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       # taz.de -- Happy Midlife-Crisis – 45 Jahre taz: Was ist nur aus der taz geworden?
       
       > Die taz wollte immer anders sein als andere Zeitungen. Was ist 45 Jahre
       > nach der Gründung aus dem Schwung der Anfangsjahre geworden?
       
       taz: Liebe Kolleg*innen, im April 1979 gründeten ein paar Idealisten eine
       Zeitung, die anders sein wollte als die anderen. Auf diese Gründung
       beziehen wir uns noch heute, wenn wir in der Redaktion manchmal kritisch
       behaupten: „Dafür ist die taz nicht gegründet worden!“ Wofür ist die taz
       denn gegründet worden? 
       
       Lukas Wallraff: Die taz soll ein Stachel im Fleisch der Gesellschaft sein,
       sie sollte fantasievoll sein – und wenn sie überzeugt von etwas ist, dann
       sollte sie das auch radikaler als andere vertreten.
       
       Barbara Dribbusch: Die taz wollte damals der Subkultur eine Stimme geben,
       stilistisch wie inhaltlich. Und es war eine Reaktion auf die damals sehr
       dominante Springer-Presse. Die Überschriften und Kommentare der taz waren
       damals berühmt, noch mehr als heute.
       
       Erik Peter: Die taz will der Gegenöffentlichkeit eine Stimme geben. Mit
       anarchistischem Impetus.
       
       Adefunmi Olanigan: Ich bin ja am kürzesten von euch allen dabei, erst 18
       Monate. Ich habe nicht den Vergleich mit der Gründungszeit. Ich glaube
       aber, die alten Fronten – zum Beispiel gegen den Springer-Konzern – die
       sind nicht mehr so relevant. Für mich bekommen hier Menschen eine Stimme,
       die anderswo vielleicht nicht sichtbar sind. Feministische Stimmen, zum
       Beispiel.
       
       Seit damals hat sich politisch viel bewegt: Deutschland ist aus der
       Atomenergie ausgestiegen, das Springer-Hochhaus steht, auch dank der taz,
       heute in der Rudi-Dutschke-Straße, Cannabis wurde legalisiert: Wofür
       braucht es uns eigentlich noch? 
       
       Lukas: Also, der taz Panter FC müsste schon noch in die erste Liga der
       Medienmannschaften aufsteigen. (allgemeine Heiterkeit) Im Ernst, die
       Erfolgsliste ist ja trügerisch. In punkto sozialer Gerechtigkeit etwa sind
       wir nicht so furchtbar weit gekommen. Die berühmte Schere zwischen Arm und
       Reich ist ja, im Gegenteil, eher noch weiter auseinander gegangen. Da geht
       der taz die Arbeit also wohl erstmal nicht aus.
       
       Barbara: Wir haben den Klimawandel, der ist virulent. Wir haben die
       Globalisierung, die Migration und sehen die weltweit unglaublich ungerechte
       Verteilung von Lebenschancen und Menschenrechten. Das ist ein Thema, das
       kann einen antreiben bis ans Lebensende. Es hat sich auch durch die
       sozialen Medien etwas geändert, weil Menschen, die vorher keine Stimme
       hatten, sich äußern können. Da sieht man: es ist nichts bewältigt.
       
       Erik: Es ist eine Imagination, dass wir in einer befriedeten Gesellschaft
       leben würden. Die Verteilungskämpfe werden rauer. Der Faschismus steht vor
       der Tür, die Klimakrise ist existenziell, die Frage von Krieg und Frieden
       ist sehr brennend.
       
       Funmi: Rechte Positionen werden in den Medien gerade sehr viel stärker. Das
       sind breite talking points geworden. Es braucht starke, harte, radikale
       linke Positionen, mehr denn je. Wir müssen wieder mehr draufhauen.
       
       Machen wir das? 
       
       Funmi: Teilweise zu wenig.
       
       Lukas: Es ist schwieriger geworden durchzudringen. Das hängt sicher auch
       mit social media zusammen und der Reichweite, die man da erzielen kann, da
       ist die taz ja teilweise nur ein kleiner Player im Vergleich zu anderen
       Akteuren. Und in der Redaktion werden natürlich auch viele Themen sehr
       differenziert diskutiert. Das ist gut. Aber die eine laute Meinung gibt es
       dann nicht.
       
