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       # taz.de -- Autor Evan Tepest über queere Signale: „Wonach wir greifen, entzieht sich“
       
       > Im Debütroman von Evan Tepest hadert eine queere Autor:in mit ihrer
       > Mutter. Mit essayistischen Passagen wird der Raum der Reflektion
       > ausgeweitet.
       
   IMG Bild: Evan Tepests Roman setzt sich mit dem Genre der Mütterliteratur auseinander
       
       taz: Evan Tepest, Ihr Debütroman über eine queere Autor:in in der Krise
       trägt den vielsagenden Titel „Schreib den Namen deiner Mutter“. Was macht
       die Figur der Mutter literarisch so interessant? 
       
       Evan Tepest: Im Grunde haben wir alle eine traumatische Beziehung zur
       Mutter. Traumatisch meint hier nicht zwingend die Erfahrung von Gewalt oder
       Vernachlässigung. Schon die Auseinandersetzung mit der Frage, was es
       bedeutet, emotional abhängig zu sein und sich als Subjekt in dieser
       Beziehung zu behaupten, kann schwierig sein. Weil alle diese Erfahrung
       machen, arbeiten sich schreibende Menschen mehr oder weniger explizit an
       dieser Beziehung ab.
       
       Sie machen das sehr explizit. Ihre Hauptfigur Alex besucht wegen einer
       Beerdigung ihre Mutter, zu der sie ein schwieriges Verhältnis hat. 
       
       Der Roman setzt sich auf eine humorvolle Art und Weise mit dem Genre der
       Mütterliteratur mit all ihren gesellschaftlichen, kulturellen und
       literarischen Referenzen auseinander. Tatsächlich löst sich im Roman nicht
       ganz auf, warum das Verhältnis zwischen Alex und der Mutter so schwierig
       ist. Alex kommt leicht depressiv in der alten Heimat an. Ihre ganze
       Wahrnehmung ist gedämpft, als stünde sie in einem Nebel. Wir bewegen uns
       mit Alex durch diesen Nebel.
       
       Der sich nie lichtet. 
       
       Ja, nicht einmal Alex weiß genau, was da zwischen ihr und der Mutter
       vorgefallen ist. Es gibt nur Andeutungen. Ich wollte vermeiden, dass das
       unmittelbar erzählt wird, denn ich glaube nicht, dass Trauma geradlinig
       erlebt und erinnert wird. Schon gar nicht, wenn Jahre oder Jahrzehnte
       zwischen dem Trauma und der Erinnerung liegen.
       
       Der Roman greift in essayistischen Passagen auf, was zwischen Alex und der
       Mutter ungesagt bleibt. Es sind Texte, die Alex heimlich über die Mutter
       schreibt. Ist das nicht auch eine Form von Gewalt? 
       
       Ich finde es nicht grundsätzlich gewaltvoll, aber es ist sicher ethisch
       problematisch. Ich habe viel darüber nachgedacht, was es heißt, über
       jemanden zu schreiben. Es liegt etwas Unentschuldbares darin, über andere
       zu schreiben. Es bleibt immer eine Ambivalenz zurück, mit der
       Autor:innen leben und sich auseinandersetzen müssen. Das ist auch bei
       Alex der Fall.
       
       „Alle Queers haben Mommy oder Daddy Issues“, heißt es im Roman. Ist die
       Beziehung zwischen Eltern und queeren Kindern besonders bedeutsam?
       
       Ja und nein. Kinder sind mit Erwachsenen konfrontiert, die ihre ganzen
       unbewussten Anteile mit sich herumtragen und in die Interaktion geben. Bei
       allen wird eine Übersetzung angestoßen, die das ganze Leben lang andauert.
       Wir sind also auch schwul und trans und queer, weil es eine andauernde
       Erfahrung mit den wichtigsten Bezugspersonen gibt. Zugleich gehen straighte
       und queere Menschen dabei nicht unterschiedlich vor. Aber das, was bei
       dieser Übersetzung herauskommt, wird bei nicht-queeren Menschen immer noch
       als Norm betrachtet, während man uns ständig die Frage stellt, was denn da
       in der Kindheit passiert ist. Würde das Außen nicht ständig „Warum bist du
       so?“ fragen, würde sich die Frage der Identität bei queeren Menschen gar
       nicht so aufdrängen. Wir müssen einfach anerkennen, dass das Werden im
       Leben eine menschliche Grunderfahrung ist, die uns alle eint.
       
       Die Beziehung zwischen Alex und der Mutter ist von raumgreifender
       Sprachlosigkeit. Wie geht man als Autor:in vor, wenn die eigenen Figuren
       nicht sprechen wollen? 
       
       Es brauchte eine sehr dichte Szenerie, in der die kleinen Gesten das
       Sprechen übernehmen und alles mit Bedeutung aufgeladen ist. Ich habe viel
       an den feinen Objektbeziehungen und den kargen Dialogen gearbeitet, damit
       sich die Spannung durch das Ungesagte hindurch transportieren lässt. Das
       gab mir auch die Chance, dieses kleinbürgerliche „Reden, ohne etwas zu
       sagen“ abzubilden. Die Figuren verweigern sich ja nicht dem Sprechen. Aber
       das, worum es Alex geht, wird eben nicht besprochen.
       
       Es gibt aber auch sprechende Figuren. Ein alter Lehrer von Alex oder die
       junge Frau, auf die sich Alex einlässt. 
       
