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       # taz.de -- Die Wahrheit: Transnistrische Frise
       
       > Wie gut sind eigentlich Tiraspols Coiffeure und kann man in dem
       > transnistrischen Gangster-„Staat“ mit netten Leuten feiern gehen?
       
   IMG Bild: Ins Gefängnis hat O.J. Simpson nicht der Mord, sondern ein versuchter Raubüberfall gebracht. Hier stand er 2008 vor Gericht
       
       Als ich die sogenannte Transnistrische Moldauische Republik betrat, eine
       von Gangstern regierte, prorussische Enklave im Osten Moldawiens, hatte ich
       gegenüber den Grenzschützern behauptet, dass ich die Hauptstadt Tiraspol
       besuchen wollte, um ihre „Museen“ zu besichtigen. Obwohl das winzige,
       einstöckige Nationalmuseum wegen Renovierungsarbeiten geschlossen war,
       schwang die Tür auf. Alle Gegenstände darin, so auch eine Stalin-Büste,
       versuchten, mich zu überzeugen, dass ich mich in der Sowjetunion befand.
       
       Mein Museumsausflug endete abrupt, als zwei Frauen, die alt genug waren, um
       Stalins Kindermädchen gewesen zu sein, aus dem Nichts auftauchten und es
       Russisch auf mich regnen ließen. Sie machten deutlich, dass ich das Gebäude
       sofort zu verlassen hatte. Mein Rückzug spülte mich auf die ausgestorbenen
       Straßen einer erstickenden Diktatur. Ich hatte absolut nichts zu tun, aber
       ein Bündel transnistrischer Rubel in der Tasche.
       
       Das Einzige in Tiraspol, was noch präsenter ist, als die allgegenwärtigen
       Lenin-Denkmäler, ist ein fünfzackiger Wildwest-Stern, das Markenzeichen der
       mafiösen Holding „Sheriff“, die in Transnistrien alles besitzt, was es zu
       besitzen gibt. Möglich, dass auch der Friseursalon „Hooligans“ auf der
       Hauptstraße zum Konzern gehört. Ich hatte in Berlin keine Zeit für einen
       Haarschnitt gehabt, und so gab ich den Hooligans eine Chance. Der kleine
       Laden war voller Mitarbeiter, aber ohne Kunden.
       
       Ein junger Mann bedeutete mir, dass ich Platz nehmen sollte. Waschen und
       Schneiden gerieten zu einer der akribischsten Dienstleistungen, die ich je
       erlebt habe. Mein Friseur wollte mir definitiv zeigen, dass sein Land kein
       schlechter stalinistischer Witz war.
       
       Fast vierzig Minuten lang versenkte er sich in die Aufgabe, nahm Maß und
       schnitt so vorsichtig an meinem Schopf herum, als wäre er ein Bildhauer,
       der an einem Meisterwerk arbeitet. Das Ergebnis war herausragend und der
       Preis noch besser: ungefähr zwei Euro. Das gesamte Personal von Hooligans
       sah zu, wie ich mein neues Ich bewunderte. Dann gab ich dem jungen Mann
       zehn transnistrische Rubel Trinkgeld und ging.
       
       Vielleicht war es meine neue Frise, die mich zum Gespräch mit einer jungen
       Frau in einer Bäckerei die Straße herunter verleitete. Sie war
       offensichtlich erpicht, mit mir englisch zu sprechen. „Kann man hier
       feiern?“, fragte ich sie. „Klar“, antwortete sie begeistert, „aber nur am
       Wochenende.“ – „Also, so in Discos?“, fragte ich und versuchte mir
       vorzustellen, was „feiern“ in einem bettelarmen Polizeistaat wie
       Transnistrien bedeuten konnte.
       
       „Ja, sicher“, sagte sie. Dasselbe beschied mir die Frau auf meine Frage, ob
       die Partygänger dann auch wirklich die Sau rausließen. „Du solltest am
       Freitagabend wiederkommen!“, sagte sie zum Abschied. Ich schleppte mich
       etwas erleichtert zurück zur Bushaltestelle. Immerhin hatte ich an einem
       Ort wie Tiraspol zwei nette Leute getroffen.
       
       18 Apr 2024
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Paul Hockenos
       
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