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       # taz.de -- Wendepunkte im Leben: Es ist nie zu früh für die Ekstase
       
       > Quarterlife-Crisis: Warum bis Mitte 40 warten, um am eigenen Lebensmodell
       > zu zweifeln? Eine Neuorientierung ist in jeder Lebensphase möglich.
       
   IMG Bild: Raus aus der Hochschule – aber dann: Wohin?
       
       Hamburg taz | „Manchmal gebt ihr mir Rätsel auf“, seufzt Thiess Johannssen.
       Nico Totzek kontert: „Das ist beidseitig.“ Im Podcast „Generationen-Scan“
       sprechen Johannsson, Jahrgang 1970, und Totzek, 28, über die Unterschiede
       zwischen der „[1][Generation Golf]“ und [2][Millennials]. Podcasts macht
       Totzek seit vielen Jahren, den ersten zusammen mit einem Freund.
       
       Heute begleitet der Itzehoer den örtlichen Basketballverein Eagles und den
       Bürgermeister der Kreisstadt mit Podcasts. Hauptberuflich wollte er
       eigentlich etwas anderes machen, studierte Wirtschaftsrecht, schrieb seine
       Bachelor-Arbeit – und schmiss nach dem Ende des Studiums alles hin, um sein
       Hobby zum Beruf zu machen.
       
       Eine neue Richtung einschlagen, statt auf dem einmal gewählten Weg
       durchzustarten: Kann ja mal passieren. Wenn heute Mittzwanzigjährige ihr
       Leben auf den Kopf stellen, ist aber oft von einer „Quarterlife Crisis“ die
       Rede.
       
       Der Begriff entstand Ende der 1990er in den USA in [3][Analogie zur
       Midlife-Crisis]. Bekannt machten ihn die New Yorker Journalistin und
       Autorin Alexandra Robbins und die IT-Fachfrau Abby Wilner in ihrem 2001
       erschienenen Buch „[4][Quarterlife Crisis]“. Darin beschrieben sie,
       ausgehend von ihren eigenen Erfahrungen als Mittzwanzigerinnen, die Ängste
       und Unsicherheiten in der Endphase des ersten Lebensviertels, beim Wechsel
       aus der geschützten Uni-Sphäre in die Berufswelt.
       
       ## Jung, erfolgreich, orientierungslos
       
       Inzwischen gibt es ein breites Angebot für junge Menschen in einer solchen
       Lebenskrise. Bücher wie „Quarterlife Crisis. Jung, erfolgreich,
       orientierungslos“ oder „Early Life Crisis: Der Impulsgeber für
       Abiturienten, Studenten und junge Arbeitnehmer“ greifen den Trend auf.
       Coaches wenden sich an ratlose Mittzwanzigjährige, bieten Seminare oder
       Youtube-Videos mit hilfreichen Tipps an. Auch für Krankenkassen scheint es
       ein großes Thema zu sein: Sie werben für Achtsamkeitstraining oder
       Meditation gegen den Stress der frühen Jahre.
       
       [5][Gisela Degener, Leiterin des Psychologischen Beratungsservices des
       Oldenburger Studentenwerks und der Carl-von-Ossietzky-Universität],
       begleitet seit vielen Jahren Studierende in dieser Lebensphase und kennt
       das Phänomen gut. Wer die Hochschule verlasse, sagt sie, verlasse ein
       System, in dem man wisse, „wo ich meine Brötchen kaufe, wer mein Vermieter
       ist, wer mit mir zusammen wohnt und mit wem ich studiere“.
       
       Dann gehe man „in die Welt“ und werde von außen als erwachsene Person
       angesehen. Dieser Übergang von einem Lebensabschnitt in einen anderen sei
       ganz natürlich auch von Ängsten begleitet, sagt Degener.
       
       Im Grunde seien dies Übergangsphasen und nichts Dramatisches. „Es ist eine
       normale Lebensphase, in der die sicheren Säulen der Identität ins Wanken
       geraten und neu gemauert werden müssen, und das ist einfach eine
       Entwicklungsaufgabe“, sagt sie. In den vergangenen Jahren, insbesondere in
       den Jahren seit der Pandemie, habe die Angst junger Menschen aber deutlich
       zugenommen. „Wir wurden und werden geflutet mit angstauslösenden
       Nachrichten, die tiefgehende Gefühle der Ohnmacht befördern.“
       
       ## Schnelle Lösungen gewohnt
       
       Aus der psychologischen Perspektive seien Krisen aber in einem
       umfassenderen Sinne Entwicklungsschritte, sagt Degener. Besser sei der
       Begriff der Ekstase im Sinne eines Heraustretens aus einem als sicher
       empfundenen Zustand, wenn man sich etwa entscheide, ein Kind zu bekommen
       oder den Wohnort zu wechseln.
       