       Auch mit Wolfgang und Lena gibt es schwierige Momente, aber eben auch eine
       spürbare Emotionalität. Die Verbindung zu ihnen verlangt eine emotionale
       Arbeit, eine bewusste Auseinandersetzung, die Alex und der Mutter fehlt.
       Emotional kommt sie erst mit Wolfgang und Lena voran, die in ihrem Leben
       ein Zuhause gefunden haben, das Alex nicht hat.
       
       Um die Sehnsucht, irgendwo dazuzugehören, ging es schon in Ihrem
       vorangegangenen Buch „Power Bottom“. In welchem Verhältnis stehen die
       Essays zum Roman? 
       
       Die Bücher sind kurz hintereinander entstanden, es gibt daher Themen und
       Figuren, die sich überschneiden. Das trifft aber auf all meine Texte zu.
       Ich schreibe autofiktionale Essays, journalistische Kolumnen, Prosa und
       Lyrik. Da gibt es wiederkehrende Figuren, parallele Gedankengänge und eine
       konstante Auseinandersetzung mit bestimmten Themen. So erschaffe ich mir
       schreibend einen Raum, indem es Bezüge und Querverweise, aber auch doppelte
       Böden gibt.
       
       Unter denen dann Sätze wie „Sie fürchtete, ein Abbild ihrer Mutter zu sein,
       wie früher, als sie deren Ungeduld mit dem Stiefbruder in sich gespiegelt
       sah“ liegen, die sich wie ein aus dem Roman gefallenes Puzzleteil lesen,
       tatsächlich aber aus „Power Bottom“ stammen. 
       
       Ja, der Satz ist aus dem Essay „Auslaufen“, in dem es auch um Gewalt geht.
       Darin werden Dinge angedeutet, die der Roman stärker ausführt. „Schreib den
       Namen deiner Mutter“ greift das düstere Zentrum von „Power Bottom“ auf und
       schafft selbst wieder ein Enigma. Wie bei einer Matroschka hinterlässt auch
       der Roman eine Leerstelle. Weil sich immer alles entzieht, was wir zu
       greifen versuchen.
       
       In den Essays ging es auch um die Frage, wie man überhaupt queere Literatur
       schreibt. 
       
       Mit dem Roman unternehme ich einen neuen Versuch, das zu erkunden. Meine
       Hauptfigur durchläuft im Roman einen Transitionsprozess. Mir war wichtig,
       dass das nicht die zentrale Krise ist, deshalb nimmt das Thema
       verhältnismäßig wenig Raum im Text ein. Aber es gibt einen Moment, in dem
       Alex zu einer anderen Figur sagt, „Ich glaube, ich bin keine Frau.“ Das hat
       dann Folgen für die weitere Erzählung.
       
       Tatsächlich verwendet die schwer zu greifende Erzählinstanz für Alex
       fortan geschlechtsneutrale Pronomen, was ein deutliches ästhetisches Signal
       ist. Ist es mehr als das? 
       
       Ja, es ist auch ein menschliches Signal. Ich finde es toll, dass Alex die
       Transition ausspricht und diese dann von einer anderen Autorität
       berücksichtigt wird. Dieses Zeichen der Akzeptanz hat eine Schönheit und
       Stärke. Ich habe bei meiner eigenen Transition die Erfahrung gemacht, dass
       es die Bestätigung von außen braucht.
       
       Haben Sie deshalb auch Ihren Namen von Eva zu Evan gewechselt? 
       
       Das war tatsächlich auch einem äußeren Zwang geschuldet. Ich weiß, dass es
       Redaktionen gibt, denen der Umgang mit Transidentität und
       geschlechtsneutralen Pronomen schwer fällt. Also habe ich das so
       entschieden und fühle mich wohl damit.
       
       Ist der Roman auf einer übergeordneten Ebene der Versuch, nicht-binäres
       Leben in der Literatur zu verankern? 
       
       Ich hatte keinen aktivistischen Antrieb. Ich finde es wichtig und gut, dass
       queere Themen in der Literatur vorkommen. Aber queere Autor:innen oder
       Künstler:innen müssen über alles Mögliche schreiben und in ihrem
       jeweiligen ästhetischen Projekt ernst genommen werden können.
       
       Wie hat sich das literarische vom essayistischen Schreiben unterschieden? 
       
       Der Umgang mit dem Affekt ist beim literarischen Schreiben ein anderer.
       Wenn ich an einem Essay arbeite, dann schreibe ich zwar auch über Gefühle,
       nur kann ich mich immer auf die Ebene der Reflexion zurückziehen. Wenn ich
       Prosa schreibe, muss ich mich stärker auf diesen emotionalen Bereich
       einlassen. Ich stelle beim literarischen Schreiben mehr von mir zur
       Verfügung, weshalb sich die autobiografische Frage im Roman stärker
       aufdrängt.
       
       Ist die nicht-lineare Erzählweise dann wieder ein Mittel, um das
       Autobiografische aufzubrechen? 
       
       Nein, für mich repräsentiert das nicht-lineare Erzählen das Leben als
       solches. Unsere Existenz ist viel brüchiger und wechselhafter, als wir es
       uns oft erzählen. Die Auseinandersetzung ist nie abgeschlossen, sondern
       geht immer weiter.
       
       24 Apr 2024
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Thomas Hummitzsch
       
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