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       # taz.de -- Häusliche Gewalt: Erste Hilfe bei Männergewalt
       
       > Immer mehr Frauen in Deutschland sind von häuslicher Gewalt betroffen.
       > Miriam Peters tourt mit einem Lieferwagen übers Land, um Betroffenen zu
       > helfen.
       
   IMG Bild: Safe Space: Miriam Peters an ihrem zum Sprechzimmer umgebauten Lieferwagen
       
       Nadia sitzt mit Miriam Peters im Laderaum eines Lieferwagens auf einem
       Parkplatz vor einem Gemeindehaus irgendwo in Schleswig-Holstein. Der Ort
       des Treffens darf aus Sicherheitsgründen nicht genannt werden. Auch Nadia
       heißt eigentlich anders. Die beiden sitzen auf einer Bank im
       Miniaturwohnzimmer des Lieferwagens. Es ist eng, eine gewisse Nähe lässt
       sich nicht vermeiden. Neben zwei Bänken ist ein kleiner Tisch eingebaut,
       ein Gasofen spendet Wärme. Draußen ist es an diesem Tag Mitte Februar
       eiskalt.
       
       Vor dem Gemeindehaus parken nur wenige Autos, ein paar Windräder stehen in
       der flachen, grünen Landschaft. Nadia wirkt nervös, während sie spricht.
       „Wir haben uns jetzt entschlossen, in ein Frauenhaus zu gehen“, sagt sie.
       Mit ihren beiden Söhnen will sie vor ihrem gewalttätigen Partner flüchten.
       
       Die Sozialarbeiterin Miriam Peters ist [1][Gründerin der „Landgrazien“].
       Seit März 2021 bietet der Verein Frauen, die von Gewalt betroffen sind,
       mobile Beratung im Kreis Herzogtum Lauenburg in Schleswig-Holstein an. Mit
       ihrem Beratungsmobil treffen sie ihre Klientinnen dort, wo es für sie am
       einfachsten ist. Das kann auf dem Weg in den Kindergarten, auf dem
       Supermarktparkplatz oder an einer Bushaltestelle sein. So sinkt die
       Wahrscheinlichkeit, dass der gewalttätige Partner etwas von dem Treffen
       mitbekommt.
       
       Besonders auf dem Land ist dies für Frauen wichtig. Denn hier kennt jede:r
       jede:n. „Wenn Frauen eine klassische Beratungsstelle aufsuchen, dann kann
       es schnell passieren, dass jemand aus der Nachbarschaft das mitbekommt“,
       sagt Peters. Die Beratung ist in dieser Form in Deutschland einzigartig.
       Jeden Tag werden die Landgrazien von Frauen kontaktiert. Im besten Fall
       können Peters und ihr Team sie aus einer gewalttätigen Beziehung retten.
       
       ## Wenn es eskaliert, schicken sie ein Taxi
       
       „Was soll ich den Kindern sagen?“, „Was passiert mit den Haustieren?“, „Wie
       komme ich ins Frauenhaus?“, all das sind Fragen, die Nadia beschäftigen.
       Was ihr zu Hause widerfahren ist, spielt bei dem Gespräch keine Rolle.
       Miriam Peters fragt auch nicht nach. Sie ist hier, um zuzuhören. Manchmal
       weiß sie nicht einmal, wie ihre Klientinnen wirklich heißen, wo sie wohnen.
       Denn es ist ihnen überlassen, wie viel sie teilen wollen. Nadia kennt sie
       erst seit sechs Wochen, sie hat die Landgrazien über Instagram kontaktiert.
       
       „Ich würde den Kindern erst mal gar nichts sagen, es kann immer sein, dass
       sie sich verplappern“, rät die 33-Jährige der Mutter. Am liebsten würde sie
       in ein Frauenhaus in Brandenburg gehen, da ihre Familie dort wohnt, sagt
       Nadia. Peters verspricht ihr, dass ihr Team das versuchen wird.
       
       „Wenn es zu Hause eskaliert, dann können wir dich mit dem Taxi abholen und
       erst mal in eine Ferienwohnung bringen“, sagt sie. Nadia nickt, die Worte
       scheinen sie zu beruhigen. „Wenn ich die Kleine morgen im Kindergarten
       abgesetzt habe, können wir noch mal telefonieren“, sagt die Mutter, bevor
       sie sich von Peters mit einer Umarmung verabschiedet.
       