       Waren die Feinde damals, in den Anfangsjahren der taz, klarer – war die
       Frage der eigenen Positionierung einfacher? 
       
       Erik: Ich glaube die Feinde sind so klar wie früher. Die Antifeministen,
       die Faschisten, die Firmenbosse. Ob man sie erkennt, ist eine Frage des
       eigenen Standpunkts, der eigenen Haltung. Und wenn man die Frontlinien als
       nicht mehr so klar empfindet, dann muss man sich vielleicht kritisch selbst
       fragen, warum man das so empfindet.
       
       Du meinst, uns ist der Kompass ein bisschen abhandengekommen? 
       
       Erik: Ja, ich glaube schon, dass nicht mehr alle in der taz ein klares
       linkes Selbstverständnis haben und eher im Bürgerlichen angekommen sind.
       
       Barbara (lacht): Dieses Narrativ kenne ich, seit ich bei der taz angefangen
       habe, und das vor 30 Jahren. Da hat mir schon ein älterer Kollege gesagt:
       Also, die jungen Leute, die schreiben ja eigentlich nur noch hier, weil sie
       mal zu einem Mainstream-Medium wollen. Jeder Artikel eine Bewerbung! Da ist
       doch gar keine linke Position mehr erkennbar! Und auch in Leserzuschriften
       hieß und heißt es häufig: Wenn die taz jetzt Mainstream wird, kündige ich
       aber wirklich mein Abo!
       
       Lukas: Manchen sind wir zu rechts, manchen zu links, das war doch schon
       immer so. Manchen sind wir zu sehr für die Ukraine, manchen zu wenig. Es
       kommt darauf an, dass wir authentisch Positionen vertreten, von denen wir
       überzeugt sind. Die dürfen dem eigenen Milieu auch weh tun.
       
       Barbara: Ich finde, es ist gerade die Stärke der taz, dass wir hier eine
       Vielfalt von Meinungen haben. Ich glaube nicht, dass wir dadurch an
       Bedeutsamkeit einbüßen. Was ich viel problematischer finde, sind Texte, die
       offensichtlich populistisch-linke Geisteshaltungen bedienen. Die werden
       natürlich viel geklickt auf taz.de und man will als Autorin auch viele
       Klicks haben, klar. Aber trotzdem muss man differenzieren, das ist
       schwieriger.
       
       Schwieriger, und sicher verdienstvoll – aber auch weniger erfolgreich bei
       dem Versuch, mit einer eigenen Stimme durchzudringen? 
       
       Barbara: Nicht unbedingt. Wir dürfen nicht erwartbar werden, sonst sind wir
       erledigt.
       
       Lukas: Wo ich schon ein Problem sehe: Wir sind zu sehr beschäftigt damit,
       zu protokollieren,wie sich die Krisen unserer Gegenwart – Kriege,
       Klimawandel – weiterentwickeln. Und darüber kommt uns die Fantasie abhanden
       und die Kraft und auch der Platz, eigene Ideen zu pushen.
       
       Also weniger Bericht und dafür mehr Recherche, mehr Meinung? 
       
       Erik: Ja, all das. Anstatt nur die aktuellen Krisenverläufe abzubilden,
       müssten wir uns mehr grundsätzliche Gedanken um Alternativen machen. Wir
       müssten mehr mit Leuten sprechen, die sich um genau so etwas auch Gedanken
       machen, statt dieselben Interviewpartner zu haben, die auch die Bild oder
       der Spiegel haben.
       
       In der Redaktion diskutieren wir auch immer mal wieder über die Frage, ob
       wir inzwischen zu oft im Regierungsflieger sitzen. Ist uns der Abstand
       verloren gegangen, gerade weil mit den Grünen eine Partei an der Regierung
       beteiligt ist, der wir in alter Verbundenheit zugetan sind? 
       
       Erik: Ich glaube, es bringt der taz nichts, mit Annalena Baerbock (die
       grüne Außenministerin, d. Red.) im Regierungsflieger zu sitzen und ich muss
       auch nicht die 20. Zeitung sein, die Agnes Strack-Zimmermann
       (FDP-Verteidigungspolitikerin, d. Red.) Platz bietet. Ich will lieber
       prominent auf einer Seite 3 eine prekär beschäftigte Krankenpflegerin oder
       eine Hackerin zu Wort kommen lassen.
       
