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       # taz.de -- Keramik selber machen: Besser als Yoga und Meditieren
       
       > In ihrem ersten Töpferkurs produziert unsere Autorin lauter krummes Zeug.
       > Liegt es daran, dass sie Anfängerin ist? Oder hat es einen anderen Grund?
       
   IMG Bild: Den Ton mit Kraft und den richtigen Handgriffen zentrieren, ihn mit einem Daumen öffnen, den Boden massieren, die Wände hochziehen
       
       Am Anfang ist da ein Klumpen Dreck. An seiner Entstehung sind Vulkane
       beteiligt, Winde, Regenfälle und Frost. Sie schaffen festes Gestein und
       zersetzen es in einem Millionen Jahre langen Prozess in feine Teilchen.
       Diese Teilchen bilden einen der ältesten Rohstoffe der Welt: Ton. Ein
       Produkt des Bodens, eine Manifestation von Zeit.
       
       [1][Dann ist da eine über 5.000 Jahre alte Technik.] Eine schnell drehende
       Scheibe auf einer senkrechten Achse, entstanden vermutlich im Südwesten von
       Asien und ab 550 v. Chr. auch im gesamten Mittelmeerraum verbreitet.
       Schüsseln, Teller oder Krüge mussten nun nicht mehr Tonwulst an Tonwulst
       aufgebaut werden.
       
       Mit genug Wasser und Druck ließ sich die um sich selbst rotierende Tonmasse
       viel schneller und viel gleichmäßiger zwischen den Fingern formen. Es
       winkte die Serienproduktion. Einmal getrocknet, behält Ton seine Form.
       Setzt man ihn nun noch großer Hitze aus, verbinden sich seine mineralischen
       Stoffe quasi für die Ewigkeit. Aus Ton wird Keramik.
       
       Von diesen Prozessen, von Tonteilchen und Töpfertraditionen weiß ich 2017
       wenig, als ich mich zum ersten Mal an eine Drehscheibe setze. Die Werkstatt
       ist voller Tonstaub, in den Regalen sammeln sich getöpferte Becher, Schalen
       und Figuren. In der Ecke hockt der Brennofen. Gemeinsam mit einer Freundin
       habe ich [2][einen der begehrten Zugänge zu diesem Ort ergattert.] Die
       Kursleiterin der Volkshochschule doziert anfangs übers Tonschlagen,
       Zentrieren und Abdrehen. In den kommenden Stunden schaut sie uns über die
       Schultern. Erst mal gelingt nichts. Dann produziere ich Kleinstobjekte.
       
       Doch Töpfern bleibt bei ihr ein Mysterium. Wir sollen wohl auf unsere
       eigene Art den Zugang zum Material und zur Technik finden. Dann fällt auch
       noch dieser Satz: Nur wer in seiner Mitte sei, bekomme den Ton richtig
       zentriert. Das Zentrieren ist beim Töpfern tatsächlich der entscheidende
       Schritt. Dreht der Ton nicht zentral in der Mitte der Scheibe, eiert er bei
       allen späteren Arbeitsschritten. Das als Anfängerin gut hinzubekommen
       braucht Übung.
       
       Ist die schwankende Statik meiner Gefäße also ein Zeugnis meiner fehlenden
       inneren Ausgeglichenheit? Die Pragmatikerin in mir findet das zu
       esoterisch. Geht es beim Töpfern nicht einfach darum, ein Handwerk
       auszuüben, das mir die Herstellung einer Tasse made by myself ermöglicht?
       So oder so: Ich bin schon damals fasziniert und will ihn können, diesen
       Zaubertrick, den man an einem Batzen Material vollführt – mit der eigenen
       Kraft und Technik, den eigenen Händen und Fingern.
       
       Nach dem Kurs will ich weitermachen, aber die wenigen bezahlbaren Seminare
       in meiner Umgebung sind immer ausgebucht. Dann der Strategiewechsel: Wenn
       wir nicht zur Töpferscheibe gehen können, dann soll die Scheibe halt zu uns
       kommen. Vorab wird die Infrastruktur durchgedacht: Ein Freund hat noch ein
       Eckchen in seinem Atelier frei, dann kommen weder Tonstaub noch Schlicker
       in die eigene Wohnung. Und in einer Schule in der Umgebung gibt es einen
       Brennofen.
       
       Also klicke ich mich mit meiner Töpferfreundin durch jedes
       Drehscheibenangebot in den Kleinanzeigen. Wir recherchieren die Preise von
       neuen Scheiben und bekommen schließlich einen Tipp für ein Anfängergerät in
       unserem Budgetrahmen. Nach wenigen Tagen kommt sie per Post, ist schnell
       aufgebaut und gehört von da an uns ganz allein: die ETS300-6.
       
       Produziert wurde sie nördlich von Augsburg, ihr Erfinder heißt Andreas
       Lindemann. Seiner Schwester sei es 2011 so gegangen wie uns heute, erzählt
       er am Telefon, sie habe kein bezahl- und brauchbares Modell gefunden: „Dann
       hat sie gesagt, komm, du bist doch Maschinenbauer, bau mir mal eine.“
       
       Sein erstes Gerät bestand aus einem Holzgehäuse, einem Motor und der
       notwendigen Elektrik, zusammengebaut im eigenen Keller. Prototyp 1 landete
       bei seiner Schwester, die damit lostöpferte. Aber vielleicht gäbe es auch
       andere Abnehmer*innen? Andreas Lindemann entwickelte sein Modell weiter und
       stellte es wenige Monate danach ins Netz, zunächst auf Ebay, später in
       einen eigenen Onlineshop.
       