       Dass die Betroffenen nur zu ganz bestimmten Zeiten reden können, kommt
       häufig vor. Die meisten Frauen, die sich bei Peters melden, haben einen
       Partner, der sie rund um die Uhr überwacht, der jeden einzelnen Schritt
       ihrer Partnerin kontrolliert. Das kann über ein GPS-Signal im Auto oder per
       Suchfunktion mit dem Smartphone sein. Die Frauen müssen deshalb extrem
       vorsichtig sein, wenn sie sich Hilfe holen. Denn es besteht immer die
       Gefahr, dass die Gewalt eskaliert.
       
       ## Geheime Fluchtpläne
       
       „Der gefährlichste Moment in einer Beziehung ist die Trennung“, sagt Miriam
       Peters später bei einem Gespräch in ihrem Büro, einem kleinen, schlicht
       gehaltenen Raum im Erdgeschoss eines Backsteinhauses. Die junge Frau mit
       Nasenpiercing und kurzem Pony sitzt gerade an ihrem Schreibtisch. Wenn eine
       Frau sich dazu entschließt, ins Frauenhaus zu gehen, muss das Team
       wohlüberlegt vorgehen, erzählt sie. Es ist eine geheime Flucht, die man
       plant.
       
       Wichtige Unterlagen wie Geburtsurkunden müssen vorher versteckt und
       mitgenommen, ein Frauenhausplatz muss organisiert werden. Manchmal muss die
       Betroffene die Polizei darüber informieren, dass sie sich eigenständig
       entschieden hat, zu gehen. Denn es kommt immer wieder vor, dass ihre
       Partner eine Vermisstenanzeige machen. Ein Sperrvermerk beim Sozialamt
       verhindert, dass die Behörden die neue Adresse weitergeben.
       
       All das sind Dinge, die Frauen beachten müssen. Dinge, von denen die
       meisten erst bei der Beratung erfahren. Ein persönliches Gespräch sei dabei
       immer besser als ein Anruf: „Wenn mir eine Frau gegenübersitzt, kann sie
       sehr viel schneller Vertrauen zu mir aufbauen“, sagt die Sozialarbeiterin.
       
       Häusliche Gewalt nimmt in Deutschland stetig zu. Jede Stunde werden mehr
       als 14 Frauen in Deutschland Opfer von Partnerschaftsgewalt. [2][Das
       Bundeskriminalamt hat für das Jahr 2022] 240.547 Fälle von häuslicher
       Gewalt ermittelt, 8,5 Prozent mehr als im Vorjahr. 13 Prozent Anstieg waren
       es in den letzten fünf Jahren. Die Opfer sind zu 71 Prozent weiblich.
       
       ## Die Zahlen steigen rasant
       
       Zu der Statistik zählen alle Formen körperlicher, sexueller oder
       psychischer Gewalt. In 65,6 Prozent der Fälle geschah die Gewalt innerhalb
       einer Partnerschaft. Die Hälfte der Opfer lebte mit ihrem Partner in einem
       gemeinsamen Haushalt. Die meisten sind 30 bis 40 Jahre alt.
       
       Warum die Zahlen im Jahr 2022 weiter gestiegen sind, ist nicht ganz klar.
       Während der Coronazeit machte man die Kontaktbeschränkungen für den Anstieg
       verantwortlich. Dass mehr Frauen häusliche Gewalt zur Anzeige bringen, kann
       sich auch auf die Statistik auswirken.
       
       Trotzdem gehen Expert:innen von einer sehr hohen Dunkelziffer aus. „Wir
       haben seit 20 Jahren keine Zahlen, die das Dunkelfeld zu Gewalt gegen
       Frauen beleuchten“, sagt Rechtsanwältin Asha Hedayati, die im Familienrecht
       tätig ist und kürzlich ein Buch über häusliche Gewalt geschrieben hat.
       Darin weist sie auch darauf hin, dass die Statistik verfälscht sei, da in
       vielen Fällen Männer eine Gegenanzeige erstatten, wenn ihre Partnerin einen
       Fall angezeigt hat, um so ihre Verurteilung zu erschweren.
       