       Barbara: Machen wir doch auch. Geht doch beides.
       
       Lukas: Einspruch zu Erik. Die taz muss schon auch dabei sein, wo
       Regierungspolitik passiert. Die zahlenden Leser*innen erwarten ja auch
       Kompetenz bei deren Berurteilung von uns. Und dazu gehört, dass man das
       nicht nur am Fernsehen verfolgt, und dass man Informationen bestenfalls
       auch vor anderen Medien bekommt.
       
       Erik: Aus meiner Sicht ist die Regierungsberichterstattung
       überrepräsentiert und es gibt seit Jahren keinen einzigen festen Kollegen
       mehr, der überregional für soziale Bewegungen zuständig ist. Da kommt die
       taz her. Aber wir leisten es uns, das links liegen zu lassen.
       
       Funmi: Ich stimme Erik durchaus zu. Ich habe das Gefühl, wir arbeiten in
       einem konstanten Sparhaushalt. Die Frage, wo wollen wir hin, können wir nur
       in sehr engen finanziellen und damit personellen Spielräumen beantworten.
       Und deshalb ist ja gerade die Frage: Wofür nehmen wir das Geld, das wir zur
       Verfügung haben? Begleiten wir Politiker*innen – was auch wichtig sein
       kann – oder wollen wir andere Stellen stärken?
       
       Setzen wir falsche Prioritäten? 
       
       Lukas: Es muss ja darum gehen, die machtpolitisch relevanten Entscheidungen
       kritisch zu verfolgen. Das geht nicht, wenn man ab und zu mal vorbeischaut.
       Die Leute müssen lang und regelmäßig dort sein, ein Vertrauensverhältnis
       entwickeln, um auch Information zu bekommen. Das braucht Zeit und Personal.
       
       Aber offenbar haben sich unsere Prioritäten da verschoben und wir haben
       uns, vielleicht im Zuge einer Professionalisierung, von sozialen Bewegungen
       entfernt? 
       
       Barbara: Das finde ich nicht. Ich finde auch nicht, dass sich in der taz so
       wenig Leute mit sozialen Themen beschäftigen. Ich höre seit 30 Jahren, dass
       wir mehr Leute brauchen.
       
       Womit wir beim Geld wären. Seit jeher sind die taz-Löhne niedrig, es gibt
       Mitarbeiter, die direkt auf die Altersarmut zusteuern. Gleichzeitig
       prangern wir Dumping-Löhne bei Unternehmen an. Wie gehen wir mit dieser
       Doppelmoral um? 
       
       Lukas: Damit ist die taz gegründet worden (alle lachen). Alle, die bei der
       taz anfangen, wissen das. Es ist nicht vergleichbar mit großen Firmen und
       DAX-Unternehmen, die große Gewinne machen und wo Manager Millionen
       bekommen. Hier macht ja niemand großen Profit.
       
       Erik: Nur weil wir hier nicht mehr Geld zur Verfügung haben, können wir
       nicht aufhören, die Ausbeutungsverhältnisse anderer anzuprangern. Es bleibt
       ein Widerspruch, aber der ist nicht aufzulösen.
       
       Barbara: Wir sind Akademiker mit dem Gehalt einer examinierten
       Altenpflegerin ohne Führungsverantwortung. Aber das Problem sind die
       Kosten. Wohnen in Berlin ist ja viel teurer als früher.
       
       Aber hat die taz nicht auch eine Verantwortung für ihre Leute? Es gibt hier
       Kollegen jenseits der 70, die es sich nicht leisten können, in Rente zu
       gehen. 
       
       Lukas: Aber das Problem ist doch, wenn du Leuten mehr Geld zahlen willst,
       musst du Stellen abbauen. Oder bei anderen Projekten kürzen.
       
       Wenig Geld, dafür flache Hierarchien, Autonomie und im Vergleich zu anderen
       Medienhäusern ein angenehmeres Umfeld auch für Frauen. Ist das der Deal? 
       
