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       # taz.de -- Entdeckung der Autorin Pirkko Saisio: Aus dem Schatten getreten
       
       > In Finnland ist Pirkko Saisio sehr bekannt. Nun ist „Gegenlicht“, der
       > zweite Teil ihrer autofiktionalen Trilogie, endlich auf Deutsch
       > erschienen.
       
   IMG Bild: Woran heften sich Erinnerungen? Die Schriftstellerin Pirkko Saisio
       
       Fast am Ende des autobiografisch geprägten Romans „Gegenlicht“ stehen diese
       Zeilen, die den Kern der Schriftstellerin Pirkko Saisio berühren, ohne dass
       sich die damals 19-Jährige dessen bewusst wäre: „[…] denn ihre Welt, das
       hat sie noch immer nicht erkannt, besteht aus Menschen, spinnennetzfeinen
       Fäden: raschen Blicken; […] unausgesprochenen Worten und ausweichenden oder
       nachgebenden Gesten; endlosem Rätselraten und tastenden Interpretationen.“
       
       Im Buch wird die Figur der jungen Pirkko im Folgenden eine Geschichte von
       Mutter und Sohn entwerfen, deren Vorbilder sie während einer Bootsfahrt
       über einen Schweizer See beobachtet hatte.
       
       Schriftstellerin zu werden, Schriftstellerin zu sein, sich die Welt und die
       eigene Persönlichkeit schreibend zu erschließen, das ist das zentrale Motiv
       der 1949 geborenen finnischen Autorin, die in ihrem Heimatland sehr bekannt
       ist.
       
       Sowohl der nun übersetzte Roman „Gegenlicht“ als auch ihr bereits vor
       wenigen Monaten auf Deutsch erschienenes Werk „Das rote Buch der Abschiede“
       erzählen vom Wunsch, Schriftstellerin zu werden, und davon, wie und unter
       welchen Bedingungen sich dieser Wunsch realisiert; beide Bücher sind
       zugleich aber auch ein eindrückliches Zeugnis dieses genauen und tastenden
       Blicks auf die Menschen und die „spinnennetzfeinen Fäden“, die sie
       miteinander verbinden.
       
       Es ist ein Glück, dass wir Pirkko Saisio – die auch Schauspielerin,
       (Theater-)Regisseurin, Drehbuchautorin ist – nun mit diesen zwei
       autofiktionalen Titeln hierzulande entdecken können, wenn auch quasi
       verspätet. Denn beide Bücher sind im Original bereits vor rund zwanzig
       Jahren erschienen und Teile einer Trilogie.
       
       ## Feinmaschiges Netz der Erinnerungen
       
       Deren Abschluss bildet „Das rote Buch der Abschiede“, das in der deutschen
       Übersetzung allerdings zuerst erschienen ist. Hier blickt Saisio auf ihr
       literarisiertes Ich der Studienzeit Anfang der 70er Jahre und die Zeit um
       die Geburt der Tochter 1981. „Gegenlicht“ ist der jetzt erschienene
       Mittelteil und erzählt von der Teenagerin und dann 19-jährigen
       Abiturientin. Teil eins wird alsbald folgen.
       
       Man kann diese Entscheidung des Verlags nachvollziehen, denn die
       Erinnerungsarbeit, der Saisio in beiden Büchern nachgeht, ist im „Rote(n)
       Buch der Abschiede“ noch vielschichtiger, das Erinnerungsnetz feinmaschiger
       gesponnen, die miteinander verwobenen Themen sind vielfältiger. Die
       formalen Einfälle, die Zersplitterung etwa der Chronologie innerhalb des
       Textes, noch radikaler. Schließlich erhielt die zuvor schon mehrfach dafür
       nominierte Autorin den renommierten Finlandia-Preis 2003 für dieses Werk,
       das für die Entdeckung der hier nahezu Unbekannten einen tollen Einstieg
       bietet.
       
