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       # taz.de -- Vom Gastarbeiterland zum Anwerberstaat: Kroatien macht „Rim Tim Tagi Dim“
       
       > Kroatien ist ein kleines Land mit nicht vielen Menschen. Und die wandern
       > auch noch aus. Aber nicht nur beim ESC ist dieses Jahr sehr viel drin.
       
   IMG Bild: Baby Lasagna-Fans beim Rim Tim Tagi Dim Tanz in Zadar in Kroatien
       
       Holt Kroatien dieses Jahr das Triple? Vertreter des kleinen Landes an der
       Adria könnten ESC, EM und Olympia gewinnen, also mit Singen, Fußball- und
       Wasserballspielen Europas Siegertreppchen 2024 beherrschen.
       
       Im [1][Wasserball] gehören die Kroaten traditionell zu den Favoriten. Im
       Fußball sind sie [2][immer für eine Überraschung gut,] und zum ersten Mal
       zählen sie nun auch zu den Favoriten des Europäischen Liederwettbewerbs.
       Für die Buchmacher und die ESC-Fanorganisation ist der kroatische Künstler
       mit dem trotteligen Namen Baby Lasagna [3][sogar absoluter Topfavorit].
       
       Dabei ist der Hit [4][„Rim Tim Tagi Dim“] zwar eingängig, musikalisch und
       performativ, aber letztlich nur die professionellere und glattere Version
       des letztjährigen Gewinners der Herzen, des Finnen [5][Käärijä mit seinem
       „Cha Cha Cha]“.
       
       Aus unerfindlichen Gründen gewann aber eine Schwedin und nicht der Finne,
       und dann gab es Bestechungsgerüchte, schlechte Stimmung, dies, das. In
       diesem Jahr hat es den Anschein, als wolle man nachholen, was man letztes
       Jahr verpasst hat, und pusht den vermeintlich verrücktesten Titel, so gut
       es geht, nach vorne. Genauso gehaltsleer wie „Cha Cha Cha“ ist nämlich „Rim
       Tim Tagi Dim“. Es heißt nichts, eignet sich lediglich dazu, von allen laut
       und fehlerfrei mitgesungen werden zu können.
       
       ## Cleverer Stadtjunge werden
       
       Der Rest des Lieds kann jeder verstehen, denn der 1995 unter dem
       bürgerlichen Namen Marko Purišić geborene Kroate singt auf Englisch. Der
       Text handelt von einem jungen Mann, der seine Kuh verkauft und seine Heimat
       verlässt, in der Hoffnung, einer dieser gut aussehenden und cleveren
       Stadtjungs zu werden. Er hat Angst vor seiner eigenen Entscheidung und
       davor, seine Heimat zu vermissen.
       
       Kroatien war schon immer ein Land, aus dem man wegging. Ganze Regionen wie
       Dalmatien waren im Verlauf des 19. Jahrhunderts in Richtung Amerika und
       Ozeanien verlassen worden. Nach 1945 ging dann die nächste Generation in
       Richtung Europa. Bis heute stehen manche Gegenden, vor allem im Hinterland
       und auf den dalmatinischen Inseln, einfach leer.
       
       Die Patrioten des kleinen Staates hatten sich bislang immer eingeredet, die
       Landsleute seien vor den Besatzern geflohen, vor Osmanen, Venezianern,
       Österreichern und Kommunisten. Nun leben sie schon über 30 Jahre zum ersten
       Mal seit dem Faschimus in einem unabhängigen Staat, und d[6][as größte
       Problem neben der Korruption ist die Auswanderung]. Seit 1991 ist die
       Bevölkerung Kroatiens um 20 Prozent zurückgegangen, allein seit dem
       EU-Beitritt 2017 haben eine halbe Million Kroatien dem eigenen Land
       Lebewohl gesagt. Es ist nicht so, dass es in Kroatien keine Arbeit gäbe.
       Allein die Bezahlung ist draußen einfach wesentlich höher.
       
       Für Nationalisten sind diese Menschen Verräter, die katholische Kirche und
       Konservative versuchen, ihnen mit Teufelsdrohungen und Flüchen ein
       schlechtes Gewissen einzureden und sie für den Untergang des Landes
       verantwortlich zu machen.
       
       ## Nicht wirklich cool
       
       Seit einigen Jahren aber ist etwas passiert, was es noch nie gab: Kroatien
       ist vom Auswanderungs- zum Einwanderungsland geworden. Neben Touristen und
       ein paar nordeuropäischen Rentnern kommen vor allem Menschen aus
       Südostasien. Zum Arbeiten.
       
       Mit einem Arbeitsvisum für ein Jahr sieht man sie inzwischen überall, im
       Tourismus, in der Pflege, der Müllabfuhr, der Landwirtschaft oder der
       Gastronomie. Das Land der Gastarbeiter ist zu einem Land geworden, das
       selber Gastarbeiter anwirbt.
       
       Wirklich cool also ist es nicht, dass Baby Lasagna larmoyant seinen
       Abschied besingt. Wirklich cool wäre, Baby Lasagna würde seinen Landsleuten
       eine Botschaft hinterlassen: Behandelt den Jungen, der an meiner Stelle aus
       Nepal oder Bangladesch nach Kroatien zum Arbeiten kommt, als wäre er mein
       Bruder.
       
       5 May 2024
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Exjugos-bei-Olympia-in-Rio/!5331107
   DIR [2] /Kroatien-vor-dem-WM-Finale/!5517605
   DIR [3] https://eurovisionworld.com/esc/croatia-wins-the-ogae-poll-for-eurovision-2024-see-how-the-fans-voted
   DIR [4] https://www.youtube.com/watch?v=kmg8EAD-Kjw
   DIR [5] /Eurovision-Song-Contest/!5931725
   DIR [6] https://croatia.eu/index.php/de/home-de/geografie-und-bevoelkerung/demografischer-wandel
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Doris Akrap
       
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