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       # taz.de -- SPD-Ostpolitik von Brandt bis heute: Was würde Willy tun?
       
       > Vor 50 Jahren, am 6. Mai 1974, endete Willy Brandts Kanzlerschaft. Eine
       > Konferenz verhandelt, ob die SPD heute von der Ostpolitik etwas lernen
       > kann.
       
   IMG Bild: Am 14.12.1972 legt der alte und neue Kanzler Willy Brandt (l) im Bonner Bundestag seinen Amtseid als Bundeskanzler ab
       
       Berlin taz | Im Mai 1974 trat Willy Brandt zurück, Helmut Schmidt wurde
       Kanzler. Der Reformschwung der Brandt-Regierung war verbraucht. Der
       Visionär und Erfinder der Entspannungspolitik ging, der Pragmatiker kam. Am
       Donnerstag und Freitag nun verhandelte [1][die Konferenz „Kanzlerwechsel
       1974“, veranstaltet von der Willy-Brandt- und der Helmut-Schmidt-Stiftung,]
       die Frage, ob die SPD 50 Jahre später von dieser Zeit etwas lernen kann.
       Muss sie etwas lernen? Oder ist das die falsche Frage?
       
       Bernd Rother, Experte für jüngere SPD-Geschichte und lange Mitarbeiter der
       Willy-Brandt-Stiftung, plädierte für gelassene Historisierung: Die
       Ostpolitik war kein Solo von Brandt. Sie passte in die Zeit. 1969 waren die
       USA, verstrickt im Vietnamkrieg, offen für Entspannung mit Moskau. Die
       Sowjetunion sah sich von China bedroht und war deshalb ebenfalls offen für
       Entspannung mit dem Westen.
       
       Brandt nutzte diese Chance, war aber facettenreicher als sein Image des
       Friedenskanzlers. 1962 hatte er in Harvard Grundzüge der neue Ostpolitik
       skizziert, die aber ein rabiates „Ja“ zur atomaren Abschreckung einschloss.
       Der Westen brauche „die innere Bereitschaft, auch das letzte Risiko
       einzugehen“ – den realen Einsatz von Atomwaffen. [2][1971 klang das bei der
       Verleihung des Friedensnobelpreises an Brandt ganz anders.] „Krieg ist
       nicht mehr die ultima ratio, sondern die ultima irratio.“
       
       Heute berufe sich, so Rother, Oskar Lafontaine auf Brandt, und zwar bei
       seinen Aufrufe an die Ukraine, faktisch zu kapitulieren. Ebenso wie
       [3][Boris Pistorius, der Deutschland „kriegstüchtig“ machen will]. Fakt
       ist: Die Entspannungspolitik war die andere Seite einer hochgerüsteten
       Bundeswehr, für die in den 70er Jahren doppelt so viel Geld ausgegeben
       wurde wie heute.
       
       ## Blinde Flecken der Ostpolitik
       
       Bemerkenswert ist Rothers Hinweis, dass Brandt (geprägt durch die Erfahrung
       im norwegischen Exil) immer die Empfindsamkeit kleinerer Länder im Blick
       hatte. Die Verständigung mit Moskau kombinierte er mit Rückkopplungen mit
       Polen, wohl wissend, dass ein rein deutsch-sowjetischer Deal ungute
       Erinnerungen an den Hitler-Stalin-Pakt wecken konnte. Der mitunter erhobene
       Vorwurf, die SPD-Ostpolitik habe mit starrem Blick auf Russland die
       mittelosteuropäischen Staaten ignoriert, trifft zumindest für die 70er
       Jahre nicht zu.
       
       Die neue Ostpolitik, von Helmut Schmidt und Helmut Kohl weitergeführt,
       hatte in den 80er Jahren aber blinde Flecken. Vor allem Egon Bahr habe eine
       „etatistische Verengung“ (Rother) befördert, nur auf Regierungskontakte
       gesetzt und die Opposition wie etwa Solidarność in Polen unterschätzt.
       
