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       # taz.de -- Gewerkschaften in Deutschland: Die neue Lust am Streik
       
       > Gewerkschaftliche Arbeitskämpfe werden unter dem Druck der
       > wirtschaftlichen Lage selbstbewusster. Entscheidend wird die Debatte ums
       > Streikrecht.
       
   IMG Bild: Druck auf den Kessel geben: Warnstreik in der Eisen- und Stahlindustrie, Dortmund, Dezember 2023
       
       Unter dem Motto „Mehr Lohn, mehr Freizeit, mehr Sicherheit“ ruft der
       Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) in diesem Jahr zu seinen Maikundgebungen
       auf. Angesichts gestiegener Mitgliedszahlen verspürt der Dachverband
       Rückenwind. „Wir Gewerkschaften sorgen dafür, dass sich die Menschen den
       vielen Umbrüchen unserer Zeit nicht schutzlos ausgeliefert fühlen müssen“,
       heißt es selbstbewusst in seinem Aufruf zum 1. Mai. Gleichzeitig warnt der
       DGB vor [1][Einschränkungen des Streikrechts].
       
       437.000 neue Mitglieder haben die im DGB organisierten Gewerkschaften 2023
       hinzugewonnen – eine beeindruckende Zahl. Das sind weitaus mehr Menschen,
       als der CDU oder der SPD jeweils überhaupt angehören. Bei beiden liegt die
       Mitgliederzahl inzwischen unter 370.000. Gleichwohl fällt der Nettozuwachs
       deutlich schwächer aus. Denn die Abgänge durch Austritt oder Tod sind
       ebenfalls enorm. So haben die DGB-Gewerkschaften insgesamt nur knapp 22.000
       Mitglieder mehr als im Jahr 2022. Was allerdings schon ein großer Erfolg
       ist.
       
       Im Gegensatz zu früheren Zeiten ist der Eintritt in eine Gewerkschaft heute
       für viele lohnabhängig Beschäftigte keine Lebensentscheidung mehr. Von
       einem Trend zur „Hop-on-hop-off“-Mitgliedschaft spricht der
       Verdi-Vorsitzende Frank Werneke. Das heißt, dass sie eintreten, wenn sie
       sich davon konkret etwas versprechen, aber auch bald wieder austreten, wenn
       das Erhoffte erreicht worden ist – oder ihre Hoffnungen enttäuscht werden.
       
       Deshalb scheint es auch verfrüht, bereits von einer Trendwende zu sprechen.
       Seit dem Höhepunkt 1991, als 11,8 Millionen Menschen gewerkschaftlich
       organisiert waren, ging in den vergangenen Jahrzehnten die Mitgliederkurve
       bislang immer nur beständig nach unten. Ein Produkt dieser Schwächung der
       Gewerkschaften ist die stark gesunkene Tarifbindung der Beschäftigten. Im
       Jahr 2000 konnten bundesweit noch 68 Prozent auf tarifvertraglich
       festgeschriebene Ansprüche zählen, 2023 waren es nur noch 49 Prozent. Immer
       mehr Arbeitgeber:innen stehlen sich aus ihrer sozialen Verantwortung
       und verhandeln nicht mehr sozialpartnerschaftlich mit den Gewerkschaften.
       
       Wo es keinen Tarifvertrag gibt, können Gewerkschaften auch nicht für einen
       besseren kämpfen. Das gehört zu den Gründen, warum in nicht tarifgebundenen
       Betrieben die Arbeitsbedingungen in der Regel in wesentlichen Punkten
       deutlich schlechter sind. So ist die regelmäßige Wochenarbeitszeit dort mit
       39,5 Stunden im Schnitt um fast eine Stunde länger als in Betrieben mit
       Tarifvertrag (38,6 Stunden).
       
       Auch beim Lohn klafft im Vergleich eine Lücke von mehreren hundert Euro.
       Sie erwarte, „dass die Politik endlich für bessere und mehr Tarifbindung
       sorgt“, sagt die DGB-Vorsitzende Yasmin Fahimi – womit sie die
       Ampelparteien an deren Koalitionsvertrag erinnert, gleichzeitig jedoch auch
       eigene Schwäche eingesteht.
       
