URI: 
       # taz.de -- Beruf Sea Ranger: Der Herr der Heringe
       
       > Martin Saager ist Küstenfischer in Wismar. Jetzt drückt er wieder die
       > Schulbank, um sich zum „Förster der Meere“ ausbilden zu lassen.
       
   IMG Bild: Fischen und Forschen: Martin Saager beim Einholen seiner Heringsnetze in der Wismarer Bucht
       
       Wismartaz | An einem grauen Donnerstag im März steht der Küstenfischer
       Martin Saager auf seinem Kutter, einige Kilometer vor dem Hafen von Wismar.
       Vorgestern hatte er 12 Heringe im Netz, sein Kollege an diesem Morgen nur
       zwei. „Aber ein Küstenfischer“, sagt Martin Saager, „hat immer Hoffnung.“
       Die hydraulische Kurbel zieht Zentimeter für Zentimeter das Stellnetz aus
       dem Wasser.
       
       Eine Feuerqualle rutscht in die Kiste. Dann eine winzige Scholle, halb so
       dünn wie eine Kinderhand. Sie darf zurück ins Meer. Weil sie so wenig
       Futter finden, sind die Schollen unbrauchbar klein. Die Kurbel hält an, das
       Netz ist an Bord – und leer. „Kein einziger Hering, das ist ja der
       Wahnsinn“, sagt Saager.
       
       Martin Saager ist 45 Jahre alt, ein großer Mann, die Kappe wirkt klein auf
       seinem Kopf. Seine Füße stecken in schweren Gummistiefeln, von oben bis
       unten ist er in blau-gelbes Plastik gehüllt. Saager macht das, was man
       passive Fischerei nennt: also ohne Motor und Schleppnetze in Küstennähe
       fischen. Er stellt seine Netze vor dem Wismarer Hafen, lässt sie warten und
       holt sie meist morgens wieder aus dem Wasser. Davon leben kann er nicht.
       Seit Oktober ist der 45-Jährige deshalb einer von 11 Fischern, die sich zu
       einem Sea Ranger ausbilden lassen, den so genannten Förstern der Meere.
       
       ## Von Meer in die Schule
       
       Das ganze ist ein Pilotprojekt. Für die Ausbildungsblöcke fährt er
       wochenweise in das zweieinhalb Stunden entfernte Sassnitz auf Rügen. Neben
       dem Fischen sollen die 11 zukünftigen Sea Ranger später zum Beispiel
       Tourist*innen aufs Schiff mitnehmen und über ihren Beruf informieren.
       Außerdem sollen sie Proben für die Forschung zuliefern können, und beim
       Monitoring von Fischlarven in Küstennähe helfen. Oder in Schulen gehen und
       Vorträge über Meeresschutz halten. Auch Seebestattungen durchführen oder
       Kooperationen mit Museen sind mögliche Aufgaben, oder die Mithilfe bei der
       Entwicklung von nachhaltigen Fangmethoden und Aquakulturen.
       
       So ganz klar ist noch nicht, wie der Arbeitsalltag später aussieht, denn
       die angehenden Sea Ranger sind die ersten ihrer Art. Nach ihrer
       Abschlussprüfung im Juni sollen sie die Arbeit aufnehmen, dafür sollen sie
       2.000 Euro monatlich bekommen. Die 11 Fischer haben bereits einen Verein
       gegründet, über ihn soll die Koordination von Aufträgen laufen.
       
       Wieder zur Schule gehen, war erst „gewöhnungsbedürftig“, sagt Saager. „Wir
       sind aktive Fischer, und dann die ganze Zeit stillsitzen und zuhören, das
       war neu.“ Erste Aufgaben hat Saager schon übernommen, zum Beispiel
       Geisternetze aus dem Meer zu holen. Das Geld für die Ausbildung kommt vom
       Land Mecklenburg-Vorpommern, die Idee von der Fischereigenossenschaft
       Wismarbucht. Saager ist dort im Vorstand.
       
       ## Vom Fischen kann in Deutschland kaum jemand leben
       
       Die deutsche Ostseefischerei stirbt aus, und wird an vielen Stellen mehr
       oder weniger sozial verträglich abgewrackt. Die Idee der Sea Ranger ist der
       Versuch, trotz nahezu leerer Netze die aktive Fischerei aufrechtzuerhalten,
       und das praktische und kulturelle Wissen der Fischer über die Ostsee zu
       nutzen.
       
       Dass vom Fischen in Deutschland so gut wie keiner mehr leben kann, ist
       nicht neu. 1992 waren es in Mecklenburg-Vorpommern noch 780
       haupterwerbliche Küstenfischereibetriebe. 2021 waren es nur noch 184. Im
       Moment gibt es in dem Bundesland keine Auszubildenden zum Fischwirt oder
       zur Fischwirtin für die kleine Hochsee- und Küstenfischerei mehr.
       
       Das liegt an drei Dingen. Erstens an Überfischung, vor allem von
       Brotfischen wie Hering und Dorsch. Der Rat der EU-FischereiministerInnen
       hat im Oktober 2023 den gezielten Fang des Herings endgültig verboten,
       damit sich der Bestand erholen kann. Die kleine Küstenfischerei ist davon
       zwar ausgenommen, das hilft ihr allerdings nicht, denn der Hering ist schon
       weitgehend weg. Zweitens haben Hitzeperioden in den letzten fünf Jahren das
       Wasser derart erwärmt, dass die Lebenszyklen nicht mehr zusammenpassen.
       