       Auch Miriam Peters dachte, dass sich die Lage mit dem Ende der
       Coronapandemie etwas entspannen würde. Doch das war nicht der Fall. Die
       Nachfrage hat sich bei den Landgrazien in den vergangenen Jahren kaum
       verändert, sie werden eher von mehr Frauen kontaktiert, auch die
       Gewalttaten seien extremer geworden.
       
       ## Therapien für gewalttätige Männer
       
       Die Sozialarbeiterin wirkt nicht resigniert, wenn sie das erzählt. Für sie
       ist es eher Ansporn weiterzumachen, so vielen zu helfen, wie möglich. „Ich
       glaube, viele bekommen die Folgen von Corona erst jetzt zu spüren“, sagt
       sie. Angehäufte Schulden, steigende Preise, das Gefühl, permanent eine
       Krise zu durchleben: All das seien Risikofaktoren, die häusliche Gewalt
       begünstigen.
       
       Anwältin Hedayati sieht fehlende Präventionsmaßnahmen als Problem: „Mich
       überrascht es wenig, dass die Zahlen weitersteigen, denn es wird nichts
       unternommen, um die Gewalt zu verhindern.„Zwar plant die Bundesregierung
       eine Gesamtstrategie und eine zentrale Koordinierungsstelle für Maßnahmen
       gegen Gewalt gegen Frauen und Mädchen, aber noch immer fehlt es [3][in
       Deutschland an ausreichend Schutzeinrichtungen] und einer Reform der
       juristischen Strukturen, welche die Opfer von Gewalt in den Mittelpunkt
       stellen.
       
       Laut Hedayati könnte man etwa Richter:innen gezielt fortbilden, um sie
       für das Thema häusliche Gewalt zu sensibilisieren. Auch müsse man sich mehr
       auf die Täterarbeit fokussieren, also abgesehen von Strafmaßnahmen gezielt
       Kurse und Therapien für gewalttätige Männer fördern.
       
       Beratungsstellen ausreichend finanziell zu unterstützen, ist eine weitere
       Maßnahme gegen häusliche Gewalt. Die Landgrazien sind nur über
       Stiftungsgelder und Spenden finanziert. Neben Peters sind eine
       Koordinationskraft, eine Werkstudentin, eine Minijobberin und eine
       Verwaltungsmitarbeiterin angestellt. Die 32-Jährige hat eine
       30-Stunden-Stelle, arbeite aber eigentlich um die 50 bis 60 Stunden pro
       Woche, sagt sie. Neben Beratungen kümmert sie sich um die Finanzierung,
       pflegt den sozialen Medienkanal, besucht und organisiert Veranstaltungen.
       
       ## Die Vorteile: Man kennt sie
       
       Peters ist in Laubenz, einem Dorf in der Nähe ihrer jetzigen
       Beratungsstelle, aufgewachsen. Sie hat Internationales Management und
       Sprachen in Amsterdam studiert, danach lebte sie jahrelang in Hamburg,
       arbeitete dort bei einem Onlinehandel. Doch sie merkte schnell, dass der
       Büroalltag nichts für sie ist. Sie lernte ihren Partner kennen, zog mit ihm
       zurück aufs Land und bekam zwei Kinder. Ihr Interesse für soziale Arbeit
       entstand in ihrer Elternzeit. „Mir war damals extrem langweilig, deshalb
       habe ich ein Fernstudium in sozialer Arbeit angefangen“, sagt sie lachend.
       
       Bei einem Praktikum im Frauenhaus in Lübeck kam sie zum ersten Mal näher
       mit dem Thema häusliche Gewalt gegen Frauen in Berührung. Dort fiel ihr
       auf, mit wie vielen Hürden Frauen auf dem Land zu kämpfen hatten, um Hilfe
       zu bekommen. Sie startete die Landgrazien erst als ehrenamtliches Projekt
       in ihrer Gemeinde und merkte schnell, dass es eine unglaubliche Nachfrage
       nach alternativen Beratungsangeboten gab.
       
       Neben den mobilen Beratungen bietet das Team auch Telefongespräche an,
       klärt in den sozialen Medien über häusliche Gewalt auf. Dass sie aus der
       Gegend kommt, spielt ihr in die Hände: „Dadurch, dass mich die Leute hier
       kennen, ist es einfacher, Unterstützung für unseren Verein zu bekommen.“
       
       Peters wirkt wie eine Frau, die die Dinge einfach anpackt, die so schnell
       wie möglich Lösungen sucht. Die nicht Nein sagen kann, wenn jemand nach
       Hilfe fragt. Nach dem Treffen mit Nadia steht bereits der nächste Termin
       an. Über die Landstraße geht es in ein kleines Dorf mit mehreren
       Einfamilienhäusern in Backsteinoptik.
       
