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       # taz.de -- Sozialarbeiter über Problemfamilien: „Es trifft auch reiche Eltern“
       
       > Eltern sein ist nicht einfach, und Großwerden ist kein Kinderspiel. Paul
       > Linde arbeitet seit über zehn Jahren als Familien- und Einzelfallhelfer.
       
   IMG Bild: Beim Spaziergang durch den Kiez offenbaren sich viele Probleme: Familienhelfer Paul Linde bei der Arbeit
       
       taz: Herr Linde, was genau ist Ihre Aufgabe? 
       
       Paul Linde: Als Familienhelfer unterstütze ich vor allem Eltern bei
       Erziehungsfragen und der Organisation des Familienalltags. Das können
       praktische Dinge sein, indem ich zum Beispiel helfe, ein Kinderbett zu
       organisieren. Bei manchen Familien sind auch Sprachbarrieren ein Problem
       oder dass sie neu in der Stadt sind und sich nicht auskennen. Denen zeige
       ich, wo sie welche Hilfe bekommen können.
       
       Wie läuft das ab? 
       
       Meist besuche ich die Familien zu Hause, begleite sie aber auch zum
       Jobcenter, zu Elterngesprächen in der Schule oder zum Arzt. Das Ziel ist
       dabei immer, dass die Familie ihren eigenen Weg aus der Krise findet. Was
       muss getan werden, damit der Alltag besser läuft, es weniger Stress oder
       Streit gibt? Oft ist das am Anfang noch gar nicht so klar. Dann geht es
       erst mal darum, zusammen herauszufinden, wo es genau hakt.
       
       Und worin besteht die Einzelfallhilfe? 
       
       Bei der Einzelfallhilfe steht das Kind im Fokus. Natürlich spreche ich auch
       mit den Eltern, die Hauptarbeit ist aber, dass ich ein oder auch mehrmals
       die Woche Zeit mit dem jungen Menschen verbringe. Das kann zu Hause sein,
       meistens gehe ich mit den Kindern oder Jugendlichen aber auch raus, erkunde
       mit ihnen die Stadt und die Freizeitangebote, die es im Kiez gibt. Manchmal
       spielen wir auch nur oder kochen was. Dabei reden wir viel miteinander,
       auch über Dinge, über die sie mit den Eltern vielleicht nicht so gut reden
       können. Einzelfallhelfer beteiligen sich auch in der Erziehungsarbeit,
       indem sie zum Beispiel mit den jungen Menschen über angemessenen
       Medienkonsum sprechen – Mediensucht ist ein großes Problem. Aber auch
       Quatschmachen gehört zu meiner Arbeit. Denn manchmal geht es einfach nur
       darum, einem jungen Menschen, der in einer Krise oder anderen schwierigen
       Situation steckt, eine Auszeit zu geben.
       
       Wer beauftragt Sie und für wie lange? 
       
       Meistens dauert ein Einsatz ein halbes oder ein Jahr, manchmal werden auch
       zwei Jahre daraus, oder ich unterstütze eine Familie nach einer Weile noch
       einmal. Ich arbeite für einen freien Träger. Der wird wiederum vom
       Jugendamt beauftragt.
       
       Das heißt, Sie kommen nicht auf den Wunsch der Eltern? 
       
       Doch natürlich, oft sind es die Eltern, die sich mit der Bitte um
       Unterstützung an [1][das Jugendamt] wenden. Häufig machen aber auch
       Außenstehende wie zum Lehrer:innen oder Erzieher:innen das Jugendamt
       auf ein Kind oder eine Familie aufmerksam. Wenn das Jugendamt eine
       Familienhilfe für nützlich hält, kommen wir ins Spiel. In Gesprächen klären
       wir mit der Familie dann erst mal, was genau das Problem ist. Manchmal
       müssen wir auch nachsehen, ob genug Essen im Kühlschrank und die Wohnung
       kindgerecht eingerichtet ist.
       