       ## Die Notwendigkeit zu kämpfen
       
       Die dramatisch gestiegenen Lebenshaltungskosten nach dem Ausbruch des
       Ukraine-Kriegs haben einerseits bei vielen Beschäftigten die Einsicht in
       die Notwendigkeit erhöht, für höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen
       kämpfen zu müssen. Andererseits war und ist das mit der Erwartung
       verbunden, dass auch die Gewerkschaften bereit sind, wieder kämpferischer
       zu werden. Das Ergebnis war eine Reihe von Tarifrunden im vergangenen und
       in diesem Jahr, die wieder konfliktreicher geführt wurden – und zwar nicht
       nur im Verkehrsbereich, auch wenn die Streiks und Warnstreiks bei der
       Deutschen Bahn, im öffentlichen Nahverkehr und an den Flughäfen am
       aufsehenerregendsten waren.
       
       Wobei anders als bei dem spektakulären Arbeitskampf der im Beamtenbund
       organisierten Gewerkschaft Deutscher Lokführer (GDL) für die
       [2][35-Stunden-Woche] bei den meisten aktuellen Tarifauseinandersetzungen
       Lohnforderungen im Mittelpunkt standen und stehen. Fast überall ist es
       dabei gelungen, drohende Reallohnverluste abzuwenden.
       
       Die erkämpften Gehaltssteigerungen bewegen sich bei etlichen
       Tarifabschlüssen im zweistelligen Prozentbereich. Die Erhöhungen sind
       allerdings in der Regel auf mehrere Etappen verteilt. Die
       Tarifvertragslaufzeiten sind denn auch deutlich länger als von den
       Gewerkschaften gefordert. Was sie auch nicht durchsetzen konnten: bereits
       erlittene Reallohnverluste wieder auszugleichen. Aber wenigstens ist es
       ihnen gelungen, dass neben prozentualen Lohnerhöhungen mehr als drei
       Viertel aller Tarifbeschäftigten zusätzlich eine steuer- und
       sozialabgabenfreie Inflationsausgleichsprämie erhalten, die im Durchschnitt
       bei 2.761 Euro liegt.
       
       Noch unklar ist bislang, was die IG Metall bei der größten
       Tarifauseinandersetzung fordern wird, die in diesem Jahr noch ansteht. Im
       Herbst läuft der Tarifvertrag für die rund 3,9 Millionen bundesweit in
       diesem Bereich Beschäftigten aus. Ab Ende Oktober könnte es hier zu den
       ersten Warnstreiks kommen.
       
       ## Zu viele Streiks?
       
       Interessant wird sein, ob bis dahin die bemerkenswerte Diskussion über das
       deutsche Streikrecht wieder abgeflaut ist. Die Rufe aus den Reihen der
       Arbeitgeber:innen, der Union und der FDP nach Einschränkungen des angeblich
       viel zu liberalen Streikrechts waren in diesem Jahr nach den äußerst
       wirkungsvollen Ausständen der GDL bei der Deutschen Bahn und von Verdi an
       den Flughäfen und im öffentlichen Nahverkehr laut geworden. Der
       CDU-Vorsitzende Friedrich Merz fantasierte von „Streikexzessen“. Und selbst
       der grüne Wirtschaftsminister Robert Habeck befand demagogisch, „dass im
       Moment zu viel für immer weniger Arbeit“ gestreikt würde.
       
       Doch das – ohnehin in Deutschland stark reglementierte – Recht auf Streik
       ist das einzige wirkliche Druckmittel, das die Gewerkschaften haben. Sonst
       bliebe ihnen nur noch „kollektives Betteln“, wie DGB-Chefin Fahimi
       konstatiert. Deswegen wollen die Gewerkschaften an diesem 1. Mai auch für
       den Erhalt ihres Grundrechts auf die Straße gehen.
       
       Wozu es führt, wenn die gewerkschaftliche Durchsetzungsmacht nicht stark
       genug ist, zeigt das Beispiel der festgefahrenen Tarifrunde im
       Einzelhandel, wo es seit Mitte vergangenen Jahres keinerlei Bewegung gibt.
       Die Arbeitgeber:innen sind nicht bereit zu einem Lohnabschluss, der
       keinen Reallohnverlust bedeutet. Sie haben einfach auf stur geschaltet,
       weil Verdi zwar immer wieder zu Warnstreiks aufruft, der Gewerkschaft
       jedoch die Macht fehlt, die Supermärkte dichtzumachen. Bei zu schwachen
       Armen stehen die Räder nicht still. Das gilt leider für viele Branchen, in
       denen die Beschäftigten nicht stark genug organisiert sind.
       
       30 Apr 2024
       
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