       Krisen könnten so auch als Spannung und mit Neugier erlebt werden: als
       Chance für einen Aufbruch und neue Gestaltungsmöglichkeiten. „Das ist
       manchmal anstrengend und wird mit unangenehmeren Gefühlen begleitet, ist
       aber alles andere als eine Katastrophe“, sagt Degener. Diese Generation sei
       schnelle Lösungen und kurze Prozesse gewohnt. Das lasse sich nicht immer
       auf psychische Entwicklungsphasen übertragen und werde somit als Problem
       interpretiert.
       
       Der psychologische Beratungsservice arbeitet daran, die durch Isolation und
       Krisennachrichten angewöhnte Angst wieder zu verlernen. Dabei seien
       Gruppenerfahrungen wichtig. „Wir bieten alles an, was Menschen wieder
       miteinander in Kontakt bringt. Wir sind keine Einzelwesen, das müssen die
       jungen Menschen wieder lernen“, sagt Degener.
       
       Probleme und Ängste beim Übergang von einer Lebensphase in die nächste habe
       es immer gegeben, sagt der Psychologe Toni Faltermaier. Er hat sich lange
       an den Universitäten Augsburg und Flensburg mit Gesundheitspsychologie
       beschäftigt und kennt die Debatte um die Midlife-Crisis in den 1980ern.
       
       ## Weniger Geld, mehr Spaß
       
       Heute sei der Begriff nicht mehr en vogue, für die These einer generellen
       Krise in der Mitte des Lebens fehle die wissenschaftliche Evidenz, sagt
       Faltermaier. Dennoch erlebten Menschen zwischen 40 und 50 oft einen Umbruch
       und dass sich in der Zeitstruktur ihres Lebens etwas verändert: Der Körper
       ist nicht mehr so leistungsfähig, beruflich stelle sich vielen die Frage,
       welche Ziele sie bis zur Rente noch erreichen können. Die Kinder verlassen
       das Haus, Krankheiten entwickeln sich.
       
       Faltermaier bestätigt, dass das Bewusstwerden des eigenen Alterns ähnlich
       wie der Übergang ins Berufsleben oft negativ konnotiert und mit der Angst
       verbunden ist, dass ab 50 alles nur noch bergab geht. Tatsächlich biete der
       Übergang von einer Lebensphase in eine andere auch die Chance, „den
       Lebensraum noch mal realistischer zu gestalten“. Sich weiterzuentwickeln
       und etwas Neues zu beginnen, sei in jeder Lebensphase möglich.
       
       „Keine Ahnung, ob das nun eine Krise war“, sagt der Itzehoer Nico Totzek
       über seinen Entschluss, trotz seines Studiums in Wirtschaftsrecht ins
       Marketing zu gehen. Ihm ging es darum, sich seinen Traum zu erfüllen: „Ich
       wollte immer [6][Content Creator werden und Podcasts machen].“ So fing er
       statt in einer Anwaltskanzlei in der Marketing-Abteilung der Itzehoer
       Versicherung an und macht inzwischen Podcasts, in denen er seinem Chef
       Thiess Johannsson erzählt, wie seine Generation tickt und warum Millennials
       im Job Wertschätzung so wichtig ist.
       
       Auch er selbst hat bewusst weniger Geld und mehr Spaß gewählt: „Es war die
       richtige Entscheidung“, sagt er nach einem dreiviertel Jahr im neuen Job.
       „Ich sehe meine Freunde, die nicht ihrer Leidenschaft gefolgt sind, heute
       schon vom Beruf genug haben und nur vom nächsten Urlaub reden.“
       
       16 Apr 2024
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Die-Wahrheit/!5937423
   DIR [2] /ARD-Sitcom-Friedefeld/!5997758
   DIR [3] /Gluecksforschung-zur-Midlife-Crisis/!5936460
   DIR [4] /Debuetroman-von-Brandon-Taylor/!5771300
   DIR [5] https://uol.de/pbs
   DIR [6] https://www.youtube.com/watch?v=8pkr39pcCv8
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Esther Geißlinger
   DIR Robert Matthies
       
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