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       # taz.de -- Kafka am Schauspielhaus Hannover: Diese Schabe gehört in ein Museum
       
       > Clara Weyde inszeniert „Die Verwandlung“ nach Franz Kafka am
       > Schauspielhaus Hannover. Inklusive erotischem Begehren der Schwester und
       > herzlosen Eltern.
       
   IMG Bild: „Zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt“: Kafka am Schauspielhaus Hannover
       
       Warum „Die Verwandlung“ spielen, wenn man mit ihr spielen kann? Dazu hat
       sich Regisseurin Clara Weyde in die Deutungsvielfalt von Gregor Samsas
       Selbstverzauberung in ein bemitleidenswert „ungeheures Ungeziefer“
       gestürzt, das seine Andersartigkeit offensichtlich macht und ihn aus der
       brav bedienten Verwertungs-, Ausbeutungs- und Konsumentenlogik des
       Kapitalismus befreit.
       
       Statt diese oder eine andere der vielen Thesen zu [1][Franz Kafkas
       Erzählung aus dem Jahr 1912] zu sezieren, versteht sie den insektifizierten
       Protagonisten grundsätzlich als Projektionsfläche von Interpretationen. Sie
       kann symbolisch den einen oder anderen Aspekt der Wirklichkeit und Aussagen
       dazu sichtbar machen sowie beim Betrachter diverse Gedanken, Emotionen,
       Fragen vielleicht sogar neue Sichtweisen erwecken.
       
       Gregor Samsa ist also selbst ein Kunstwerk – und gehört ins Museum. Das
       Stück dazu hat die Regisseurin mit Zitaten von Franz Kafka und einigen
       anderen verfasst, aber den Originaltitel belassen: „Die Verwandlung“.
       
       Konsequent, dass auf der Bühne des Schauspielhauses Hannover der Saal eines
       Museums für moderne Kunst zu sehen ist. [2][Rechts hängt ein Kafka-Porträt
       in verwischter Unschärfe-Anmutung] früher Gerhard-Richter-Bilder, links
       leuchtet der Schriftzug „Endlich“ wie Neon Art aus den 1960er Jahren.
       Dazwischen ruht eine Putzfrau-Skulptur – als wäre sie von Duane Hanson als
       Wachsfigur erschaffen. Dahinter lockt ein verglastes Terrarium, im Zoo
       würden gleich Pinguine durchs Bild flanieren. Hier ist erst mal nichts zu
       sehen.
       
       ## Ein Außenseiter wie Gregor Samsa
       
       Außer vier Aufseher:innen, gescheiterte Akademiker:innen, die als satirisch
       gezeichnete Komödienfiguren ihre Langeweile ausleben und einen neuen
       Kollegen, mittelloser Künstler, einarbeiten, indem sie ihn als Vertreter
       der Generation Z mobben. Er ist daher gleich ein Außenseiter im Team, wie
       Gregor in seiner Familie, zwei Spiegelbilder gesellschaftlicher Macht- und
       Abhängigkeitsverhältnisse.
       
       Der Neue (Nils Rovira-Muñoz) passt mit seinen unsicheren Bewegungen, dem
       eigenwilligen Denken und moralischen Impetus auch nicht zu den anderen,
       sodass er sich schnell mit der rebellischen Weltflucht von Kafkas einsamen
       Helden identifiziert. Der als Schabe (Sophie Casna) erscheint und mit dem
       Neuen zärtliche Gesten austauscht.
       
       Irgendwann schläft er ein, Vorhänge verdecken das
       Kunstausstellungsambiente. Durch eine Laubsägearbeit, die bei Kafka ja ein
       Hobby von Gregor ist, tritt das Museumspersonal nun grotesk kostümiert als
       Mutter, Vater, Tochter Samsa in den Traum, umgarnt von atmosphärischen
       Klängen der Kategorie: unheilvoll. Sie spielen Szenen, in denen sich die
       Figuren zur Verwandlung verhalten müssen.
       
       Wobei der Vater darin einen utopischen Befreiungsmoment entdeckt: „Ja, das
       wär’s. Nochmal aufbrechen.“ Hübsch ironisch kommentieren die Samsas das mit
       der Choreografie von einem Schritt vor und einen zurück. Die Familie wird
       sich also nicht in die Zukunft entwerfen, sondern bleiben, wo und wie sie
       ist. In Unkenntnis ihrer selbst.
       
       ## Erotisches Begehren der Schwester
       
       Dass Gregors erotisches Begehren der „Dame im Pelz“ auf dem Gemälde in
       seinem Zimmer gilt, aber eigentlich inzestuös auf die Schwester gerichtet
       ist, macht Weyde überdeutlich: Jedenfalls tanzt die Schwesterndarstellerin
       als bepelzte Dame powedelnd herum, wirft ihren Umhang fort, auf den der
       Neue/Gregor sich schmeißt und losonaniert.
       
       Bevor die herzlosen Eltern der Schabe Gregor in ihrer Nutzlosigkeit mit Wut
       begegnen, sie als Kostgängerin loswerden oder zumindest in einen neuen
       Verwertungszusammenhang überführen wollen. Schon werden gemahlene Insekten
       als proteinreiche und klimafreundliche Fleisch-Alternative gepriesen – und
       entsprechende Rezepte ausprobiert …
       
       Weyde assoziiert viele solcher lustig-bösen Übersetzungen ins Hier und
       Heute, die sich aber nur aneinanderreihen, nicht dramaturgisch auseinander
       entwickeln. Am Ende löst der Neue das vielbeinig herumkrabbelnde Kunstwerk
       ab und setzt sich in den Museumsschaukasten. Hikikomori für die Kunst.
       
       ## Anleitung ein anderer zu werden
       
       Und ein Selbstfindungsprozess. Wünscht doch auch der neue Gregor den Normen
       und Idealen zu entkommen, die die Gesellschaftsmehrheit predigt: „Ich will
       mich mehr wie ich selbst fühlen.“ Schon wollen auch die Kolleg:innen
       über ihre Rollen im Spiel des Lebens reden, sich über
       Entfremdungszusammenhänge austauschen und Édouard Louis’ „Anleitung ein
       anderer zu werden“ feiern.
       
       12 Apr 2024
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Jens Fischer
       
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