       Der Dorsch laicht zum Beispiel deutlich früher als sonst. Das
       Phytoplankton, das er isst, wächst dann allerdings noch nicht, weil sich
       dessen Wachstum nach Lichtverhältnissen richtet und nicht nach der
       Wassertemperatur. Dadurch verhungern die Jungfische. Und drittens leitet
       die Landwirtschaft seit Jahren zu viele Nährstoffe ins Abwasser, wodurch
       sich unter anderem der Sauerstoffgehalt in der Ostsee stark verändert.
       
       ## Forscher in Küstennähe
       
       In der Ausbildung lernen die Fischer mehr über diese Veränderungen, und
       darüber, wie sie helfen können. „Wir haben zum Beispiel eine
       Forschungslücke zwischen Strandlinie und etwa 9 bis 20 Meter in die Ostsee
       hinein“, sagt Kai de Graaf. Der Naturpädagoge und Forscher arbeitet am
       Center for Ocean and Society der Universität Kiel und hat Teile der
       Sea-Ranger-Ausbildung mitkonzipiert. Wegen des höheren Tiefgangs kommen
       Forschungsschiffe nicht dort hin, wo die Fische laichen und wo sich die
       Jungtiere aufhalten. Fische in diesen Stadien können aber viel über
       Anpassungen der Arten an die Bedingungen aussagen. „Sea Ranger könnten mit
       ihren flachwassertauglichen Kuttern Forschungsdaten sammeln“, sagt de
       Graaf.
       
       Fischerei ist ein wichtiges Kulturgut an der Ostseeküste. Um das
       weiterzugeben, lernen Saager und seine Kollegen zum Beispiel auch, Vorträge
       mit PowerPoint zu erstellen und sie vor Schulklassen zu halten. „Auch wenn
       das sonst nicht so mein Ding ist“, sagt Saager. Im Rahmen der Ausbildung
       waren sie in einer 4. Klasse in Sassnitz, Saager hat Kindern seine
       Fanggeräte erklärt. „In dem Alter sind sie echt noch neugierig“, sagt
       Saager.
       
       Nachwuchs zu finden, beschäftigt Saager am meisten. Er lächelt, wenn er
       davon spricht, zum Beispiel von einem Viertklässler, der eine Sendung über
       die Ausbildung im NDR gesehen hat und deshalb bei ihm vorbeigekommen ist.
       Und von einem Achtklässler, der bei ihm ein Praktikum macht. Noch zwei
       Jahre hat der Schüler bis zum Abschluss. „Das könnt vielleicht was werden“,
       sagt Saager, der die Hoffnung auf einen Nachfolger in seinem Betrieb nicht
       aufgibt. Die Ausbildung zum Sea Ranger könnte junge Menschen in den
       Fischerberuf locken, hofft er.
       
       „Klar, es ist ein Überlebenskampf, aber die Fischer, die ich kennenlernen
       durfte, sind sehr ruhige Leute“, sagt Forscher Kai de Graaf. „Solange das
       Schiff nicht sinkt, machen sie weiter.“ Seit 2016 hält sich Saager vor
       allem mithilfe seines Imbisses über Wasser, den er mit einem Kollegen
       betreibt. Den Fisch, den er dort verkauft, holt er zu großen Teilen bei
       Kollegen von Rügen. Ein Traum von ihm war der Imbiss nicht, aber er
       ermöglichte ihm, seinen Betrieb zu finanzieren. Dabei könnte ihm das Gehalt
       als Sea Ranger ebenfalls helfen. „Jetzt geb ich nicht mehr auf“, sagt
       Saager. Ein Küstenfischer hat schließlich immer Hoffnung.
       
       13 Apr 2024
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Theresa Moosmann
       
       ## TAGS
       
   DIR Schwerpunkt Stadtland
   DIR Ostsee
   DIR Fischerei
   DIR Hering
   DIR Schwerpunkt Klimawandel
   DIR Schwerpunkt Klimawandel
   DIR Schwerpunkt Stadtland
   DIR Schwerpunkt Stadtland
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Konferenz „Our Ocean“: Milliarden zum Schutz der Meere
       
       Die Meerestemperaturen steigen. Trotz dieser und anderer Bad News gibt es
       auf dem Our-Ocean-Treffen weniger Geld zum Schutz des Lebensraums als im
       Jahr 2023.
       
   DIR Nachhaltige Fischerei in der Ostsee: Mehr Fisch, weniger Klimawandel
       
       Eine gesunde Ostsee und gleichzeitig mehr Hering und Dorsch auf dem Teller?
       Das ist möglich. Doch dafür müsste erst mal weniger gefischt werden.
       
   DIR Fischfang in der Ostsee: Kummer an der Küste
       
       Klimawandel, Überdüngung und Überfischung bedrohen Fischbestände in der
       Ostsee – vor allem Hering und Dorsch. Welchen Fisch sollten man noch essen?
       
   DIR Arbeit an der Ostsee: Das Fischersterben
       
       Früher lebten in Barth viele vom Fischen in der Ostsee, heute sind es nur
       noch zwei. André Grählert und David Graf aber geben nicht auf.