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       # taz.de -- Porträt der Schauspielerin Lina Beckmann: Wie wahrscheinlich ist das denn?
       
       > Mit dem Solo „Laios“ ist Lina Beckmann zum Theatertreffen in Berlin
       > eingeladen. Sie kann alles spielen: das ausgesetzte Kind, den Chor und
       > den König.
       
   IMG Bild: Ein Solo ist eine abenteuerliche Reise: Lina Beckmann in „Laios“ von Karin Beier
       
       Als Fürst Myshkin sah ich sie zuerst. Mit zarten Schritten, als wäre dem
       Boden, über den er geht, nicht zu trauen, bewegte sich Lina Beckmann in
       dieser Rolle. Wie jemand, der lieber unauffällig wäre und doch von allen
       bestaunt wird, weil er als Einziger in einer Gesellschaft, die Gier für
       überlebensnotwendig hält, an das Gute im Menschen glaubt. Sie war [1][der
       „Idiot“ in Karin Henkels Inszenierung] nach Dostojewskis Roman, 2009 in
       Köln.
       
       Seit 2007 war sie, eine junge Schauspielerin, im Ensemble des von Karin
       Beier geleiteten Theaters in Köln. Dass Karin Henkel ihr diese Rolle, ihre
       erste Hauptrolle, anvertraute, sieht sie noch heute als ein großes
       Geschenk. „Das gab mir Wind unter den Flügeln, daran konnte ich wachsen“,
       sagt sie rückblickend, wenn man sie danach fragt.
       
       Dankbarkeit und ein großes Vertrauen spricht aus ihren Worten, wenn sie
       über die „beiden Karins“ redet, die [2][Regisseurin Karin Henkel] und Karin
       Beier, Regisseurin und Intendantin. In deren Ensemble hat sie zuerst das
       Publikum am Schauspielhaus Köln für Theater neu begeistert und dann, mit
       Beiers Wechsel an das Deutsche Schauspielhaus Hamburg 2013, das Hamburger
       Publikum erobert. „In den Händen beider Karins konnte ich mich befreien und
       wachsen. Angst verlieren und mutiger werden“, resümiert sie.
       
       Sie spielt Männer wie den König Richard in „Richard the Kid & the King“,
       sie spielt Frauen. Sie spielt Proletarierinnen [3][wie im „Goldenen
       Handschuh“,] sie spielt Königinnen. Die Klage, dass die klassische
       Theaterliteratur zu wenig interessante Frauenrollen biete, muss sie nicht
       teilen. Zum einen, weil sie auch in kleineren Rollen etwas findet, das sie
       für die Figur einnimmt; zum anderen aber, und das fällt mehr ins Gewicht,
       weil Henkel und Beier eben mit ihr daran gearbeitet haben,
       Geschlechtergrenzen zu verschieben und Rollenklischees zu überwinden.
       
       ## Die Versionen der Geschichte
       
       Das kann man wieder in „Laios“ erleben, inszeniert von Karin Beier in
       Hamburg, [4][eingeladen zum Theatertreffen], das am 2. Mai in Berlin
       beginnt. Der Text kommt von dem Theaterautor Roland Schimmelpfennig und ist
       [5][Teil einer Neubearbeitung der antiken Mythen um die Stadt Theben in
       fünf Folgen]. Der Geschichte von Laios, dem Vater von Ödipus, hat
       Schimmelpfennig erstmals ein eigenes Drama gewidmet. Teilweise lässt sein
       Text Figuren der Mythologie auftreten, ein Chor kommentiert, ein Chorführer
       hält ein Plädoyer für einen historischen Neuanfang mit mehr Gerechtigkeit.
       Teils aber ist der Text auch ein Nachdenken über verschiedene Versionen der
       Geschichte, verschiedene Versionen der Wahrheit.
       
       Ein Monolog ist der Text nicht per se, aber Karin Beier hat ihn mit Lina
       Beckmann als ein Solo inszeniert. Allein, ohne Kollegen auf der Bühne zu
       sein, auf die sie reagieren kann, die sie mitnehmen, ist auch für Lina
       Beckmann ein Wagnis und ein großer Kraftakt.
       
       Sie nimmt uns mit in eine Welt, die sie erst versuchsweise mit Worten
       skizziert, sich korrigiert, neu ansetzt. Sie springt in den Kopf des
       Königs, der sich zu erinnern versucht. Sie spielt den Führer durch eine
       verwirrende Familiengeschichte, in der es vor Motiven der Rache,
       ausgesetzten Kindern und düsteren Prophezeiungen nur so wimmelt. Sie spielt
       die Angst des Kindes, das, in der Wildnis ausgesetzt, nur überleben kann,
       wenn es selbst wild wird wie ein Tier.
       
