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       # taz.de -- Fotografien aus der DDR: Vom Zonenrand zur Baumarkt-Moderne
       
       > Eine fotografische Langzeitstudie dokumentiert das thüringische Dorf
       > Berka von der frühen DDR bis heute. Sie ist in der Kunsthalle Erfurt zu
       > sehen.
       
   IMG Bild: Blick auf Berka 1955. Aus der Werkgruppe „Ein Dorf“ von Ludwig Schirmer, 1950-1960 (Ausschnitt)
       
       Berka liegt im Zonenrandgebiet von Thüringen auf dem Land, wo einmal DDR
       war und bald die AfD-Blau gefärbte „Erfurter Republik“ sein könnte. Die
       Werkserie „Ein Dorf“ ist eine fotografische Langzeitbeobachtung dieses
       1.000-Seelen-Ortes und wird nun in der Kunsthalle Erfurt wohl nicht
       zufällig vor den Landtagswahlen im September ausgestellt. Das Projekt der
       Fotokünstlerin Ute Mahler und ihres Ehemannes Werner baut auf einem
       Bildarchiv des 2001 verstorbenen Vaters Ludwig Schirmer auf. Der war
       zunächst ein hochbegabter Amateurfotograf, ehe er 1964 mit der Familie in
       die Hauptstadt der DDR zog und dort einer der bekanntesten Industrie- und
       Werbefotografen wurde.
       
       Noch als Müllermeister streunte Schirmer zwischen 1950 und 1960 in Berka
       umher und machte Bilder „ohne Ehrgeiz“, wie Ute Mahler sagt, „vielleicht
       sind sie deshalb so gut“. Heute gehören Tochter Ute und Werner Mahler zu
       den bedeutendsten Fotograf:innen in Deutschland.
       
       Sie haben das wundersame Berkaer Album gesichert und weitergeführt.
       Schirmers Bilder besitzen eine Eleganz des zufällig Wirkenden, sind zart
       und lebenslustig. Ein altes Ehepaar sitzt etwa zur Aufnahme bereit, man
       könnte da auch an den zeitgleich im Westerwald fotografierenden August
       Sander und sein Fotoprojekt „Menschen des 20. Jahrhunderts“ denken. Aber
       Schirmer blickt in die Kulisse hinein, zwei Männer halten hinter dem Paar
       ein Tuch aufgespannt.
       
       ## Die Menschen haben sich in der DDR zurechtgefunden
       
       Kurz vor der Industrialisierung der DDR-Landwirtschaft sind hier Szenerien
       festgehalten, die trotz Figuren mit wehrhaftem Herrenschnitt oder trauriger
       Reiteruniform offensichtlich unbeschadet den Zweiten Weltkrieg überdauert
       haben.
       
       Auf dem Feld stehen schmächtige Traktoren, mit denen sich keine Barrikaden
       errichten lassen. Beschwingt und antiheroisch sind die Bilder in der
       Erfurter Auswahl und bieten viel Material aus einer Zeit, für die ein
       Gefühl verloren gegangen ist: In den 1960er Jahren haben sich die Menschen
       in der DDR offensichtlich zurechtgefunden und 1970 scheinen sie sich gut
       eingerichtet zu haben.
       
       Das Staffelholz des Dorfchronisten nahm der langhaarige Schwiegersohn im
       Jahr 1977 für seine Diplomarbeit wieder auf und folgt in Bildserien
       einzelnen Charakteren des Berkaer Albums. Großartig ist dann die Crazyness
       einiger Aufnahmen, etwa wenn eine Gruppe älterer Frauen des nachts am Rande
       eines Polterabends auf Stelzen läuft.
       
       Zwanzig Jahre später soll Mahler für den Stern in Berka die Auswirkungen
       der „Wende“ dokumentieren, doch 1998 fand er dort keine „blühenden
       Landschaften“, sondern „ein verschlossenes Dorf“, wie Katalogautorin Anja
       Maier schreibt. Werner Mahlers schwarz-weißer Realismus passte den
       Blattmachern nicht. „Ich bin dem Dorf gegenüber kritischer als früher –
       auch aus Enttäuschung, dass das alte Dorf nicht wiederzufinden ist“,
       bekundet er in [1][Pamela Meyer-Arndts Dokumentarfilm] „Dorfliebe“ von
       2010. Geräte wurden achtlos abgestellt, früher karnevaleske Feste sind nun
       Besäufnisse, „worin jeder allein ist“, wie die Schriftstellerin Jenny
       Erpenbeck für den Katalog schreibt.
       
       ## Die Mahlers dokumentierten Verhältnisse, nicht Evidenz
       
       Mit vierzehn hatte Ute Mahler das Dorf verlassen. Seit einigen Jahren
       arbeitet sie die Familienbilder, das eigene Werk und auch die Erinnerungen
       an den Ort auf. Aus Berka brachte sie einsame und desillusionierte,
       zugleich aufmerksame Aufnahmen mit: Eine wie trunken wirkende
       Strohballenfigur, der immer wieder in den Serien auftauchende „heidnische
       Erbsbär“, wird beinahe vom Auto überrollt. Einstige Treffpunkte entlang
       einer vom Regen aufgeweichten Sandpiste sind nunmehr zugepflasterte
       Straßenkreuzungen.
       
       Der Ausstellungskatalog versucht Distanz zu schaffen, wo
       Kindheitserinnerungen und Sentiment zu stark werden könnten. Von einer
       „Sichtung der Gesellschaft“ schreibt Soziologe Steffen Mau zu „Ein Dorf“;
       die Mahlers dokumentierten Verhältnisse und nicht Evidenz.
       
       Berka war ein Arbeiterdorf, keine Landlustidylle: Der Kalischacht VEB
       Glückauf, wo 3.000 Menschen und auch viele Berkschen Düngemittel für die
       Landwirtschaft herstellten, liegt gerade mal fünf Kilometer entfernt. Doch
       auf den ausgewählten Bildern sieht man Ackerbau, Viehzucht,
       Hofschlachtungen. Schon bei [2][August Sanders inzwischen klassischer
       Aufnahme] „Jungbauern“ aus dem Westerwald, fein herausgeputzt auf dem Weg
       zum Tanz kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs, stellte sich jüngst
       heraus, dass hier Minenarbeiter abgebildet waren.
       
       Die Baumarkt-Moderne sucht Deutschlandkonsens. „Ein Dorf“, nicht das Dorf,
       heißt die auf Verallgemeinerbarkeit hin ausgerichtete Langzeitbeobachtung.
       Die vier zentralen Bildserien überspannen 70 Jahre im archivarischen
       Schwarz-Weiß. Die Kunsthalle erweitert dies um zahlreiche ältere Bildserien
       zu einer Art Retrospektive. Wie wird das nun nach Sondershausen
       eingemeindete Berka in weiteren zwanzig Jahren aussehen?
       
       5 Apr 2024
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Jochen Becker
       
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