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       # taz.de -- 100 Jahre deutsch-türkische Beziehungen: Die gemeinsame Geschichte würdigen
       
       > Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier ist für drei Tage zu Besuch in
       > der Türkei. Dort wird er nicht nur mit offenen Armen empfangen.
       
   IMG Bild: 22. April am Bahnhof Sirkeci in Istanbul: Steinmeier mit einem türkischen Gastarbeiter, der lange in Deutschland gearbeitet hat
       
       Istanbul taz | Zum Auftakt seines dreitägigen Besuchs in der Türkei hat
       sich Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier einen symbolträchtigen Ort
       ausgesucht. Der Bahnhof Sirkeci ist der historische Kopfbahnhof auf der
       europäischen Seite Istanbuls, von dem aus früher die Züge in Richtung
       Europa losfuhren. Es ist mithin der Platz, von dem aus in den frühen 60er
       Jahren die damals so [1][genannten GastarbeiterInnen] nach Deutschland
       aufbrachen.
       
       In seiner Auftaktrede erinnert Steinmeier an diese Geschichte, würdigt die
       damaligen ArbeitsmigrantInnen und deren mittlerweile knapp drei Millionen
       Nachkommen in Deutschland als wichtigen Teil „unseres Landes“. Zu
       Steinmeiers Delegation gehören neben Finanzminister Christian Lindner (FDP)
       und anderen BundespolitikerInnen deshalb auch etliche VertreterInnen von
       Deutschen mit türkischem Migrationshintergrund, die längst, wie Steinmeier
       sagte, zum „Herzbestand“ Deutschlands gehören.
       
       Offizieller Anlass für den Besuch des Bundespräsidenten ist das 100-jährige
       Jubiläum der deutsch-türkischen Beziehungen. Vor 100 Jahren wurde die
       Verbindung zur Türkischen Republik neu geknüpft, nachdem in der Folge des
       Ersten Weltkrieges, in dem Deutschland und das Osmanische Reich Verbündete
       waren, beide Kaiserreiche untergegangen waren.
       
       Steinmeier erinnerte in seiner Rede daran, dass es schon vor dem Ersten
       Weltkrieg eine rege Einwanderung deutschsprachiger Menschen in das
       Osmanische Reich gegeben hatte und „in den dunklen Jahren“ während der
       Nazi-Diktatur viele Deutsche Zuflucht am Bosporus fanden. Auch heute, so
       Steinmeier, leben rund 50.000 Deutsche in der Türkei, eine der größten
       Auslandsgemeinden außerhalb der EU überhaupt. Die Einwanderung von
       TürkInnen nach Deutschland sei also keine Einbahnstraße.
       
       ## Eine Türkei jenseits von Erdoğan
       
       Doch der Besuch des Bundespräsidenten hat nicht nur einen geschichtlichen
       Hintergrund. Neben der Würdigung der langen Zusammenarbeit der beiden
       Ländern ist auch ein Besuch im Erdbebengebiet im Südosten des Landes
       geplant. Dort will er am Dienstag Opfer und Helfer des Erdbebens vom
       Februar 2023 treffen. Aber sein Besuch hat noch eine weitere Ebene:
       Steinmeier sondiert die Lage in der Türkei nach der Wahlniederlage von
       Präsident Recep Tayyip Erdoğans bei den Kommunalwahlen am 31. März dieses
       Jahres. Er ist der erste hochrangige deutsche Politiker, der nun das Land
       besucht.
       
       Seither ist in dem scheinbar so fest gefügten autoritären Staat Erdoğans
       wieder etwas Bewegung gekommen. Steinmeier trägt dem Rechnung, indem er
       demonstrativ zum Auftakt seines Besuchs dem [2][Sieger dieser
       Kommunalwahlen,] Ekrem İmamoğlu, Oberbürgermeister Istanbuls und
       Angehöriger der oppositionellen CHP, seine Aufwartung macht. Darum hat er
       seinen Besuch nicht wie sonst üblich in der Hauptstadt Ankara mit einem
       Treffen mit Erdoğan begonnen, sondern startet in Istanbul mit einem Treffen
       mit dem wichtigsten Vertreter der Opposition, Ekrem İmamoğlu.
       
       Der Rundgang im Bahnhof Sirkeci zeigte sie bei einem vertrauten Gespräch,
       das später hinter verschlossenen Türen fortgesetzt wurde. Schon nach seiner
       ersten Wahl 2019 waren viele europäische Politiker neugierig auf İmamoğlu,
       doch erst jetzt, nach seiner Wiederwahl und dem landesweiten Erfolg der
       oppositionellen CHP, scheint sich in der deutschen Politik der Eindruck
       festzusetzen, dass es auch noch eine Türkei jenseits von Erdoğan gibt und
       dieser Türkei womöglich die Zukunft gehört.
       
       ## Entgegengesetzte Auffassungen zum Krieg in Gaza
       
       Das zeigt sich auch daran, dass Steinmeier, wenn er am Mittwoch in Ankara
       ist, dort nicht nur Präsident Erdoğan treffen wird, sondern auch den
       [3][neu gewählten Vorsitzenden der CHP], Özgür Özel und den ebenfalls zur
       CHP gehörenden Ankaraner Oberbürgermeister Mansur Yavas.
       
       Beim Gespräch mit Erdoğan dürfte es doch noch um die diametral
       entgegengesetzten Auffassungen zum Krieg in Gaza und das Verhältnis zu
       Israel und der Hamas gehen. Erdoğan hat sich ja gerade erst am Wochenende
       demonstrativ mit der Hamas-Spitze in Istanbul getroffen und wird wohl in
       den nächsten Wochen als Interessenvertreter der Hamas noch weiter in den
       Vordergrund rücken. In Europa und den USA macht er sich damit keine
       Freunde.
       
       Ein fest geplantes Treffen mit US-Präsident Joe Biden für den 4. Mai
       scheint wieder infrage zu stehen. Schon während des feierlichen Rundgangs
       in Sirkeci bekam Steinmeier einen Eindruck davon, wie die Stimmung in der
       Türkei gegenüber der deutschen Unterstützung für Israel ist. Lautstark
       schrie eine Gruppe Demonstranten Steinmeier ihre Wut über die deutsche
       Unterstützung für die „israelischen Mörder“ zu. Die Demonstranten wurden
       von der Polizei verdrängt, wahrgenommen haben wird Steinmeier den Protest
       wohl dennoch.
       
       22 Apr 2024
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Jürgen Gottschlich
       
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