       Wir begegnen der literarisch gestalteten jungen Pirkko also in den 70er
       Jahren als Studentin und im Jahr 1981, das so bedeutsam ist, weil ihre
       Tochter geboren wird und sich zugleich die Trennung, der Abschied von ihrer
       großen Liebe Havva vollzieht. Die Erzählung wechselt stetig zwischen diesen
       Zeitebenen, ergänzt durch teils wie Kommentare wirkende Passagen aus der
       Zeit, in der Saisio das Buch schreibt.
       
       „Und das ist sie im Jahr neunzehnhundertsiebzig: […] Sie ist stämmig,
       breitschultrig und markant. […] Und sie schreibt [1][auf ihrer Remington]
       Kurzgeschichtenanfänge. […] Es ist die Zeit vor Havva. Es ist auch die Zeit
       vor dem Mädchen mit den Clownaugen, vor dem grünen Zimmer in der
       Maneesikatu, vor dem Studententheater“, heißt es ziemlich zu Beginn, und
       hier scheint vieles auf, um das es im Folgenden gehen wird.
       
       Es geht um die befreiende Erkenntnis, dass es Frauen gibt, die Frauen
       lieben, und Orte, an denen sie ihr Begehren feiern. Darum, was dies
       bedeutet in einer Zeit, in der Homosexualität in Finnland kriminalisiert
       und ein Tabu ist. Um das Ringen um künstlerische Entfaltung, die Bedeutung
       des Schreibens. Um die politische Entwicklung, insbesondere an den
       Universitäten. Und wie all dies zusammenhängt.
       
       ## Entfremdung von den Eltern
       
       „Erinnerungen heften sich nicht an Wörter. Sondern an Bilder, an Kristalle
       aus Farben, Gerüche und Bewegungen, die sich gegenseitig anstoßen.“ Dieser
       anstoßenden Bewegung der Erinnerung folgt die Form des Erzählens, das sich
       von assoziativen Anregungen und dadurch ausgelösten zeitlichen wie
       thematischen Sprüngen leiten lässt.
       
       Auch innerhalb der zwei Zeitebenen bricht die Chronologie auf. Personale
       Erzählerin und Ich-Perspektive ergänzen einander, scheinen Nähe und Distanz
       der rückblickenden Saisio zu ihrem jungen Alter Ego auszutarieren. Auch
       eine Art Dialog mit sich selbst entsteht, etwa als die junge, sehr
       unsichere Pirkko dem Studententheater beitritt: „Wollte sie das überhaupt?
       Ich weiß nicht. Doch, ich weiß es. Sie wollte es. Ich wollte aus dem
       Schatten treten.“
       
       Aus dem Text strahlt eine vibrierende Lebendigkeit, die die
       [2][Übersetzerin Elina Kritzokat] hervorragend vermittelt. Pirkko, von
       einem ganz realen Fieber niedergestreckt, als das Clownauge genannte
       Mädchen ihr eröffnet, sie liebe Frauen. Sie werden ein Paar. Ihre Mutter,
       die sich (zunächst) jede Berührung und weiteren Kontakt verbittet, nachdem
       die Tochter sich ihr offenbart.
       
       Pirkko als Autorin revolutionärer Stücke am Studententheater. Die große,
       komplizierte Liebe zu Havva und die überaus schmerzhafte Trennung nach
       vielen Jahren. Der Konflikt mit der „revolutionären Bewegung“, deren
       Ideologie die Universitäten stark prägte und der zufolge Homosexualität ein
       Merkmal des kapitalistischen Verfalls sei. Der erste Vertrag mit einem
       Verlag.
       
       Angedeutet wird auch die Entfremdung zu den streng kommunistischen Eltern,
       in deren Wohnung im damaligen Helsinkier [3][Arbeiterviertel Kallio] die
       Werke Lenins und Stalins die einzige Lektüre darstellten. In „Gegenlicht“
       kann man nun die Einflüsse der Herkunft, die Konflikte mit den Eltern
       genauer nachvollziehen. Aber auch die frühe Hingezogenheit des Mädchens
       Pirkko zur Literatur. Der Wechsel aufs Gymnasium schafft neue Zugänge.
       
