URI: 
       # taz.de -- Doppel-Tanz-Abend in Osnabrück: Stumme Schreie
       
       > Das Theater Osnabrück koppelt zwei Choreografien für den Abend „Dwa –
       > Zwei“. Tänzerisch geht das Konzept auf, inszenatorisch bleiben Fragen.
       
   IMG Bild: Eine echte Ensembleleitung: Maciej Kuźmińskis „Beginningend“
       
       Erst war es Syrien, dann die Türkei, [1][derzeit ist es Polen]: Mit jeder
       neuen Spielzeit wählt sich das Theater Osnabrück ein anderes „Partnerland“.
       Zu dem stellen dann alle Sparten künstlerische Bezüge her; auch
       Gastspiel-Einladungen werden ausgesprochen. So erklärt es sich, dass der
       neue Doppelabend der [2][Osnabrücker Dance Company] polnisch-deutsch „Dwa –
       Zwei“ betitelt ist. Und dass ihn der polnischstämmige Choreograf [3][Maciej
       Kuźmiński] eröffnet mit seinem 35-Minüter „Beginningend“; darin geht es um
       [4][Stanisław Dróżdż], so ist zu erfahren, einen Vertreter der polnischen
       Konkreten Poesie.
       
       Wir blicken in einen engen, papiergrauen Quader, riesige Buchstaben an den
       Wänden, ohne einen Sinn zu ergeben. In diesem Raum variiert das Ensemble
       geometrische Bewegungsmuster, abstrakt, kühl: Arme bilden Winkel, Beine
       werden zu Diagonalen. Geradezu maschinell wirkt das, entpersönlicht.
       
       Die Akteure schreiten und stehen, knien und liegen. Sie kommen, sie gehen,
       mal einzeln, dann wieder als Gruppe. Sie starren ins Nichts. Manchmal
       öffnet sich ein Mund wie zu einem stummen Schrei. Dazu ist elektronisches
       Klirren und Klicken zu hören, sanftes Piano, alles aber oft fast unhörbar
       (Musik: Matthew Bourne, Murcof). Dazwischen: tiefste Stille.
       
       Ein starkes Bild ist das, und vom ersten Moment an ist klar: Die
       tanztechnische Souveränität der DarstellerInnen steht ebenso außer Zweifel
       wie ihre Bereitschaft, eine echte Ensembleleistung abzuliefern. Den
       Wiederholungen, die Kuźmiński ihnen abfordert, verleihen sie sensible
       Nuancen.
       
       ## Zerrissen gemeinsam
       
       An den Tanzenden liegt es also nicht, dass es dem Bühnengeschehen
       schwerfällt, sein Thema zu transportieren. Sprache, sagt das Programmheft,
       helfe, die Welt zu verstehen, zu dekonstruieren. Sprache helfe, zu
       identifizieren, wer wir sind. Es geht in „Beginningend“ demnach um die
       Balance zwischen Zerrissenheit und Gemeinschaft, zwischen Individuum und
       Gesellschaft – und das „eng verknüpft“ mit Kuźmińskis Heimat. Ein Konzept,
       das sich aus dem, was sich vor uns abspielt, leider nicht erschließt.
       Kuźmińskis Bedeutungsbehauptung ist sich selbst genug; der Großteil des
       Polen-Bezugs findet statt nur auf dem Papier.
       
       Margarita Bocks Bühnenbild demonstriert die Dekonstruktion der Welt dagegen
       perfekt: Die Wände ihres Quaders heben sich, schrägen sich ab, werden
       verdeckt, öffnen neue Bedeutungsebenen, Buchstaben verschwinden. Ein
       sprechender Verweis auf Dróżdż. Wer weiß, dass Sprache sich in der
       Konkreten Poesie selbst darstellt, kann das goutieren.
       
       Am Ende stimmt die Beleuchtungs-Crew, bis dahin eher unbeschäftigt, in
       Kuźmińskis Repetetiv-Kanon ein: Fade-out auf Fade-out liefert sie, immer
       bis kurz vor das Black und wieder zurück. Als es dann endlich doch mal
       final dunkel wird und bleibt, fühlt es sich wie eine Erlösung an:
       Umbaupause!
       
       Danach übernimmt die israelische Choreografin Adi Salant mit „Position A“.
       Auch sie bezieht sich, heißt es, auf Polen – aber erneut klärt der Tanz
       nicht, worin genau die Bezugnahme besteht. Die Tanzleistung selbst
       allerdings überzeugt, von der Athletik bis zur Präzision noch im
       Filigranen.
       
       ## Abstrakt und repetitiv
       
       Auch in „Position A“ geht es, ohne erkennbare Handlung, dafür abstrakt,
       repetitiv und zeitgedehnt, um Individuum und Kollektiv, auch hier sind
       wieder stumme Schreie zu sehen, und wieder kommen Sounds aus den Boxen, die
       sich anhören wie elektrische Entladungen (Musik: Hania Rani, Dobrawa
       Czocher, Zakè; Musikbearbeitung und Sounddesign: Idan Kupferberg).
       
       Allerdings ist die Bewegungssprache nun organischer. Statt eines engen
       Quaders öffnet sich ein weites Rechteck aus hängendem Stoff. Wie Hautfalten
       wirkt der, wie Gestein, skulptural, architektonisch. Durch unsichtbare
       Öffnungen verschwinden die Akteure ebenso gespenstisch darin, wie sie
       wieder aus ihm auftauchen.
       
       Farbiges Licht unterstreicht das, von Blau-Silber bis Pink-Violett, von
       Mattrot bis Sonnengelb. Welt um Welt tut sich vor uns auf, alle Grenzen
       scheinen durchlässig für jeden. „Guten Abend, gut’ Nacht, von Englein
       bewacht“, hören wir es singen. Ist es das Paradies, das uns hier im Traum
       erscheint? Schön wäre es ja.
       
       7 Apr 2024
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.theater-osnabrueck.de/spielzeit/spielzeit-2023-24/
   DIR [2] https://www.theater-osnabrueck.de/ensemble/dance-company/
   DIR [3] https://eng.maciejkuzminski.com/
   DIR [4] https://de.wikipedia.org/wiki/Stanis%C5%82aw_Dr%C3%B3%C5%BCd%C5%BC
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Harff-Peter Schönherr
       
       ## TAGS
       
   DIR Zeitgenössischer Tanz
   DIR Tanz
   DIR Theater Osnabrück
   DIR Osnabrück
   DIR Theater Osnabrück
   DIR Theater Osnabrück
   DIR Schwerpunkt Stadtland
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR „Die Jahre“ im Theater Osnabrück: Wenn das Erinnern politisch wird
       
       Das Theater Osnabrück adaptiert die Autobiografie „Die Jahre“ der
       Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux. Die Vorstellungen sind ständig
       ausverkauft.
       
   DIR „Leonce und Lena“ am Theater Osnabrück: Die stumme Frau ergreift das Wort
       
       Die Osnabrücker Inszenierung von Büchners Lustspiel vertauscht die Texte
       der beiden Hauptfiguren. Das eröffnet den Spielraum für eine grandiose
       Lena.
       
   DIR Performance im Selbstversuch: Wahrheit oder Pflicht?
       
       Das Museumsquartier Osnabrück hat zu einer interaktiven Performance mit
       Spielkarten geladen. Ein Selbstversuch in Sachen Mut und Ehrlichkeit.