       Den [6][Text von Roland Schimmelpfennig] habe sie von Anfang an geliebt,
       sagt Lina Beckmann. „Es war eine Riesenfreude und eine Lust, jeder Figur
       einen Körper und eine Stimme zu geben. Innerlich ist das für mich in
       Abschnitte eingeteilt, ich reise von einem Kapitel ins nächste und ich
       freue mich immer auf das, was als Nächstes kommt.“
       
       ## Jede Rolle auf die Probe gestellt
       
       Der Duktus des Autors, Figuren zu erfinden und dann deren
       Wahrscheinlichkeit infrage zu stellen, liegt ihr. Es geht dabei nicht nur
       um ihre Wandlungsfähigkeit, vom Auftritt als Königin Iokaste wie mit einem
       Fingerschnippen umzuswitchen auf die Motorradbraut Iokaste, die Laois,
       ihren zukünftigen Mann, in eine Dönerbude und zu Sex auf der Toilette
       abschleppt. Sondern mehr noch darum, alles, was die Fantasie sich ausmalen
       kann, und alles, was Wunschdenken ist, einer Probe auszusetzen: Wie
       wahrscheinlich ist das denn? Wie realistisch erscheint uns das heute? So
       misst Lina Beckmann mit einer bodenständigen Energie ständig die Fallhöhe
       aus zwischen den klassischen Bildern der Tragödie und der Verankerung der
       Figuren in unserer Gegenwart.
       
       Lina Beckmann ist 1981 in Hagen geboren. Vielleicht hat diese
       Ruhrgebietsnähe ihre Herangehensweise geprägt, jede Figur so zu spielen,
       dass sie ohne viele Voraussetzungen zu verstehen ist. Dafür wurde sie als
       Schauspielerin vielfach ausgezeichnet, mit dem Alfred-Kerr-Preis, dem
       Nestroy-Theaterpreis, dem Faust und anderen mehr.
       
       Mit „Laios“ kommt sie zum fünften Mal zum Theatertreffen. 2015 war sie
       ebenfalls in einer [7][Inszenierung von Karin Beier dabei, „Das Schiff der
       Träume“ nach Fellini]. Sie spielte die Servicekraft Astrid, die ihren Namen
       wie Aaarschtritt aussprach, zuerst stotternd und störrisch, schikaniert von
       der Gesellschaft der Künstler an Bord. Am Ende aber war sie es, die das
       Künstlertum parodierte und klassenbewusst und lebensklug über die Hoffnung
       spottete, dass die Kunst retten könne, wo andere Kräfte versagen. Eine
       Beckmann-Rolle vom Feinsten.
       
       ## Familiäre Bande
       
       Theater und Familie liegen für Lina Beckmann eng beieinander. Nicht nur,
       weil sie sich am Haus von Karin Beier gut aufgehoben fühlt und ihre
       Geschichte mit dem Ensemble als ein gemeinsames Wachsen und Erwachsenwerden
       beschreibt. Nicht nur, weil ihre Schwester Maja, die Brüder Nils und Till
       auch Schauspieler wurden und sie, als alle noch in Bochum lebten, zusammen
       das Kollektiv Spielkinder gegründet haben. Sondern auch, weil sie mit dem
       Schauspieler Charly Hübner verheiratet ist, oft Theater gespielt und Filme
       gemacht hat.
       
       „Wenn man mit Charly spielen darf, ist das ein Riesengeschenk. Wenn man so
       merkt, ich verstehe, was du denkst, woher deine Impulse kommen, die
       Körpersprache. Es ist ein Fest mit diesem Menschen“, gerät sie ins
       Schwärmen, befragt nach der produktiven Energie ihrer Beziehung. [8][Im
       „Polizeiruf 110“] ist sie als Ermittlerin Melly Böwe seine Nachfolgerin.
       
       Charlie Hübners erster langer Spielfilm als Regisseur war letztes Jahr
       [9][„Sophia, der Tod und ich“.] Lina Beckmann spielt den Erzengel Michaela,
       strikt und streng, wie ein Chef im Amt, ohne Sentimentalität die Boten des
       Todes beaufsichtigend. Und doch nicht die Ruhe verlierend, wenn das Chaos
       ausbricht, die Engel sich unter die Menschen mischen. Denn nichts ist ihr
       fremd, nichts erschüttert ihre Ruhe.
       
       Klar, das ist ihre Rolle. Aber man meint eben oft, bei vielen ihrer Rollen,
       sie, den Menschen, eine im Ruhrgebiet geborene Schauspielerin,
       wiederzuerkennen, die vom Leben selbst viel gelernt hat. Dabei kennen wir
       sie, den Menschen, eigentlich nicht. Es ist ihre Künstlerinnenpersona, die
       zu einem Element ihrer Rollen wird und ihnen Glaubwürdigkeit verleiht.
       
       27 Apr 2024
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
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