       Barbara: Ich hab’ immer ein Problem, mit Chefs zu arbeiten. Das ist neben
       der politischen Ausrichtung auch der Hauptgrund dafür, dass ich schon so
       lange hier bin. Ich finde immer noch großartig, dass ich so selbstbestimmt
       arbeiten kann. Es gab hier auch mal Kollegen in Führungsverantwortung, die
       dachten, sie müssten das anders machen. Aber die sind nicht mehr hier.
       (Alle lachen)
       
       Erik: Die taz kommt ja aus einer basisdemokratischen Tradition und
       entwickelt sich immer mehr zu einem normalen Unternehmen. Der Unterschied
       ist, wir können hier ganz gut unsere Chefs ignorieren. Ich habe eine sehr
       große Autonomie und es ist mir egal, wer unter mir Chef ist. Da lebt der
       anarchistische Geist der taz fort und das finde ich schon sehr angenehm.
       
       Nimmst Du das als Volontärin auch so wahr, Funmi? 
       
       Funmi: Ich hatte hier von Anfang an auch fast immer das Gefühl von großer
       Autonomie, obwohl ich eigentlich das niedrigste Glied in der Kette bin. Das
       fand ich schon immer gut hier. Dieses „Mach das, worauf Du Lust hast und
       dann kriegen wir das auch zusammen hin“.
       
       Erik: Ich habe auch von Praktikantinnen gehört, dass sie bei anderen
       Zeitungen zum Beispiel keine Kommentare schreiben durften, erst wenn sie
       ausgelernt haben. Hier darf ein Praktikant den Seite-1-Kommentar schreiben.
       
       Lukas: Ich finde trotzdem, dass wir aus den ganzen Möglichkeiten der
       Mitbestimmung derzeit zu wenig machen, insofern als wir zu wenig offen
       streiten und diskutieren auf den Konferenzen. Das war früher wirklich
       weitaus mehr der Fall (allseits zustimmendes Nicken). Wir sind zu sehr
       beschäftigt mit dem Protokollieren der Nachrichtenwelt und dem Abhaken von
       Themen, die gerade anstehen. Das hat diverse Gründe. Es hängt mit Leuten
       zusammen, die früher da waren und jetzt weg sind. Dann die Überlastung
       durch die verschiedenen Kanäle, die wir bedienen müssen: Print, online,
       social media und wochentaz – die Leute haben schlicht weniger Zeit für
       Diskussionen.
       
       Barbara: Nicht unterschätzen sollten wir, dass die Konferenzen jetzt hybrid
       stattfinden. Viele sind im Homeoffice und das hat die Diskussionskultur
       entscheidend verändert. Früher konnte man mal etwas rausblaffen. Jetzt muss
       man immer die Hand heben und wenn man drankommt ist das Thema leider schon
       wieder durch. Man ist jetzt sehr zivilisiert und mit Kritik vorsichtiger.
       
       Ist das nicht auch ein Vorteil, dass nicht mehr so rumgemackert wird? 
       
       Lukas: Es ist angenehm, dass es jetzt ein besseres Zuhören gibt und auch
       für stillere KollegInnen die Möglichkeit, zu Wort zu kommen. Aber auch in
       diesem zivilisierten Stil kann man noch über inhaltliche Fragen
       diskutieren. Der Raum dafür müsste ausdrücklich geboten werden.
       
       Barbara: Aber wie soll das denn passieren?
       
       Lukas: Man müsste dazu animieren, wenn Streitpunkte offenkundig sind.
       Ausdrücklich sagen „Lasst uns doch mal zehn Minuten streiten und Argumente
       austauschen“. Früher sind daraus oft Streitgespräche entstanden, die wir
       fürs Blatt inszenieren konnten.
       
       Funmi: In kleineren Gesprächsrunden finden Diskussionen ja auch noch statt.
       Das finde ich auch total wertvoll. Ein ausgeprägtes Mackertum hab’ ich so
       nicht mitbekommen, ich bin aber auch während Corona hier reingekommen.
       
       Erik: Die höchste Kunst ist vielleicht produktiver Streit ohne Mackertum.
       
       Wir hadern hier in der Redaktion ja gerne mal mit uns, aber die
       Abonenntinnen sind recht zufrieden, jedenfalls hat das eine
       Leser*innenbefragung kürzlich gezeigt. Die Abonnent*innen sind im
       Durchschnitt übrigens etwa 64 Jahre alt, eher männlich, eher westdeutsch. 
       
       Lukas: Das ist angenehm zu hören, aber auch nicht erstaunlich, das sind die
       noch zahlenden Leser. Spannender ist ja die Umfrage bei denen, die die taz
       nicht weiter abonniert haben.
       