       ## Kontrolle, Isolation, Terror
       
       Dort trifft Peters ihre Klientin auf dem Spielplatz. Die beiden kennen sich
       schon seit einigen Monaten. Die Erzieherin ist heute nicht in der Kita, da
       ihre Tochter krank geworden ist. Die 5-Jährige ist gerade am Schaukeln, das
       kleine Mädchen wirkt sehr zurückhaltend, als die Mutter Miriam mit einer
       herzlichen Umarmung empfängt. „Lass uns vielleicht da hinten reden“, sagt
       sie. Sie wendet sich an ihre Tochter: „Schatz, ich gehe mal ganz kurz
       darüber, um mit meiner Freundin zu reden, okay?“
       
       „Hast du eine Zigarette?“, fragt Peters die junge Mutter. „Nur eine, aber
       wir können sie teilen“, sagt sie. Peters nimmt die Zigarette entgegen und
       die Mutter fängt an zu sprechen. Wie ein Wasserfall sprudelt der Frust aus
       ihr heraus. „Er kontrolliert wirklich alles, was ich mache“, sagt sie.
       Anders als Nadia hat sie sich bereits vor drei Jahren von ihrem Ex-Partner
       getrennt.
       
       Seither lässt er ihr keine Ruhe. Er ruft sie ständig an, nutzt das geteilte
       Sorgerecht aus, um Kontrolle über sie auszuüben, indem er sich weigert,
       bestimmte Dokumente rechtzeitig zu unterschreiben. Immer wieder
       terrorisiert er ihre Freunde und Familie, um mit ihr in Kontakt zu kommen.
       
       Und ganz kann sie ihm nicht entfliehen. Denn der Vater darf die Kinder
       einmal pro Woche sehen. Bei den Treffen will sie immer mit dabei sein, da
       sie Angst hat, die Kinder mit ihm alleine zu lassen. „Es ist so
       anstrengend, diese paar Stunden durchzuhalten“, sagt sie. Besonders
       schmerzhaft sei für sie, dass er bei den Treffen ihre Tochter komplett
       ignoriert und nur seinem Sohn Aufmerksamkeit schenkt.
       
       ## Umgangsrecht auch für gewalttätige Männer
       
       „Gibt es irgendwelche Chancen, dass er die Kinder nicht mehr sehen darf?“,
       fragt sie Peters. Auch wenn ihm das Sorgerecht entzogen werde, habe er
       weiterhin ein Recht auf Umgang. Ihm das zu entziehen, werde schwierig,
       dämpft die Sozialarbeiterin die Hoffnung der Mutter. „Ich versuche mal
       einen Termin mit unserer Rechtsexpertin zu machen, die dir das besser
       erklären kann“, sagt sie.
       
       Dass Ex-Partner das Sorgerecht für Machtspiele ausnutzen, kommt häufig vor,
       berichtet auch Rechtsanwältin Asha Hedayati. In Deutschland wird zwischen
       Sorgerecht und Umgangsrecht unterschieden. Es ist fast unmöglich, dem Vater
       den Umgang mit den Kindern zu verweigern. Es wird grundsätzlich davon
       ausgegangen, dass der Umgang dem Kindeswohl dient. Unabhängig davon, ob der
       Partner gewalttätig in der Beziehung war. „Das führt dazu, dass die
       Gerichte Partnerschaftsgewalt in Umgangsrechtverfahren kaum
       berücksichtigen“, sagt Hedayati.
       
       Dies könnte sich ändern, wenn die Istanbul-Konvention vollständig umgesetzt
       werden würde. Das internationale Abkommen zur Bekämpfung
       geschlechtsspezifischer Gewalt gegen Frauen und Mädchen verlangt, dass in
       Sorgerecht- und Umgangsrechtsverfahren auf von Gewalt betroffenen Frauen
       mehr Rücksicht genommen wird. Dass es noch immer keine Synchronisation von
       Gewaltschutz und Entscheidungen in diesen Verfahren gibt, kritisiert auch
       das Bündnis Istanbul-Konvention, das wie Hedayati noch immer viele Lücken
       bei der Umsetzung der Konvention sieht.
       