       ## Als Erste in der Familie macht sie Abi
       
       Ironisch beschreibt die Autorin die Schule als „Tempel“: „Ich bin jede
       Dritte, wie alle hier. Nur für jede dritte Person wird die Tempeltür
       geöffnet, daran werden wir regelmäßig erinnert. Zugleich habe ich diese
       Gunst des Schicksals nicht verdient“; indem sie zugleich auf ihren Vater
       verweist – dessen „Versuch, Tempeljunge zu werden, war schon nach zwölf
       Monaten gescheitert“ –, macht sie die soziale Herkunft zum Thema. Als Erste
       in der Familie macht sie Abitur und studiert.
       
       Auch in „Gegenlicht“ springt Saisio zwischen zwei Zeitebenen, erzählt von
       der 14-Jährigen und der Abiturientin. Nutzt auch hier Ich-Perspektive und
       personale Erzählerin im Wechsel. Bringt den Leser*innen die heftigen
       inneren Auseinandersetzungen der Teenagerin mit Gott nahe, der in ihrem
       Elternhaus gar nicht existieren dürfte. Ebenso die aufwühlende Intensität
       der Gefühle von Verrat und Hingabe in einer Mädchenfreundschaft in Zeiten
       der Pubertät.
       
       Die 19-Jährige zieht es schließlich mit hehren Idealen und Pestalozzi im
       Kopf in ein „Waisenhaus“ in der Schweiz. Die wunderbare Selbstironie
       Saisios, mit der sie auf ihre literarischen jüngeren Ichs blickt, verbindet
       beide Bücher. Wie in einem Kinofilm gesehen, will auch die Schweiz-Reisende
       von den Kindern „angebetet werden. Ohne es sich einzugestehen, aber
       durchaus berechtigt geht sie davon aus, bei schutzbedürftigen Waisenkindern
       auf besonders selige Anbetung zu stoßen.“
       
       ## Vom Leben betrunken
       
       Das Projekt Schweiz scheitert. Aber die Literatur ruft am Ende ihres
       Aufenthalts. Und die gesellschaftlichen Umbrüche gegen Ende der 60er Jahre
       auch.
       
       Wenn es in „Gegenlicht“ heißt: „Ich muss glauben, dass mein Leben zu einer
       Geschichte wird. Und daran glaube ich. Nein, tue ich nicht“, dann sind
       beide Bücher Ausdruck des Versuchs, eine solche Geschichte zu erzählen.
       
       Aus den Erfahrungen von Verunsicherung, Schmerz, Freude, Momenten von
       Erkenntnis eine Geschichte zu rekonstruieren, die nicht wahr im strengen
       Sinne ist. Aber in der doch das nahe, zugleich brüchige Porträt Saisios
       steckt. Die formalen, stilistischen Mittel spiegeln diesen Moment der nie
       abgeschlossenen (Re-)Konstruktion: die Zersplitterung der Chronologie, die
       assoziativen thematischen Sprünge, die Wechsel in der Erzählperspektive
       lassen keine gradlinige, eindeutige Erzählung zu.
       
       Dass „Das rote Buch der Abschiede“ so wundersam „anarchisch“ geworden ist,
       wie Saisio kürzlich in einem Interview sagte, darin noch konsequenter als
       sein Vorläufer, könnte in der verhandelten Zeit begründet liegen, die auf
       persönlicher Ebene (insbesondere die Entdeckung der sexuellen Orientierung)
       wie gesellschaftlicher (aufs Engste mit ersterer verknüpft) noch mehr Räume
       für Reflexion, Zweifel, aber auch unbändige Lebenslust öffnete: „[…] ihre
       mentale Verfassung vom Leben betrunken“.
       
       23 Apr 2024
       
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       ## AUTOREN
       
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