       Erik: Die Frage ist, sind wir zufrieden damit, nur noch eine Auflage von
       20.000 zu haben (gemeint ist hier nur die werktägliche Print-Auflage, hinzu
       kommen wochentaz- und digitale Abos sowie rund 40.000 zahlende
       Online-Leser*innen, d. Red.) und nächstes Jahr die gedruckte Zeitung
       einstellen zu müssen, weil es sich nicht mehr lohnt, oder wollen wir ein
       anderes Potential erschließen.
       
       Lukas: Die Renter würden uns schon reichen, da haben wir auch noch längst
       nicht alles ausgeschöpft.
       
       Funmi: Ich frage mich, ob wir manchmal zu oft an unsere
       Printleser*innen denken. Wir sind auf so vielen Kanälen unterwegs und
       online haben wir ja viel, viel mehr Leser*innen. Die sind nochmal eine ganz
       andere Gruppe.
       
       Die zahlen aber nicht. 
       
       Erik: Es gibt mehr Leute, die uns online freiwillig Geld zahlen, wenn auch
       kleinere Beträge, als Printabonent*innen.
       
       Die Aktionen der Klimaaktivist*innen der Letzten Generation, um nur
       ein Beispiel zu nennen, haben wir sehr zurückhaltend kommentiert. Sind wir
       mit unseren Leser*innen alt geworden, haben wir an Radikalität
       eingebüßt? 
       
       Lukas: Das hat doch nichts mit dem Lebensalter zu tun. Viele
       Senior*innen fanden die Letzte Generation gut und haben sich sogar mit
       auf die Straße gesetzt. Aber die Frage war vor allem, ob man die
       Vorgehensweise richtig und der Sache dienlich findet. Und da gab es hier
       unterschiedliche Meinungen und beide wurden artikuliert. Und zwar weil die
       Leute bei uns radikal frei denken und schreiben dürfen. In den 80er Jahren
       gab es Farbbeutel auf die taz, weil wir angeblich zu wenig solidarisch mit
       den Hausbesetzern waren.
       
       Barbara: „taz lügt“, stand da auf Häuserwänden.
       
       Lukas: Da gab es hier Hausbesetzer-Ultras in der Redaktion und auch Leute,
       die nicht so solidarisch mit der Szene waren. Dieser Mythos „früher war die
       taz radikaler“, das ist wirklich ein Mythos.
       
       Erik: Das glaube ich nicht. Ja, auch früher wurde hart gestritten, aber
       eher unter einem geteilten linken Anspruch. Das war nicht der Streit
       zwischen Hausbesetzern und Hausbesitzern, sondern eher die Frage nach
       Strategien.
       
       Lukas: Das ist doch immer noch so.
       
       Erik: Heute hat die taz hin und wieder einen verkrampften Umgang mit
       sozialen Bewegungen und ein Abgrenzungsbedürfnis, um zu zeigen, man ist
       erwachsen geworden und man schämt sich ein bisschen für die eigene
       Vergangenheit. Wenn heute ernsthaft Texte gegen die Letzte Generation
       erscheinen, weil deren Protestform angeblich eine Form von Gewalt ist, ich
       meine – wo kommt denn die taz her, was gab es denn früher für
       Straßenschlachten!?
       
       Barbara: Deshalb kannst Du ja deine Kommentare schreiben. Das muss ja nicht
       jeder teilen.
       
       Erik: Heute gelten Dinge hier in der taz als radikal, bei denen früher
       selbst der rechteste tazzler nicht einmal mit der Wimper gezuckt hätte.
       
       Also stemmen wir uns rechten Narrativen doch zu wenig entgegen? 
       
       Lukas: Wir können doch nicht jede Aktionsform uneingeschränkt unterstützen.
       Wenn die Zustimmung für eine Klimapolitik sogar eher gesunken ist und es
       der Sache eher geschadet hat, muss man das natürlich auch schreiben können.
       
       Erik: Ja, Debatten über linke Strategien müssen wir führen.
       
       Was ist denn unsere Strategie, wozu braucht es uns noch? 
       
       Lukas: Jeden Tag Denkanstöße liefern, die über andere Medien hinausgehen.
       Jeden Tag einen Gedanken liefern, der die Leute zum Nachdenken bringt und
       die Fantasie anregt.
       