       Ich kann mir vorstellen, dass Sie in solchen Fällen nicht besonders
       willkommen sind … 
       
       Ja, das stimmt. Ich versuche den Eltern dann erst mal klarzumachen, dass
       ich sie nur eine bestimmte Zeit begleite und sie mich danach wieder los
       sind (lacht). Viele Eltern wissen auch gar nicht, wie Familienhilfe
       funktioniert. Oder sie haben sich nicht getraut zuzugeben, dass sie Hilfe
       brauchen. Da ist viel Scham im Spiel. Ich sage Eltern oft, dass sie einen
       der wichtigsten, aber auch härtesten Jobs haben und sie alle Unterstützung
       verdienen. Natürlich ist es nicht ohne, fremde Leute in die Wohnung zu
       lassen, wir müssen uns auch erst mal alle kennenlernen. Meist finden wir
       schnell zusammen. Wenn nicht, können die Familien auch eine:n andere:n
       Familienhelfer:in bekommen.
       
       Wo werden Sie eingesetzt und welche sozialen Situationen begegnen Ihnen? 
       
       Mein Träger betreut Familien und Kinder im Süden von Berlin. Die familiären
       Situationen sind sehr unterschiedlich. Es gibt da eine Straße, in der ich
       oft eingesetzt werde, da stehen auf der einen Seite Sozialbauten und auf
       der anderen Einfamilienhäuser. Ich bin auf beiden Seiten unterwegs.
       
       Was dem Vorurteil widerspricht, dass vor allem einkommensschwache Familien
       Hilfe benötigen. 
       
       Doch, Armut spielt eine große Rolle. Es gibt Wohnblöcke in sozialen
       Brennpunkten, in denen so gut wie jede Familie mal Kontakt zum Jugendamt
       hat. Dass die Eltern so überfordert sind, liegt oft daran, dass sie nicht
       wissen, wie sie alle satt kriegen sollen. Mit Armut sind außerdem viele
       andere Probleme verknüpft. Zwar gibt es körperliche Krankheiten, psychische
       und Suchterkrankungen in allen Familien. Arme Menschen sind davon aber
       häufiger betroffen, und Armut macht es auch extrem viel schwerer, damit
       klarzukommen. Zudem gibt es eine Vielzahl praktischer Probleme. Arme
       Familien leben meist auf viel zu engem Raum. Kinder und Eltern haben oft
       kein eigenes Schlafzimmer und damit keine Rückzugsmöglichkeit. Oder es gibt
       nur Mamas Handy, und alle wollen dran. Viele Familien finden kreative Wege,
       damit zu leben. Aber natürlich führt das auch zu Ärger und Stress. Und
       manchmal dazu, dass Eltern Dinge tun, die sie eigentlich nicht wollen …
       
       Sie spielen auf häusliche Gewalt an. 
       
       Ja. Das ist ein Thema, das mir überall begegnet. Sehr häufig ist Gewalt ein
       Zeichen von Überforderung. Wenn Menschen sich ohnmächtig fühlen, greifen
       sie oft nach dem ersten ihnen bekannten Mittel, das ihnen verspricht,
       wieder ein Gefühl von Macht zu erlangen. Und das bedeutet bei vielen
       Menschen leider häufig, dass sie herumschreien oder die Faust schwingen.
       Oft haben sie es selbst früher so erlebt und kennen keine gewaltfreien
       Mittel, um zum Beispiel Grenzen zu setzen. Manche Eltern reagieren auf
       Überforderung aber auch mit Rückzug, sie verschwinden aus der Wohnung,
       hinter ihrem Handy oder Bierglas. Dann geht der Kontakt zu den Kindern
       verloren. Das geht bis hin zu schwerer Vernachlässigung und hat natürlich
       schwere Folgen für die Kinder. Die manchmal auch selbst die Flucht
       ergreifen. In der Coronazeit habe ich immer wieder große Gruppen von
       Jugendlichen beobachtet, die auf den Straßen abhingen. Zu Hause haben sie
       es nicht ausgehalten. Und auch Computerspiele bieten eine Welt, in der man
       sich als Kind oder Jugendlicher stark, kompetent und weniger hilflos fühlen
       kann.
       
