DIR IG
   DIR Australien
   DIR Terrorismus
   DIR GNS
   DIR Gewalt gegen Frauen
   DIR Misogynie
   DIR Incels
   DIR Terrorismus
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Nach Messerattacke in Australien: Ermittler suchen nach Motiv
       
       Laut der ermittelnden Polizeichefin habe es der Täter „offensichtlich“ auf
       Frauen abgesehen gehabt. Fünf der sechs Getöteten sind weiblich. Und nun?
       
   DIR Incel-Urteil in Kanada: Frauenhass ist Terror
       
       Ein kanadisches Gericht stufte einen Mord, der von einem Incel begangen
       wurde, als Terrorismus ein. So wird die Ideologie hinter der Tat sichtbar.
       
   DIR Anklage gegen Frauenmörder in Kanada: „Incel“-Mord gilt als Terrorismus
       
       Ein Jugendlicher hatte eine 24-Jährige aus Frauenhass erstochen. Dabei soll
       er von der so genannten „Incel“-Bewegung inspiriert gewesen sein.