       Auch das Bündnis sieht das Problem darin, dass noch immer keine
       Gesamtstrategie und keine zentrale Koordinierungsstelle aufgebaut wurde.
       Maßnahmen gegen geschlechtsspezifische Gewalt müssten laut dem Bündnis
       zudem bindend sein und mit viel Geld unterfüttert werden. In Zeiten von
       Haushaltseinsparungen machen sie sich Sorgen, ob das wirklich passieren
       wird.
       
       ## Gewalt hört nach der Trennung nicht auf
       
       Der Fall der jungen Mutter auf dem Spielplatz zeigt auch, dass mit einer
       Trennung die Gewalt nicht automatisch aufhört. Sie nimmt oftmals nur eine
       andere Form an, wie als Drohung und Stalking. „Die Gewalt hört oftmals erst
       auf, wenn die Männer neue Partnerinnen haben“, sagt Peters. Partnerinnen,
       die womöglich noch nicht ahnen, auf wen sie sich da einlassen.
       
       „Er war ja nicht immer so“, das ist ein Satz, den die Landgrazien immer
       wieder von Frauen zu hören bekommen, die sich bei ihnen melden. Die
       Beziehungen beginnen oft harmonisch, viele haben das Gefühl, ihre große
       Liebe gefunden zu haben, eine emotionale Abhängigkeit entsteht.
       
       Die Gewalt kommt schleichend. Oftmals fängt der Partner an, seine Partnerin
       immer mehr zu isolieren, um so besser Kontrolle über sie auszuüben. Während
       er sie anfangs noch mit Komplimenten überhäuft, kommt es plötzlich zu
       Beleidigungen oder Angriffen. Sich zu trennen, ist für viele kein einfacher
       Schritt. Vor allem, wenn finanzielle Abhängigkeit besteht. „Die Frauen
       müssen sich meist zwischen Armut oder Gewalt entscheiden“, sagt Peters.
       
       Noch immer verdienen Frauen rund 18 Prozent weniger als ihre männlichen
       Partner. Und Mütter verdienen zehn Jahre nach der Geburt ihres ersten
       Kindes im Durchschnitt [4][61 Prozent weniger] als davor. Wenn eine
       Betroffene eine gewalttätige Beziehung verlässt, findet sie sich deshalb
       oft in einer extrem prekären wirtschaftlichen Lage wieder.
       
       ## Der Landkreis sieht keinen Bedarf
       
       Deshalb kommt es auch vor, dass Frauen zu ihren gewalttätigen Partnern
       zurückkehren. „Das nimmt mich persönlich natürlich mit, vor allem wenn
       Kinder involviert sind“, sagt Peters. „Auf einer professionellen Ebene muss
       ich das aber akzeptieren.“ Denn für die Beratung steht die Selbstbestimmung
       der Frau im Mittelpunkt. Und zu dieser gehört eben auch die Freiheit, sich
       für eine gewalttätige Beziehung zu entscheiden.
       
       Obwohl der Anstieg von häuslicher Gewalt ihre mobile Beratungsstation
       zwingend notwendig erscheinen lässt, ist die Finanzierung der Landgrazien
       alles andere als geklärt. Im Jahr 2022 bekam die Beratungsstelle noch
       40.000 Euro vom Landkreis.
       
       Doch letztes Jahr machte der Schleswig-Holsteinische Landtag der Beratung
       einen Strich durch die Rechnung. Denn das Geld sollte der Verein erst
       bekommen, wenn auch Gelder aus dem Landeshaushalt fließen. Der Landtag
       stimmte jedoch Ende März 2023 gegen die Finanzierung. „Es wurde damit
       begründet, dass man sich auf bestehende Angebote fokussieren wolle und sie
       keinen Bedarf an einer mobilen Beratung sehen“, sagt Peters.
       
       Und der Kreis weigerte sich, das Geld aus dem eigenen Haushalt zu beziehen.
       Dabei zeigte eine Bedarfsanalyse 2022, dass es keine flächendeckenden
       Beratungsangebote in Schleswig-Holstein gibt und Beratungsstellen dringend
       mehr gefördert werden sollten.
       