       An vielen Ursachen für die Probleme von Familien und Kindern, wie etwa dem
       mangelnden Angebot an erschwinglichen Wohnungen, Freizeit- und
       Betreuungseinrichtungen, können Sie als pädagogischer Helfer gar nichts
       ändern. Fühlen Sie sich da nicht ohnmächtig? 
       
       Ja. Allerdings denke ich, dass vieles erträglicher wäre, wenn die Familien
       besser vernetzt wären. Das Sprichwort: „Es braucht ein ganzes Dorf, um ein
       Kind großzuziehen“, stimmt meiner Erfahrung nach. Heute sind Eltern aber
       meistens völlig auf sich allein gestellt. Da ist keiner, der das Kind
       abholt, wenn man noch auf der Arbeit ist, oder aufpasst, wenn die Eltern
       mal Zeit für sich oder füreinander brauchen. Dieses Problem der mangelnden
       Unterstützung von außen trifft auch reichere Eltern. Zwar haben sie
       vielleicht Geld, um eine Haushaltshilfe oder einen Babysitter zu bezahlen.
       Aber wenn es darum geht, mit einem wütenden Kind zurechtzukommen, sind auch
       sie völlig allein damit. Hier würde es oft schon ausreichen, wenn sie sich
       mit anderen Eltern austauschen und einen guten Rat erhalten könnten.
       
       Wenn Familien in gemeinschaftlichen Strukturen besser eingebunden wären,
       bräuchte es also vielleicht gar keine Familienhelfer mehr? 
       
       Zumindest nicht in diesem Ausmaß. Damit sich Familien und Eltern vernetzen
       können, [2][braucht es aber natürlich geeignete Orte der Begegnung,
       Familienzentren etwa, aber auch Sport- und andere Freizeiteinrichtungen.]
       Diese Angebote müssen niedrigschwellig, möglichst kostenlos und ausreichend
       vorhanden sein. Das ist in Berlin aber nicht der Fall. Im Gegenteil, gerade
       in diesen Bereichen wird in dieser Stadt besonders heftig gespart.
       
       Gespart wird auch an der Jugendhilfe. Das prangert die „AG Weiße Fahnen“
       mit ihren Protestaktionen regelmäßig an: Sämtliche Akteure der Jugendhilfe
       können wegen der Sparmaßnahmen ihrer Arbeit nicht richtig nachgehen. 
       
       Ja, es ist eine Katastrophe. [3][Alle Stellen, mit denen ich tagtäglich zu
       tun habe, sind völlig unterbesetzt]: die Jugendämter, die Sozialarbeit in
       den Schulen, aber auch Ärzt:innen und Therapeut:innen gibt es viel zu
       wenig. Alle sind überarbeitet, viele frustriert. In den Jugendämtern werden
       aus der Not heraus Neu- und Quereinsteiger:innen oft nicht ausreichend
       eingearbeitet und mit viel zu vielen Fällen betraut. In vielen Familien
       werde ich erst eingesetzt, wenn die Situation schon eskaliert ist. Oft lag
       die Akte schon Monate unbearbeitet auf dem Tisch. Kinderschutz kann so
       nicht garantiert werden. Dabei ist das gesetzliche Pflicht.
       
       Berlin müsste also mehr Geld in die Hand nehmen, um Fachkräfte auszubilden
       und einzusetzen? 
       
       Das ist dringend nötig, ja. Mindestens so sehr braucht es jedoch eine
       Gesellschaft, in der sich die Leute gegenseitig unterstützen und in der
       ohne Scham über familiäre Probleme gesprochen werden kann. Viele Eltern
       geraten an ihre Belastungsgrenze, weil ihnen vermittelt wird, dass sie das
       alles allein und perfekt hinkriegen müssen. Wenn ihnen das nicht gelingt,
       fühlen sie sich schuldig und schämen sich. Dabei ist das unmöglich. Ein
       Kind großzuziehen schafft man nicht allein.
       
       27 Jun 2024
       
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