       Funmi: Es braucht einen Raum für linke Utopien und um Ungerechtigkeiten
       aufzuzeigen.
       
       Barbara: Ja, auch um Perspektiven aufzuzeigen, auf die man sonst gar nicht
       kommen würde, aus einer linken Sichtweise heraus, die es meiner Meinung
       nach immer noch gibt.
       
       Lukas: Es wäre auch gut, Rechte zum Nachdenken zu bringen. Durchzudringen
       mit Themen, die auch ein nicht-linkes Publikum erreichen können, wo man was
       bewegen kann. Aber auch Linke zum Nachdenken bringen, ob ihre Positionen
       wirklich in jeder Hinsicht richtig sind.
       
       Tatsächlich erreicht die AfD in einigen Landstrichen im Osten
       Zustimmungswerte von 30 Prozent. Welcher Auftrag erwächst daraus an unsere
       Berichterstattung? 
       
       Barbara: Ich bin der Meinung, wir müssen mehr mit AfD-Wähler*innen reden.
       Wir können die Rechten nicht ignorieren. Früher ging das vielleicht, jetzt
       nicht mehr. Ich habe auch einige AfD-Sympathisant*innen im Bekanntenkreis.
       Ich versuche, ihre Motive zu verstehen, statt ihnen oberlehrerinnenhaft zu
       begegnen. Aber ich verstehe auch, wenn das nicht jeder Kollege tun will.
       Ich kann die Position „Ich rede nicht mit Rechten“ durchaus akzeptieren.
       
       Funmi: Die Frage ist ja auch, wer mit Rechten reden kann. Wenn ich über die
       AfD berichte, merke ich, die Kommentare gegen mich als junge, schwarze Frau
       sind nochmal doppelt so hart. Das ist auch schlicht eine Sicherheitsfrage,
       zumal wenn man Demoberichterstattung macht.
       
       Jetzt haben wir uns gut 90 Minuten lang die Sinnfrage gestellt – also, wie
       viel Krisenempfinden ist da bei euch? 
       
       Erik: Ich glaube schon, dass das Selbstverständnis nicht mehr so klar ist,
       wer wir sind und welche Stimme wir einnehmen wollen. Das heißt aber nicht,
       dass es die taz nicht mehr braucht. Wir müssen sie nur besser machen.
       
       Barbara: Ich finde nicht, dass wir in einer Identitätskrise sind. Die
       eigene Identität ist ja immer dynamisch.
       
       Lukas: Es gibt viel zu tun. Der Bedarf ist da, der Wille auch, die Mittel
       sind endlich und ob es eine Krise gibt, entscheidet sich erst, wenn die
       Printausgabe eingestellt wird.
       
       Funmi: Ich glaube auch, dass wir uns mehr fragen müssen, wen wollen wir
       ansprechen, welchen Raum wollen wir einnehmen. Wir sind nicht das
       klassische Nachrichtenmedium, dafür haben wir auch gar nicht die
       Ressourcen. Wie wollen wir den Online-Raum bespielen, mit welchen
       Positionen und mit welchen Formaten. Und da steht die taz schon noch vor
       großen Fragen.
       
       17 Apr 2024
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Anna Klöpper
   DIR Sunny Riedel
       
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   DIR Osman in der Midlife-Crisis: Der neue Mieter
       
       Die Midlife-Crisis hat mich erwischt und ich fühle mich mies. Niemand weiß,
       was hilft. Nur meine Frau hat ein Gegenmittel wenn sie an der Reihe ist.
       
   DIR Klaus Lederer übers Älterwerden: „Eine Zeit großen Raubbaus“
       
       Ex-Kultursenator Klaus Lederer (Linke) ist gerade 50 geworden. Ein Gespräch
       darüber, was 30 Jahre im Hamsterrad Politik mit Körper und Psyche machen.
       
   DIR Darstellung der Midlife-Crisis in Filmen: Alte Klischees mit neuer Heiterkeit
       
       Das Kino hat schon von der Midlife-Crisis erzählt, bevor es den Begriff
       gab. Auf Veränderung kommt es an, das zeigen viele der Filme.
       
   DIR Midlife-Crisis als Chance: Bin das wirklich ich?
       
       Kaum hat man sich im Dasein eingerichtet, trifft einen, zack, die
       Midlife-Crisis. Dabei stellt diese eine nicht ganz unwesentliche Frage ans
       Selbst.