       ## Schutz von Frauen – keine Priorität?
       
       Die grüne Frauenbeauftragte Catharina Nies sagt, dass die finanzielle
       Förderung der Landgrazien damals Teil einer Anfrage der Oppositionsparteien
       gewesen sei, die insgesamt eine Erhöhung von 10 Millionen Euro zur
       Förderung von Frauenfacheinrichtungen in Schleswig-Holstein forderten. „Den
       Anträgen wurde nicht zugestimmt, weil es in der angespannten Haushaltslage,
       in der wir uns 2023 befanden und auch aktuell befinden, finanziell nicht
       möglich war“, schreibt sie in einer Antwort per E-Mail.
       
       Doch warum weigerte sich der Landkreis, selbst für die 40.000 Euro
       aufzukommen? Auf taz-Anfrage heißt es dazu aus dem Landratsamt, dass
       bestimmte Verwendungsnachweise für die gewährten Mittel aus dem Vorjahr
       gefehlt hätten, weshalb bei der Mehrheit der Kreistagsmitglieder Skepsis in
       Bezug auf eine weitere Förderung herrsche.
       
       Laut den Landgrazien standen die Nachfragen und Reglementierungen in keinem
       Verhältnis zu der Fördersumme – und bedeuteten zu viel Arbeit für das
       kleine Team. „Politik ist immer eine Prioritätensetzung. Der Schutz von
       Frauen scheint hier im Landkreis wohl keine Priorität zu sein“, sagt
       Peters.
       
       Die Bemühungen um öffentliche Gelder haben die Sozialarbeiterin sehr viel
       Energie und Zeit gekostet. Sie hat sich deshalb vergangenen Oktober dazu
       entschlossen, zunächst ohne öffentliche Gelder weiterzumachen. Die
       gewonnene Zeit kann sie jetzt für Fundraising und ihre Beratung nutzen.
       
       ## Im permanenten Überlebensmodus
       
       Es bleibt ein Gefühl der Enttäuschung, das auch immer wieder bei
       Begegnungen mit Politikern verstärkt wurde. „Die Frauen sollen sich mal
       nicht so anstellen, dann hätten wir das Problem ja nicht“, sagte ein
       Kreispolitiker mal zu ihr. Ein anderer betonte, dass er ja gedacht hätte,
       die Sache mit den Landgrazien würde sich von selbst erledigen, weil der
       Kreis sie finanziell aushungern würde.
       
       Peters schreckt nicht davor zurück, unangenehm aufzufallen. Sie möchte das
       Schweigen auf dem Land brechen. Das Thema häusliche Gewalt ist weiterhin
       tabuisiert, so entsteht der Eindruck, dass häusliche Gewalt dort nicht
       existiert. Dabei ist das Gegenteil der Fall.
       
       Anfang März sind Miriam Peters und Nadia zu einem Telefongespräch
       verabredet. Nadia hat mit ihren Kindern ein paar turbulente Wochen hinter
       sich. Nur wenige Tage nach dem Treffen vor dem Gemeindehaus floh sie vor
       ihrem Partner. „Irgendwas hast du doch vor“, sagte dieser ihr. Obwohl sie
       ihm keine Hinweise für ihre Flucht gab, habe er geahnt, dass sie gehen
       will.
       
       Um Nadia so schnell wie möglich an einen sicheren Ort zu bringen,
       organisierte Peters ein Hotelzimmer für ihre Kinder und sie. Dann konnte
       sie in einem Frauenhaus in Schleswig-Holstein unterkommen, mittlerweile ist
       sie in einem Frauenhaus in Brandenburg. „Ich war in einem permanenten
       Überlebensmodus, erst jetzt kann ich wieder etwas aufatmen“, sagt Nadia am
       Telefon.
       
       ## Endlich wieder ruhig schlafen
       
       Ihre Haustiere wurden bei der Familie in Brandenburg untergebracht.
       Besonders schwer fiel ihr, den Kontakt zu ihren Freundinnen in ihrem
       Heimatort abzubrechen. Eine weitere Vorsichtsmaßnahme, damit ihr Partner
       nicht von ihrem Aufenthaltsort erfahren kann.
       
       „Es tut so gut, endlich mal wieder schlafen zu können und keine Angst zu
       haben, nachts aus dem Schlaf gerissen zu werden“, sagt Nadia. Sie wirkt
       erleichtert am Telefon, so als hätte sie die richtige Entscheidung
       getroffen. Mehrmals bedankt sie sich bei Peters.
       