       Die Politikwissenschaftlerin Jana Puglierin warf eine rhetorische
       Stinkbombe in die Brandt-Feierlichkeiten und rückte die Ostpolitik in die
       Nähe von (späterem) Appeasement. Aus „Wandel durch Annäherung“ sei
       Nordstream Zwei geworden – jene Ostsee-Pipeline, die Gas von Russland nach
       Deutschland transportieren sollte, doch wegen Russlands Angriffskrieg in
       der Ukraine letztlich nie in Betrieb genommen wurde.
       
       Die Idee, mit Autokratien Handel zu treiben, sei als friedenssicherndes
       Konzept gescheitert, so Puglierin. Demokratien würden sich damit vielmehr
       erpressbar machen. „Streiten sie mit mir“ rief Pulglierin den überwiegend
       SPD-nahen und überwiegend männlichen Historikern zu.
       
       ## Ein „abgeschlossenes Kapitel“
       
       Doch diese Bombe ging nicht hoch. Die Entspannungspolitik nassforsch zur
       Vorstufe der (nicht nur in der SPD beheimateten) Fehleinschätzung von
       Putins Kriegslüsternheit zu degradieren – diese plane Rückprojektion wollte
       niemand ernsthaft debattieren.
       
       Rother verband, in Abgrenzung gegen solche ad hoc Aktualisierungen, eine
       entschlossene Historisierung mit einem abwägend, selbstreflexiven
       Rückblick. Auch Handelsbeziehungen mit dem Realsozialismus und Kredite
       hätten subversiv gewirkt und den Ostblock „in einer Schuldenfalle“
       gefangen.
       
       [4][Letztlich fußte der Erfolg des Konzepts „Wandel durch Annäherung“ auf
       Softpower] und der selbstbewussten Überzeugung, dass der Westen mit Markt
       und Demokratie attraktiver war als der autoritäre, graue Realsozialismus.
       Die Ostpolitik sei, so Rothers Resümee, „ein erfolgreiches, aber
       abgeschlossenes Kapitel“. Abgeschlossen, weil von der selbstverständlichen
       Attraktion der westlichen Demokratien 2024 nicht viel übrig geblieben ist.
       
       ## Wahlschlappen im Schatten Brandts
       
       Was würde Brandt zur Ukraine sagen? Er würde an der Seite der Ukraine
       stehen, spekulierte Rother, weil er das Selbstbestimmungsrecht der Völker
       „für essentiell“ gehalten habe.
       
       Zu fragen, was Brandt und Schmidt, die überlebensgroß erscheinenden Idole,
       heute tun würden, ist für die SPD mindestens zwiespältig, historische
       Distanz die klügere Perspektive. Der Historiker Dietmar Süß erkannte ein
       regressives Moment in der Brandt-Verehrung jener Generation, deren „eigene
       biographische Aufstiegsgeschichte fest mit dem Glanz des ersten
       SPD-Kanzlers und der Idee eines anderen Deutschlands“ verbunden war.
       
       Dass die SPD-Führung in ihrer Parteizentrale ihre oft miesen Wahlergebnisse
       „im Schatten einer titanischen Willy-Brandt-Skulptur“ (Süß) kommentiert,
       ist eine Metapher. Es gibt nicht nur die Defekte der
       Geschichtsvergessenheit und des Mangels an Traditionsbewusstsein, sondern
       auch eine abgründige Fixierung auf eine heldenhafte Geschichte, an der
       gemessen die Gegenwart immer trist und mangelhaft scheint. Die Schwerkraft
       der Geschichte kann etwas Erdrückendes haben.
       
       26 Apr 2024
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.youtube.com/watch?app=desktop&v=pV3Gay1GRkk
   DIR [2] https://www.sueddeutsche.de/kultur/willy-brandt-friedensnobelpreis-jubilaeum-50-jahre-1.5485125
   DIR [3] /Podcast-Bundestalk/!5973153
   DIR [4] https://de.wikipedia.org/wiki/Wandel_durch_Ann%C3%A4herung
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Stefan Reinecke
       
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