       Selbst töpfert Andreas Lindemann auch, doch inzwischen findet er kaum noch
       die Zeit dazu. Seit er seine Modelle anbietet, verkauft er von Jahr zu Jahr
       mehr Scheiben, in den letzten drei Jahren verdoppelten sich die Verkäufe
       sogar. Seine Pakete gehen nach Deutschland und Österreich, aber auch nach
       Dänemark, Frankreich und Rumänien.
       
       Besonders vor Weihnachten sei die Hölle los. Dieser Töpferboom, der uns
       auch die Kurssuche so schwer machte, hat also schon vor einigen Jahren
       begonnen und setzt sich auch in den sozialen Medien fort: Auf Instagram und
       Tiktok kann man spätestens seit der Pandemie Menschen aus aller Welt beim
       Drehen betrachten.
       
       Und vielleicht wirkt auch die Töpferszene aus „Ghost – Nachricht von Sam“
       von 1990 noch nach? Patrick Swayze und Demi Moore, leicht bekleidet und mit
       glitschigen Händen an der Töpferscheibe, dann folgt: Hot Pottery. Auch
       Andreas Lindemann sagt, dass Drehen mit Spüren und Fühlen zu tun hat. Es
       ist definitiv eine sensuelle Erfahrung.
       
       Das empfinde ich auch so, wenn ich an meiner ETS300-6 sitze, aus dem Ton
       eine Kugel rolle und sie in die Mitte der Drehscheibe drücke. Glatt und
       kühl liegt sie da, vielleicht hellbraun, vielleicht gelblich oder braunrot.
       Dann suche ich einen stabilen Sitz, breitbeinig, mein Körper beugt sich
       nach vorne, ein Ellbogen gräbt sich in die Hüfte. Die Maschine auf
       Highspeed stellen, die Hände ins Wasser tauchen. Den Ton mit der richtigen
       Kraft und den richtigen Handgriffen zentrieren, ihn mit einem Daumen
       öffnen, den Boden massieren, die Wände hochziehen.
       
       Andreas Lindemann sagt, die Menschen fasziniere das Handgemachte am
       [3][Töpfern]: „Man formt ja aus einem Klumpen Ton etwas Wunderschönes und
       Symmetrisches. Einen Körper, den man praktisch nutzen kann. Und jedes
       gedrehte Teil ist ein Unikat, mit dem man sich selbst wieder
       identifiziert.“
       
       Ähnliches beobachtet auch Mira Zichnowitz, der das Töpferstudio „Ceramics“
       in Köln gehört. „Stadtmenschen brauchen irgendeinen Ausgleich“, sagt sie.
       Von den meisten Kursleiter*innen unterscheidet sich die 26-Jährige
       durch ihre Ausbildung. Zichnowitz ist Keramikmeisterin, gelernt hat sie
       fünf Jahre an der Keramikschule Landshut. Zurück in Köln machte Zichnowitz
       sich im Januar 2023 als Kursleiterin selbststständig. Anders als andere
       Studios bietet sie nur Kurse an der Drehscheibe an.
       
       Funktioniert habe das sofort, ohne Werbung: Viele, die bei „Ceramics“
       landen, hätten sich von den sozialen Medien zum Töpfern inspirieren lassen
       und kämen mit entsprechend großen Erwartungen. Dabei brauche es beim
       Töpfern anfangs viel Ausdauer. Sie selbst habe das Zentrieren in ihrer
       Ausbildung ein halbes Jahr lang geübt. Ist das Drehen an der Scheibe also
       doch bloß ein Handwerk, dessen Griffe und Technik jede*r lernen und dann
       ausüben kann?
       
       Ja, sagt Mira Zichnowitz, die Technik lerne man mit der Zeit. Genauso
       wichtig sei beim Töpfern jedoch der innere Fokus. Und genau das fordere die
       Menschen heraus: „Wer keine Ruhe mitbringt, wird den Ton nur schwer
       zentrieren können. Man muss bei sich sein, sonst macht der Ton, was er
       will.“ Ihre Kurse halte sie bewusst intim und persönlich, die Gruppen sind
       klein: „Alle sind ruhig. Alle sitzen an ihrer Scheibe, reden nicht – das
       ist eine besondere Atmosphäre.“
       
       Diese Atmosphäre kenne ich. Auch wenn ich mich mit meiner Töpferkollegin
       treffe, treten wir in diesen geteilten kreativen Raum ein. Manchmal
       erzählen wir uns noch von unserem Tag, aber oft schauen wir uns einfach
       gegenseitig zu, hören Alicia Keys, Tom Waits, Solange und fachsimpeln über
       unsere Handgriffe. Job, Haushalt, emotionale Troubles: Wenn die Scheibe
       surrt, rauscht das nur noch im Hintergrund. Dann ist der Fokus da, die
       Präsenz, die Ruhe.
       
       Meine frühere Kursleiterin hatte also doch recht. Ich bin in meiner Mitte –
       und der Ton dreht in die richtige Richtung.
       
       18 Jun 2024
       
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