       Es ist vorerst das letzte Gespräch zwischen den beiden. Wenn die Frauen
       erst einmal im Frauenhaus sind, geben die Landgrazien die Beratung an die
       Kolleg:innen vor Ort weiter. Den Kontakt abzubrechen, nicht zu wissen,
       wie es mit ihnen weitergeht, fällt Peters oftmals schwer.
       
       Doch gleichzeitig freut sie sich für Frauen wie Nadia. „Es macht mich immer
       wieder glücklich, miterleben zu können, wie eine Frau sich für ein
       selbstbestimmtes Leben entscheidet“, sagt sie.
       
       12 Apr 2024
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://land-grazien.de/
   DIR [2] https://www.bka.de/DE/AktuelleInformationen/StatistikenLagebilder/Lagebilder/Partnerschaftsgewalt/partnerschaftsgewalt_node.html
   DIR [3] /Bekaempfung-von-Gewalt-gegen-Frauen/!5886457
   DIR [4] https://www.henrikkleven.com/uploads/3/7/3/1/37310663/klevenetal_aea-pp_2019.pdf
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Sabina Zollner
       
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       essenziell.
       
   DIR Islam in Ostdeutschland: Beten unterm Radar
       
       Etwa 30.000 Muslim:innen leben in Brandenburg. Ihnen fehlt es oftmals an
       Räumen, um ihren Glauben ausleben zu können.
       
   DIR 155 Femizide in Deutschland: Häusliche Gewalt nimmt weiter zu
       
       2023 gab es erneut mehr Fälle von häuslicher Gewalt. Die meisten Opfer
       waren weiblich. Bundesinnenministerin Faeser (SPD) verspricht mehr
       Prävention.
       
   DIR Reden über Vergewaltigung: Über die Angst hinaus
       
       Auf der Suche nach einer literarischen Sprache für sexuelle Übergriffe:
       Laura Leupis Debütroman „Das Alphabet der sexualisierten Gewalt“.
       
   DIR Ungerechtigkeit in der Elternschaft: Vatertag ist Protesttag
       
       Was Kindersorge angeht, beteiligen sich Väter immer noch weniger als
       Mütter. Der Vatertag könnte ein Anlass für Proteste sein.
       
   DIR Umfrage unter gewaltbetroffenen Müttern: Drohungen auch nach der Trennung
       
       Für Mütter, die von häuslicher Gewalt betroffen waren, geht die Schikane
       nach der Trennung weiter. Das zeigt eine neue Studie von Terre des Femmes.
       
   DIR 13.000 Plätze fehlen in Frauenhäusern: Armutszeugnis für den Frauenschutz
       
       In Deutschland fehlen massenhaft Plätze in Frauenhäusern zum Schutz vor
       häuslicher Gewalt. Die Ampel wollte das eigentlich ändern, gemacht hat sie
       wenig.
       
   DIR Sexualisierte Gewalt: Fonds für Betroffene
       
       Die stattBlumen gUG richtet einen Fonds ein, der Betroffene sexualisierter
       Gewalt finanziell unterstützen kann, etwa bei Prozesskosten.
       
   DIR Kämpferin gegen Machtgefälle: Lücke im System gefunden
       
       Sabine Stövesand setzt sich für von Gewalt betroffene Frauen und Kinder ein
       – und setzt am Ursprung des Problems an. Jetzt wurde sie ausgezeichnet.
       
   DIR Wohnungen für schutzsuchende Frauen: Raus aus dem Frauenhaus
       
       Sara* und ihr Sohn haben eine eigene Wohnung gefunden – und damit einen Weg
       aus dem Frauenhaus. Das Projekt Vivienda war dabei behilflich.
       
   DIR Beratungsstellen in Schleswig-Holstein: Gewaltschutz ist kein Hobby
       
       Frauenhäuser und -beratungsstellen werden an vielen Orten nur von
       Ehrenamtlichen getragen. Die will der Landesverband Frauenberatung nun
       entlasten.
       
   DIR Interview mit Autorin Asha Hedayati: „Jede Frau kennt Gewaltbetroffene“
       
       Gewalt gegen Frauen bleibt oft unbemerkt, schreibt Asha Hedayati in ihrem
       neuen Buch. Ein Gespräch über strukturelle Abhängigkeiten von Frauen.